Der Meister der Improvisation


Eigentlich arbeitet Jamie Lidell bereits fieberhaft an seiner neuen Platte. Trotzdem nahm er sich die Zeit, in einer Kirche in der kleinen Stadt Krems an der Donau einen Workshop für Musiker zu leiten. "Ich war wochenlang supernervös - ich hab' ja keine Erfahrung als Lehrer", gesteht er.

Jamie Lidell quälen Selbstzweifel, denn er hat sich nicht vorbereitet. „Vielleicht hätte ich mir mehr Gedanken machen sollen „, murmelt er und kratzt sich am Kinn. Er sitzt an einem Klavier auf der Altarplattform einer gewaltigen ehemaligen Minoritenkirche in der österreichischen Donaustadt Krems und betrachtet unsicher das kreative Chaos, das sich vor, hinter und neben ihm abspielt: Zwei Sängerinnen, ein Sänger, ein Technoproduzent und eine Sound- und Geräuschkünstlerin sind über Sampler, Keyboards, Mischpulte und Laptops gebeugt. Hoch konzentriert arbeiten alle für sich an Musikstücken, die – so sieht es das Programm dieses Workshops vor – in nur knapp drei Tagen fertig gestellt und vor Publikum aufgeführt werden sollen.

„Man hat mich gefragt, und ich hab einfach zugesagt, aber die Rahmenbedingungen haben sich dann nach und nach geändert“, sagt Jamie und dreht sich eine Zigarette. „Dass es nun eine Performance am Ende geben soll, ändert alles. Das erhöht den Druck – auf mich und auf alle Teilnehmer. Plötzlich wird das eine große Sache.“ Die Veranstaltung, die in der niedlichen Altstadt im Rahmen des Donaufestivals stattfindet, ist der erste richtige Musiker-Workshop, den Jamie Lideil leitet. Der britische Künstler, der seit Veröffentlichung seines Albums MULTIPLY (2005) zu den progressivsten modernen Soul- und Electronica-Musikern unserer Zeit gezählt wird, ist eigentlich ein Meister der Improvisation: Große Teile seiner fesselnden Liveshows gestaltet er völlig frei. Zur Halbzeit seines Workshops allerdings hat er, was die lose Struktur des gemeinsamen Arbeitens angeht, kalte Füße bekommen. „Es ist nicht so, dass ich mir gar keine Gedanken gemacht habe“, sagt er, während er beobachtet, wie eine Teilnehmerin immer weitere Gesangsspuren zu einem bereits vielstimmigen Loop ihrer eigenen Stimme aufnimmt. „Ich war wochenlang supernervös. Ich hab versucht, neue elektronische Instrumente zu erfinden, mit denen wir arbeiten könnten. Ich hab unzählige Ideen notiert und alle wieder durchgestrichen. Ich hab mich völlig verrückt gemacht.“

Immer wieder schließt Jamie die Augen und hört einfach nur zu. Bildet sich eine kleine Falte auf seiner Stirn, steht er einige Augenblicke später auf und geht zu einem der Teilnehmer. „Das ist gut – aber schalt mal einen Kompressor auf den Bass“, sagt er dann zum Beispiel. „Oh nein, das geht nicht. Lass den Bass mal ganz weg! Ah! Sieh mal an.“ Nach über zwölf Stunden Arbeit bittet er die Sängerinnen und den Sänger – Eva Klampfer, Violetta Parisini und Oncel Seegin -, die Rohfassungen ihrer Nummern vorzutragen, lässt sich von der Sound-Fricklerin Elisabeth Meilinger erste Geräuschcollagen vorspielen und lauscht dann aufmerksam dem kurzen, heftigen Techno-Inferno, das David Durstberger aus seinen kompliziert verkabelten Geräten jagt. „Fein. Ich kann langsam das große Ganze sehen. Das war’s für heute“, sagt er und klatscht aufmunternd in die Hände. Dem unsicheren Lachen einiger Teilnehmer nach zu urteilen, können noch nicht alle an diesem Abend das große Ganze sehen.

„Die Teilnehmer mussten sich bei FM4 mit einem Video bewerben. Ich hab dann nach den Kriterien Charakterstärke, Selbstbewusstsein und Vielfalt ausgewählt“, erzählt Jamie, während sich am Feuer im Klostergarten Gespräche über Gesangs- und Atemtechnik und schließlich Gott und die Welt entwickeln. „Ich bin sehr zufrieden mit meiner Entscheidung – das ist eine tolle Gruppe mit vielen verschiedenen Talenten. Und sie sind bei ihrer Arbeit sehr großzügig – niemand ist egoistisch. Das freut mich sehr.“ Für eine Weile scheint es, als würde er der Unterhaltung zuhören, dann steht er plötzlich auf. „Bei der Aufführung morgen könntet ihr zwischen dem ersten und zweiten Song alle kurz abgehen und wieder neu auf die Bühne kommen“, sagt er ohne jeden Bezug. „In der Zeit laden wir den neuen Track. Ich hoffe, dass der Applaus so lange anhält.“

Er geht zurück in die Kirche. Es ist nach 23 Uhr, und jetzt-befreit von dem Gefühl, „offiziell“ den Workshop leiten zu müssen – lässt er seiner Kreativität freien Lauf. „Beats können so dünn Hingen, wenn sie nur am Computer gemacht sind. Man muss immer noch irgendwas mit einem Mikrofon aufnehmen“, sagt er zu David, der ihm zu den Instrumenten gefolgt ist. „Lade mal Evas Song. „Über die nächsten zwei Stunden verschwindet er in eine Welt, in die ihm keiner folgen kann: In atemberaubendem Tempo bewegt er sich zwischen Samplern, Drumcomputern und Davids Laptop, nimmt Bässe und Percussion-Geräusche auf-besonders zufrieden ist er mit einem „Pling“, das er mit einem Schraubenzieher und einer leeren Bierflasche erzeugt hat -, die er auf dem Bildschirm verschiebt, verzerrt und schließlich mit dem vorhandenen Track verbindet. Um ein Uhr morgens ist schließlich ein grandios ausgefeilter HipHop-Beat fertig, der qualitativ zahlreiche der teuren Hochglanzproduktionen übertrifft, die in den letzten Jahren die Charts dominiert haben.

Ernst, bestimmt Und mit großer innerer Ruhe bereitet Jamie am nächsten Tag mit seinen Schülern den Auftritt vor. Er legt viel Wert auf eine professionelle Präsentation und diskutiert engagiert verschiedene Möglichkeiten, die einzelnen Programmpunkte dramaturgisch zu verknüpfen. Neue Ideen der Teilnehmer baut er sofort ein – er ist kreativ, offen und ganz und gar uneitel. „Ich bin schon viel entspannter“, sagt er in einer der wenigen Pausen am Nachmittag. „Am Anfang hab ich mir solche Sorgen gemacht, ob ich denen wirklich was beibringen kann. Mir ist nämlich aufgefallen, dass meine Arbeitsweise ziemlich seltsam ist. Ich kann nicht wirklich ein Instrument spielen was, wenn die meine Methode, an Musik heranzugehen, uninteressant finden? Aber nachdem ich ihnen erst mal mein ganzes Equipment erklärt habe, haben sie ja selbst so viel beigetragen.“

Selbstzweifel sind der rote Faden, der sich durch fast alle Jamie-Lidell-Interviews der letzten Jahre zieht. Weder als Laptop-Artist und Remixer noch als Mitglied des angesehenen Elektronica-Projekts Super_Collider, das er mit Cristian Vogel Ende der 90er-Jahre in Brighton gründete, vertraute erauf den Wert seiner eigenen Arbeit. Die Information, dass ihm seine Art, den Workshop zu leiten, bei den Teilnehmern schon lange vor dem Abschlusskonzert größten Respekt eingebracht hat, erleichtert ihn sichtlich. „Das einzige Vorbild, das ich bei der Regiearbeit auf der Bühne habe, ist der Theaterlehrer, den ich am Gymnasium hatte“, erzählt er. „Ein sehr inspirierter Mensch. Er hat aus den Leuten unglaublich viel herausgeholt. Er hatte so viel Geduld und so viel Energie-ich bin nicht halb so klar im Kopf wie er. Er hatte eine Idee und hat alle ganz von selbst dazu gebracht, auf die Verwirklichung dieser Idee hinzuarbeiten. Er hat keineswegs immer gelobt! Aber er wusste genau, wann er den Leuten ein gutes Gefühlgeben musste. In diesem Workshop gab es ein paar Momente, in denen ich gesehen habe, wie bei allen das Selbstbewusstsein plötzlich gebröckelt hat. Das waren schwierige Augenblicke für mich. Immer wieder dachte ich, ‚Scheiße ich hab keine Ahnung, wie ich mich jetzt verhalten soll.‘ Ich hab ja keine Erfahrung als Lehrer.“ Dass er alles richtig gemacht hat, zeigt sich am Abend bei der Show. Vor Hunderten von Leuten haben Eva, Violetta, Elisabeth, Oncel und David das nötige Selbstvertrauen, das unterhaltsame Programm fehlerfrei – wenn auch an manchen Stellen vor Aufregung etwas zu schnell – auf die Bühne zu bringen. Die Stimmen harmonieren auch bei den schweren mehrstimmigen Parts wunderschön, die Songs sind kraftvoll, und am Ende des gut 20-minütigen Konzerts gibt es langen und aufrichtigen Applaus.

Jamie hat alles beobachtet, weshalb er, begleitet von seinen befreundeten Kollegen Mocky und Gonzales, selbst völlig unvorbereitet auf die Bühne geht. Sein grandioser Auftritt, bei dem er sich mühelos zwischen Jazz, Soul, Funk, Beatboxing und Avantgarde-Elektronica bewegt, beeindruckt die Workshop-Teilnehmer tief. „Ich bin so ganz und gar Sängerin und Pianistin, ich hab mich bisher nie an das Elektronische gewagt“, sagt Eva, als später noch einmal alle im dunklen Garten sitzen und den Workshop Revue passieren lassen.

„Aber wenn ich nach Hause komme, kauf ich mir als Erstes eine Loop-Maschine!“ Einigkeit besteht vor allem darin, dass man in der Zusammenarbeit viel gelernt hat. Als die fünf gemeinsam überlegen, was wohl die wertvollste Lektion der drei Tage gewesen ist, bringt es David als Erster auf den Punkt: „Auf der Bühne improvisieren und sich nix scheißen.“