Die Daddel-Olympiade


Wir betreten den Heide-Park im norddeutschen Soltau. Ein kleines Mädchen steckt den ganzen Kopf in eine monströse Portion rosa Zuckerwatte, während seine Mutter vorsorglich schon im Familienrucksack nach den feuchten Tüchern kramt. Im Hintergrund rattert die monströse Holzachterbahn „Colossos“ dem Abgrund entgegen. Die ersten Passagiere schreien und juchzen schon in Angst und Vorfreude. Das Wetter ist perfekt für einen Ausflug in den Freizeitpark. Und plötzlich, hinter einer Weggabelung, beginnt das Paralleluniversum: Ein komplettes Restaurant ist verkabelt, unzählige Flatscreen-Monitore, Konsolen und Rechner stehen herum. In der Zentrale blinken die Server wie monströse Bomben aus „24“. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen, hier wird das deutsche Nationalteam für die World Cyber Games gebildet. In sechs PC- und zwei Xbox36o-Disziplinen treten ca. 200 sogenannte „eSporder“ gegeneinander an. Nur 23 von ihnen werden es ins Nationalteam schaffen, das im Oktober in Monza, Italien, gegen die weltweite Konkurrenz um 500.000 US-Dollar Preisgeld antritt. Leinwände sind aufgestellt, aus Lautsprechern schallen die Stimmen zweier aufgeregter Moderatoren, die um die Wette kommentieren, während in einer Ecke des Raumes zwei Jungs mit Controllern sitzen und sich ein heißes „FIFA Soccer 2Oo6“-Match liefern. Ein paar Dutzend andere schauen gebannt auf die Leinwände, applaudieren, tuscheln, schütteln die Köpfe.

Das ist kein Wohnzimmer-Spiel mehr, hier geht es nur darum, die nächste Runde und schließlich das Finale zu erreichen. Der 23-jährige „styla“ liegt in diesem Match klar vorn. Er heißt eigentlich Dennis Schellhaase, kommt aus Gelsenkirchen und ist mit seinem Zwillingsbruder Daniel angereist, um sich in die deutsche Nationalmannschaft zu kämpfen. Daniel ist hier als „hero“ bekannt, die anderen Spieler sprechen sich ebenfalls mit ihren Nicknames an. Viele von ihnen sind unter 20 Jahre alt, gehen noch zur Schule. Und sie gelten als Stars. Sie haben Sponsorenverträge, die bindend sind. Einer der Spieler macht beispielsweise gerade einen Riesenaufstand, weil er später nicht mit seiner Lieblingsmaus spielen darf. Das klingt ziemlich seltsam, ist aber bei genauem Nachdenken auch verständlich. Einem Michael Ballack würde ja auch niemand seine Schuhe verweigern, einer Anna Kournikowa keiner ungestraft einen falschen Schläger in die Hand drücken. Hier geht es nicht um Freizeitgedaddel nach Feierabend, sondern um die Wurst.

Im ersten Stock spielt man sich derweil warm und fachsimpelt. Nicht nur über verschiedene Spieltaktiken und „Warcraft“-Eröffnungen, sondern tatsächlich auch über Diäten für Leistungssportler, den besten Zeitpunkt für den gezielten Einsatz von Kohlehydraten, beispielsweise. Es ist verblüffend, zuzuhören, wenn darüber gestritten wird, ob man seinen Blutzuckerspiegel besser eine halbe Stunde vor dem Match auf Vordermann bringen sollte oder noch früher, um „ein optimales Reaktionsergebnis“ zu erzielen. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis auch hier die ersten Dopingkontrollen durchgeführt werden?

Unten werden argwöhnisch die Gegner beobachtet. Ist der eine von ihnen eventuell schon zu alt, mit seinen 25 Jahren? Ist er langsamer geworden? Wird sein Sponsorenvertrag verlängert werden, oder ist er auf dem absteigenden Ast? Favoriten- und Außenseiterpositionen werden verteilt, Teams finden sich zusammen, Unsympathen werden für ihre Großmäuligkeit ausgebuht – alles wie im echten Leben. Jenes bewegt sich draußen auf vorgeschriebenen Bahnen und häufig in Loopings. Die Familien und Freizeitler greifen nach der Sonnencreme, während drinnen den Profis der virtuellen Welt der Schweiß auf der blassen Stirn steht und die Schwindelgefühle ganz andere Ursachen haben. Drei Tage wird gekämpft, diesmal hauptsächlich um Sachpreise und – natürlich – einen Platz im Team. Am Ende des Tages haben sich die FIFA-Zwillinge beide qualifiziert. Sie hoffen, den deutschen Titel des FIFA-Weltmeisters halten zu können. Der jüngste Finalteilnehmer ist gerade erst 14 Jahre alt. Frauen sind keine dabei, die einzige Profispielerin, die leider unterwegs ausgeschieden ist, wurde von den anderen Teilnehmern heimlich bestaunt wie ein bunter Hund. „Wir haben hier alles, außer Frauen“, lachte ein jugendlicher Xbox36o-Experte, während er uns die Hand schüttelte, um dann routiniert zu Controller-Übungen für die Fingerfertigkeit überzugehen.