ME-Jahresrückblick

Die 50 besten Alben des Jahres 2022


Trommelwirbel, wir haben gewählt: Das hier sind, ganz offiziell – die 50 besten Alben des Jahres 2022.

Die Plätze 4 bis 1

4. Mitski – Laurel Hell (Dead Oceans/Cargo, VÖ: 4.2.)

Ihre erste Veröffentlichung LUSH datiert bereits zehn Jahre zurück, mit LAUREL HELL erschien dieses Frühjahr nun das fünfte Mitski-Album. File under: Alter Hase? Von den Zahlen her vielleicht, doch sonderlich Nachhall hatte die Musikerin mit japanischen und nordamerikanischen Wurzeln bislang nicht erzeugt. Kein Wunder also, dass sich gerade alles rund um dieses Ausnahme-Album hier so auffallend frisch anfühlt. Das ist melancholischer Synthie-Pop, der genauso auf Future Islands wie auf Kate Bush verweisen kann – und  wer noch „She’s A Maniac“ von dem Soundtrack des 80er-Jahre Tanzfilms „Flashdance“ im Kopf haben sollte, liegt ebenso nicht weit daneben. Sicherlich profitiert Mitski von dem „Stranger Things“-Zeitgeist, der düstere Analog-Keyboard-Passagen und Kate-Bush Referenzen sehr zu schätzen weiß. Dennoch ist es am Ende die genialische Eigenständigkeit, die LAUREL HELL 2022 so herausragend klingen lässt. (Linus Volkmann)

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3. Rosalía – Motomami (Sony, VÖ: 18.3.)

„Wie man ein Album mit einem Knall eröffnet“, Grundkurs erste Stunde, Privatdozentin Rosalía Vila Tobella, Anschauungsobjekt: „Saoko“. Der erste Song ihrer Platte MOTOMAMI beginnt mit einer kurzen A-cappella-Hommage an „Saoco“, einen Clubhit der Rapper Wisin und Daddy Yankee aus Puerto Rico, bevor es zu einem ureigenen Ding morpht, zu einer Art dekonstruiertem Reggaetonsong, der einen bösen Sog entfaltet, an mindestens drei Punkten unerwartete Abfahrten nimmt, zum Beispiel gen Freejaz, und schließlich – angetrieben von unerbittlichen Marschtrommeln – nach nicht mal gut zwei irren Minuten in die Luft fliegt. Was für ein Auftakt für Rosalías drittes Album, was für dunkler, zugleich verführerisch eingängiger und untanzbar komplizierter Banger, aber vor allem: Was für eine gewagte Abkehr von allem, wofür die spanische Sängerin gefühlt erst vorgestern berühmt geworden ist!

Gerade mal vier Jahre ist es her, dass Rosalía der Welt ein Genre schenkte, von der diese bis dato nicht gedacht hatte, dass sie es brauchen würde: urbanen, elektronischen Flamencopop. Ihr Album EL MAL QUERER von 2018 vereinte „Palmas“, das typisch rhythmische Klatschen, das man aus der iberischen Folklore kennt, mit schwebend leichtem R’n’B. Rosalía hätte es sich gemütlich machen können als moderne Markenbotschafterin des Flamenco, als Ein-Frau-Cervantes-Institut, denn ihr Ansatz kam bestens an bei Publikum und Kritiker*innen. Doch Rosalía wollte nicht.

Lieber schielte sie über den Atlantik, rüber in die Diskotheken Mittelamerikas, wo zu hartem Reggaeton getanzt wird. Auf ihrem MOTOMAMI regieren nun futuristischer Latinpop und auch sonst Einflüsse aus Jugendkulturen aller Erdteile. Im Song „La Fama“ tanzt sie einen elektrifizierten Stotter-Bachata mit Superstar The Weeknd, in „Chicken Teriyaki“ verweist sie zu knochentrockenen Beats auf die japanische Kawaii-Kultur, „Hentai“ wiederum beginnt als Ballade, bevor der Song von gewehrsalvenartigen Beats so fies zerschossen wird, dass man an die sperrigeren Momente von Billie Eilish denkt.

Rosalía ist, das hat sie 2022 endgültig bewiesen, eine der klügsten und spannendsten Popstilistinnen der Gegenwart, eine unersättliche Soundforscherin, die sich vom Ideenbaum der Musikgeschichte allerdings auch zielsicher die größten Zankäpfel pflückt. Musiker*innen aus Lateinamerika stieß es nämlich mitunter sauer auf, wie beherzt die weiße, spanische Sängerin auf MOTOMAMI im Fundus afrokaribischer Jugendkulturen wildert. Rosalía dürfte der Welt, gerade jetzt und bis auf Weiteres, also nicht nur zeigen, wie der Pop der Zukunft klingen könnte – sondern auch, welche Fragen er aufwirft. (Julia Lorenz)

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2. Die Nerven – Die Nerven (Glitterhouse/Indigo, VÖ: 7.10.)

Die Nerven sind wir alle. Oder zumindest: Die Nerven sind die anderen drei, mit denen man sein Ich komplettieren könnte – der Normale, der Philosoph, der milde Spinner. Ist ja unfassbar, dass so was noch immer funktioniert, aber dass diese Platte in dieser Liste auf Platz zwei liegt, spricht eine deutliche Sprache: es funktioniert. Zumindest, so lange Indie-Musikjournalismus und Indie-Musikpublikum aufgebaut sind, wie sie eben aufgebaut sind. Sicher, nicht (mehr) alle von uns sind weiß, nicht (mehr) alle von uns sind Typen. Aber, Betriebsgeheimnis: Wir sind uns alle relativ ähnlich. Und darin eben auch dieser Band ähnlich. Die Nerven sind der Sound der hegemonialen Mittelschicht.

Die ist ja bekanntermaßen beides, irgendwie sehr privilegiert, irgendwie aber auch unsicher und prekär. Es ist hart, so identitätsarm mittig zu sein und von Minderheiten oben wie unten ständig ermahnt zu werden, auch noch ganz anders zu werden, immer mit dem kleinen Brett vor dem Kopf, das der patriarchal-rassistische Kapitalismus eben weißen Mittelschichts-Männern vorspannt. Davon erzählen Die Nerven auf DIE NERVEN deutlicher denn je. Vom Einschlagen der Ahnung. Lalaland brennt.

Dabei entstanden die Songs schon 2019, als die Krisen noch überschaubar schienen. Der Opener „Europa“ beschäftigt sich mehr oder weniger verschlüsselt mit den auf der Flucht Ertrunkenen im Mittelmeer. „Ich dachte irgendwie, in Europa stirbt man nie“ trifft als Hookline perfekt ein Weltbild, das ein paar Jahre nach Genoziden und Weltkriegen in Mitteleuropa wieder bei Goethes bürgerlichem „Osterspaziergang“, bei dem Gräuelberichte exotisches Kaffeekränzchenthema waren, angekommen zu sein schien – und nun zwischen Pandemie, Angriffskrieg und Reichsflaggenmeer feststellt, dass weder dieses Leben noch dieses Europa in dieser Form existieren. „Ich sterbe jeden Tag in Deutschland“ ist demgegenüber fast unpolitisch, ein melodisch rumpelnder Beitrag zur Punkslogan-Geschichte nach Slime. „Ein Influencer weint sich in den Schlaf“ und „Alles reguliert sich selbst“ sind Gegenwarts- analysen zwischen Humor und Hoffnungslosigkeit. Alles ist laut, aber auch episch, es sind schließlich Die Nerven, die sich schon mit ihrem letzten Album wegbewegt hatten von simplen Einordnungen zwischen Indie, Postpunk und Noise.

Aus sich heraus legendär und für die Ewig- keit gemacht ist ihr selbstbetiteltes Album nicht, wie auch. Es ist vielleicht nicht einmal ihr bestes. Aber für zukünftige Ethnograf*innen eines Deutschlands des Jahres 2022 wird dieses laut schleichende, aber doch after all und kalt umarmende Album hochinte- ressant bleiben. (Steffen Greiner)

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1. Kendrick Lamar – Mr. Morale & The Big Steppers (Aftermath/Interscope Records, VÖ: 13.5.)

Als Kendrick Lamar überraschend sein erstes Album nach DAMN aus dem Jahr 2017 ankündigte, eskalierte das Internet. Wie auch nicht? In einem Brief ließ er die Fangemeinde wissen, dass es seine letzte Einspielung für „Top Dawg Entertainment“ sein sollte, dem Label, das für Jahre sein musikalisches Zuhause darstellte und auf dem er alle seine größten Erfolge feierte. Seit der Veröffentlichung seines zweiten Albums GOOD KID, M.A.A.D. CITY (2012) gilt der heute 35-Jährige aus Compton als die Stimme seiner Generation und als Retter des HipHop, mit DAMN gewann er als erster Rapper überhaupt einen Pulitzer-Preis, neben Dutzenden weiteren Auszeichnungen. Wie hätten da die Erwartungen an ein neues Album im Jahr 2022 nicht alle irdischen Grenzen sprengen können?

Aber Kendrick Lamar will nicht unser Heiland sein. Er will es nicht, er kann es nicht, und doch – er kann nicht aufhören, damit zu spielen. Mit MR. MORALE & THE BIG STEPPERS, seiner mittlerweile fünften Platte, verarbeitet er diese Diskrepanz auf Doppelalbumlänge. Auf dem Albumcover stilisiert er sich mit einer Dornenkrone auf dem Kopf, bei Auftritten wie bei dem beim Glastonbury Festival als gefallener Jesus, doch gleichzeitig sagt er es uns wie ein Mantra wieder und wieder und wieder: er sei „not your savior“ („Savior“), er „can’t please everybody“ („Crown“), er sei ein Sünder („Worldwide Steppers“), ein gebrochener Mensch („Mother I Sober“). Keine Hitmaschine, kein Erlöser, kein Retter des Gegenwartsrap. Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, besitzt MR. MORALE amüsant grenzwertige wie auch zutiefst problematische Seiten: von einem Faible für Eckhart Tolle, dem angeschwurbelten deutsch-amerikanischen Autor von spirituellen Büchern, über uneindeutigen Positionen zu Pandemiemanagement oder Deadnaming von trans Personen in einem Song, der eigentlich vom Gegenteil handelt („Auntie Diaries“), bis hin zur Kooperation mit dem verurteilten Sexualstraftäter Kodak Black („Silent Hill“).

Über 18 Songs hinweg hören wir Kendrick Lamar beim Durcharbeiten seiner persönlichen Verfehlungen, seiner persönlichen und transgenerationalen Traumata. Es geht um Narzissmus und Kapitalismus, um Sexsucht und sexualisierte Gewalt, hinein ins tiefste Schwarz und dann, endlich, hin zu einer Art Erlösung, zur Vergebung, zum Bruch mit den über Generationen weitergegebenen Schmerz und Gewalt („Mirror“).

Wer ein kohärentes Meisterwerk erwartet, wie es vor allem sein drittes Album TO PIMP A BUTTERFLY (2015) war, wird enttäuscht: MR. MORALE & THE BIG STEPPERS ist musikalisch so vielfältig und zerrissen wie der Künstler, der dahintersteckt. Was musikalisch auch mit der Menge an verschiedenen Produzent*innen zu tun hat, die an den einzelnen Songs beteiligt waren. Aber so inkohärent das Album musikalisch wirken mag, so fest hat es Kendrick dafür in Sachen Narrativ zusammengeschnürt: verbunden durch wiederkehrende Elemente wie etwa Gesprächsfetzen von Eckhart Tolle oder seiner Lebensgefährtin Whitney Alford, die wie ein griechischer Chor seine Entwicklung über das Album hinweg kommentiert, bis hin zum Moment der Befreiung von seinen eigenen Dämonen. Es ist klar: Wir hören dem „Oklama“, wie er sich seit diesem Album auch nennt, bei der Therapie zu – dieses Album ist eine Art psychische Teufelsaustreibung.

Nein, Kendrick Lamar möchte nicht unser Heiland sein. Vielleicht will er nicht einmal mehr Kendrick Lamar sein. Und genau aus dieser Zerrissenheit heraus hat er uns das Album geliefert, das wir in diesem Jahr gebraucht haben. (Aida Baghernejad)

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