Die Wende


Weit zurück liegt die Zeit, als Rockmusik für die Stützen der Gesellschaft ein rotes Tuch war. Von Bill Haley bis zum Punk galt "die Negermusik" als subversive Entartung, die man um jeden Preis ins gesellschaftliche Abseits schieben wollte. Und heute? Da buhlen Politiker um die Gunst der Pop-Idole, die ihrerseits plötzlich Moral und Menschlichkeit propagieren. Was sind die Gründe? Steve Lake behauptet, daß es sie auch in der Popmusik gibt:

Soziologisch versierte Kritiker versichern uns, daß die Rockmusik in eine neue, „engagierte“ Phase tritt. Da gibt’s diverse Band Aid-Platten, das Live Aid-Konzert. das Farm Aid-Projekt zugunsten verschuldeter amerikanischer Farmer, die Anti-Apartheid-Platte von Little Steven usw.

Es soll nicht bestritten werden, daß diese Bemühungen einen Wert haben, wenn auch nur einen begrenzten. Gleichzeitig aber ist die Popmusik genauso eingebildet wie früher und klopft sich nun sogar mehr auf die Schulter denn je.

Es ist auch nicht meine Absicht, in diesem Artikel die Aufrichtigkeit etwa eines Bob Geldof in Frage zu stellen. (Obwohl das relativ einfach wäre: Vor knapp zwei Jahren zog Geldof just in diesem Blatt über Sting und Police her. Der Grund: ihr Song über den Hunger in Indien. Vielleicht ist Bob ja jetzt „aufrichtiger“ als damals?! Aber das ist ein leidiges Thema.) Werfen wir einen kurzen Blick auf die Gefühle, die in den heutigen Popsongs ausgedrückt werden. Bis zu einem gewissen Grade bin auch ich der Meinung, daß die Musik politischer geworden ist; ich habe allerdings meine eigene Ansicht über die Interpretation der Nuancen.

Meiner Meinung nach reflektiert die Popmusik immer mehr die Politik der konservativen Rechten, während gleichzeitig das Image die Einordnung des Stars als „Rebell“ propagiert.

Obwohl man mit jedem x-beliebigen Beispiel beginnen könnte, fangen wir mal mit Neil Young an. Er schaffte es gleich dreimal beim Live-Aid Spekatkel zu erscheinen: mit seiner eigenen Gruppe, mit Crosby, Stills, Nash and Young und mit der All-Star-Truppe von „U.S.A. For Africa“. Young erschien auch auf dem „U.S.A. For Africa“-Album und schluchzte „Tears Are Not Enough“ (Tränen reichen nicht aus).

Ich fing um 1975 an, mir um Neil Sorgen zu machen; wobei ich anmerken sollte, daß ich seit 1967 ein Fan seines Gitarrenspiels bin. Sinnigerweise schreibe ich diese Zeilen, wahrend aus dem Ghetto-Blaster ein irrsinnig gutes Buffalo Springfield-Bootleg plärrt.

Auf seinem neuen Album OLD WAYS teilt Young uns mit, daß Buffalo Springfield nichts als ein Haufen von Schaumschlägern gewesen sei. Er verdiente ein bißchen Kohle mit so ner Hollywood-Band, singt er, aber „all the time I knew I would get back in the country“.

Eine kuriose Rückkehr, da Young nie ein Country-Sänger war – zumindest nicht bis zu dem Zeitpunkt, als er sich auf HARVEST erstmals an dem Genre versuchte. Bevor er bei Buffalo Springfield landete, hatte er einen Single-Vertrag mit Tamla Motown als Teil der Mynah Birds – einer Band, die er zusammen mit Rick James (!) führte.

Die Springfields hatten eine „linke“ Reputation, hauptsächlich wegen der Songs von Steve Stills. Stücken wie „Four Days Gone“. das vorsichtig mit den verfolgten Wehrdienstverweigerern symphatisierte. C. S. N & Y war krasser, politisch in Form von Slogans; Young selbst stieg schließlich mit „Ohio“ in die Arena der großen Bekenntnisse.

Was das emotionale Engagement betrifft, war das der beste Moment dieser Band. Der Songtext beklagt den Tod jener Studenten, die an der Kent State University von Nixons Nationalgarde erschossen wurden und predigt Vergeltung mit Gewalt: „What if you knew her and found her dead on the ground/ How can you run when you know?“

Das war 1970. Ein paar Jahre später betrachtete es Young als „Ironie“, daß er sich über den Tod jener amerikanischen Studenten ausgelassen halle“. Zu der Zeit hatte er schon einen neuen Nixon-Song geschrieben, diesmal einen symphatisierenden, Watergate und die Qualen, die der arme Präsident durchleiden mußte, hatten aus Youngs Sicht Nixons Schuld getilgt. Und siehe da: „Richard Nixon got soul“ (aus „Campaigner“). 1980 wurde Youngs HAWKS AND DOVES-AIbum zeitlich so veröffentlicht, daß sein Erscheinen mit der „Presidential Week“ zusammenfiel. Es enthielt diesen monumental schwachsinnigen Chor: „U.S.A.! U.S.A.! So my sweet wife can dance another free day!“ Fast war man geneigt zu glauben, daß Young sich hier an einer obskuren Form der Satire versuchte…

Schließlich war Country-Sänger Merle Haggard durch ein obskures Mißverständnis auf dem rechten Flügel gelandet: Er war praktisch sein ganzes Leben lang ein Outlaw und ging vom 14. Lebensjahr an ständig im Gefängnis ein und aus – für alles mögliche, vom Autodiebstahl bis zum bewaffneten Überfall. Er begann die Sechziger im Knast von San Quentin.

Am Ende dieser Dekade veröffentlichte er „Okie From Muskogee“ einen Song, der die Tugenden des Patriotismus und des erdverbundenen Lebens pries. Sieht man sich Haggards Lebensgeschichte an, dann muss der Song wohl ironisch gemeint gewesen sein.

Die moralische Mehrheit jedoch schluckte ihn. Haggard schaffte es, eine saubere Weste zu wahren, und Ronald Reagan sorgte dafür, daß das Strafregister des Sängers gelöscht wurde. Merle wurde für seinen Dienst am Patriotismus ein volles Pardon gewährt. Seitdem hat er mehrmals im Weißen Haus aufgespielt…

Könnte sich Young auf einer ähnlichen Spur bewegen? Mit jeder neuen Platte wurde der Wechsel deutlicher. Auf EVERYBODY’S ROCKIN‘ gibt es liebevolle Reverenzen an Nancy und Ronnie, die auf dem Rasen des Weißen Hauses herumtollen. OLD WAYS schwenkt genauso die Flagge wie eine Episode der „Waltons“. Die Botschaft: My Countrv, My Farm. My Familv.

Um die letzten Zweifel auszuräumen, hat Young kürzlich in diversen Interviews seine Loyalität zu Reagan bekräftigt. Auch Musiker wie Iggy Pop, James Brown und die Beach Boys schließen sich der Unterstützung für Reagan an. Nur bei letzteren allerdings schlug sich diese Bewunderung direkt in den Texten nieder: Brian Wilsons Crew scheute sich nicht, den Refrain von „California Girls“ umzumodeln in „wish we all could be Republicans“.

Den Anstoß zum Farm Aid-Konzert gab ein Geistesblitz von Bob Dylan auf dem Live Aid-Spektakel. Es wäre nett, wenn ein paar Milliönchen vom Geld für Äthiopien beiseitegepackt werden könnten, um den amerikanischen Bauern zu helfen, ihre Schulden abzuzahlen, sagte der andere heilige Bob.

Da hab ich doch nach Luft geschnappt. Ganz sicher geht es den amerikanischen Farmern schlecht – der Leser sollte sich diesbezüglich den beeindruckenden Film „Country“ mit Sam Shephard und Jessica Lange ansehen. Aber sie sterben nicht zu Tausenden!

Nichtsdestotrotz hatte John Cougar Mellencamp schon einen Song für diese Angelegenheit auf der Pfanne, eine rührselige Hymne mit dem Titel „Scarecrow“, die – durchaus brillant – biblische Bilder mit der ökonomischen Realität vermischt, bis der amerikanische Farmer als der gekreuzigte Jesus erscheint.

Möglicherweise reagieren die Popstars deshalb so emotional auf die Geschichte mit den Farmern, weil sie sie dort trifft, wo sie in ihren Alpträumen am verwundbarsten sind: ihr Eigentum. Vor ein paar Jahren zog Neil Young vor Gericht, um zu verhindern, daß ein Popfestival in der Nahe seiner Ranch südlich von San Francisco stattfand. Ob denn der Richter nicht wisse. was diese Hippies dem Land anderer Leute alles antun könnten, fragte Neil.

Die Zeiten werden härter für Farmer und Grundbesitzer. Auf INFIDELS schiebt Dylan das auf die Gewerkschaften. „Die Gewerkschaften sind windige Geschäftsleute“, meckert er – und fügt hinzu: „Ich sehe den Tag kommen, da sie selbst über deinen Vorgarten bestimmen.“ (Aus „Union Sundown“) Dylans Patriotismus bekam ungefähr zu jener Zeit eine militante Färbung, als er zum orthodoxen Christentum konvertierte. SLOW TRAIN COMING beinhaltete ein paar Vorwürfe an die Araber, aber auf INFIDELS geriet Dylan in Rage, als er die Etiketten auf seinen Hemden, Tischdecken und Autos checkte und feststellte, daß keiner dieser Gegenstände in den good old USA hergestellt worden war.

Kommen wir zu Springsteen und „Born In The U.S.A.“. Die meisten amerikanischen Zuhörer kommen nie über den Songtitel hinaus. Sie hören Springsteen singen, daß er in Amerika geboren ist. und denken: „Whopee! Ich bin auch in den Städten geboren!“ und werfen dann in einem Anfall von Hurra-Patriotismus ihre Hüte in die Luft.

Diejenigen, die ein bißchen tiefer bohren, werden feststellen, daß der Song ein vorsichtiges Ouentchen Sozialkritik enthält: Wir werden um Mitleid mit einem Vietnam-Veteranen gebeten, der Schwierigkeiten hat. nachdem er aus Vietnam zurückgekehrt ist.

Auch andere Musiker beschäftigen sich mit den Problemen, mit denen die heimkehrenden Soldaten konfrontiert waren. Tom Waits“ SWORDFISH-TROMBONES widmete sich auf überzeugende Art dieser Problematik. Auch der hartgesottene Redneck Charlie Daniels landete mit „Still In Saigon“ einen Hit. All diese Platten entstanden, lange nachdem sich die US-Truppen aus Südostasien zurückgezogen hatten. Während des Krieges wollten Musiker und Filmregisseure mit der Welt der Politik nichts zu tun haben.

Ich wurde mal gebeten, ein Album mit Anti-Vietnam-Songs zusammenstellen, das als Teil eines Paketes die Vietnam-Front-Reportage „Dispatches“ von Michael Herr begleiten sollte. Herr hatte argumentiert, daß Vietnam ein Rock’n’Roll-Krieg war, weil die Soldaten, aufgeputscht mit Heroin und Jimi Hendrix in ihren Kopfhörern in die Schlacht gingen. Deshalb die Idee des Herausgebers, Buch und Platte gemeinsam herauszugeben.

Es war fast unmöglich, genügend Protestsongs zu finden, um damit eine LP zu füllen. All die lautstarken, pseudo-engagierten Beatniks, von denen man annahm, daß sie etwas über den Krieg gesagt hätten, hatten sich in Wahrheit völlig bedeckt gehalten; sie sangen nur „Blowin‘ In The Wind“ Die betuchten Rockstars hielten sich aus dem Thema heraus. Sie hätten sich ja mit ihren Arbeitgebern in die Haare kriegen können. Denn die Plattenfirmen, für die sie arbeiteten, waren oft genug von riesigen Multis geschluckt worden, die oft genug Zulieferer für die Waffenwirtschaft waren. Aber ich komme vom Thema ab.

Nun denn. Springsteen. Ich halte BORN IN THE USA mit seinen patriotischen Gefühlen für genauso amüsant wie Cougars SCARECROW-LP. Die Musiker, die sich in die Pose der blaugekleideten Arbeiterklasse werfen, sind in meinen Augen die scheinheiligsten von allen. Ihr Erfolg baut auf die Illusion, daß es keinen Unterschied gibt zwischen „dir da unten“ und „uns hier oben“. Und amüsanterweise fallen die Leute darauf rein. Immer wieder sagten die Fans in einem Bericht der Rolling Stone, dass sie Bruce bewunderten, weil „er nur einer der Jungs“ sei.

Es ist schon bizarr, daß Popmusik diese Identifikation nötig hat. Im Kino und in der Literatur geht’s jedenfalls auch ohne: Weder glauben wir, daß Christopher Lee und Vincent Price wirklich Vampire sind, noch daß Richard Adams, der Autor von „Watership Down“, wirklich ein Kaninchen ist.

Aber viele von uns sind gutgläubig genug, den Eindruck zu akzeptieren, als sei Springsteen der Kumpel, der täglich bei McDonalds ißt und den Rest seines Lebens in einer Autowaschanlage in New Jersey verbringt.

Springsteen und Cougar sind auf eine Art sogar gefährlich, weil sie Zufriedenheit und Selbstgefälligkeit propagieren. Die Message von SCARECROW ist, daß Mittelmäßigkeit etwas Wundervolles ist. In „Small Town“ (das ich übrigens für einen großartigen Song halte) argumentiert Cougar für die Provinz, indem er sagt: „I can by myself here in this small town / And people let me be just what I want to be.“ („Ich kann hier in dieser Kleinstadt ich selbst sein; die Leute lassen mich sein, wie ich will.“] Natürlich kann sich Cougar alle seine Träume in Bloomington, Indiana erfüllen, weil er das nötige Kleingeld hat, um sich diese Freiheit zu erkaufen. Aber wehe, wenn ein Nobody dort mal über die Stränge schlägt! Überall auf der Welt sind Kleinstädte die Brutstätten der Intoleranz und „Was wird der Nachbar wohl denken“-Kleinkariertheit. (Ob man in diesem Zusammenhang auch

Herbert Grönemeyer und „Bochum“ anführen sollte, möchte ich als Gast in diesem Land nicht entscheiden wollen.) Unterdessen werden Springsteens (Song-) Helden immer älter, sitzen rum und trinken und erinnern sich an die „Glory Days“ ihrer Jugend. Springsteen hat seit den Tagen von „Born To Run“ seine Richtung geändert; das war sein letztes Pamphlet für die große Flucht. Noch zu den Zeiten von THE WILD. THE INNOCENT AND THE E-STREET SHUFFLE ging es darum, mit Musik Geld zu machen und um alles in der Welt aus diesem industriellen Höllenloch herauszukommen. In „Rosalita“ jubelte Springsteen: „Hey Rosie, die Plattenfirma hat mir einen riesigen Vorschuß gegeben!“ Und der Plan war, sich schleunigst nach Kalifornien abzusetzen, sich in einem kleinen Cafe zu verbarrikadieren, wo man die ganze Nacht Gitarre spielen konnte, um dann, wenn das langweilig wurde, weiterzuziehen, keep on moving.

Alles vorbei. Jetzt heißt das Schlüsselwort Verantwortung. Wir waren jung, wir haben dies und das getan. Und, mein Sohn, dies ist deine Heimaistadt. Wenn die Fabriken schließen, dann werden die Zeiten härter. Aber wir werden weitermachen, mein Sohn, weil ein Mann das machen muß, was ein Mann nun mal machen muß… no surrender.

Halt, die Fabrikschließungen! Man könnte meinen, die Fabrik sei eine Attraktion in Disneyland, so wie die Pop-Aristokraten über ihr Dahinscheiden lamentieren. Das geht von Billy Joels „Allentown“ bis zu Big Countrvs „Steeltown“. Sie alle setzten Arbeit gleich mit Würde – in der besten Tradition von „Arbeit macht frei“, obwohl sich wohl keiner der Popstars in einem Achtstunden-Tag abrackert, 49 Wochen im Jahr. Nur die Touristen aus der Welt der Rockmusik finden so was romantisch. Daß Fabrik-Schufterei mit Würde gleichgesetzt wurde, habe ich immer nur bei Politikern und Popstars erlebt.

Andererseits genießen es die Betroffenen, wenn man über sie singt. Und sie werden ganz begeistert die Platten von, sagen wir, Style Council kaufen, die ihnen sagen, wie unglücklich sie sind.

Council-Chef Weller verstopfte die britischen Musikzeitschriften mit seinem Anliegen; wie Dylan liebt er es, das nationale Leiden zum globalen zu erheben. In „A Stone’s Throw Away“ stellen Style Council das Unglück der Yorkshire Miners mit dem der Sozialisten in Chile gleich, die von der Militärjunta gefoltert wurden; oder aber mit denen der Schwarzen, die durch die Apartheid in Lebensgefahr gerieten; oder mit den polnischen „Solidarität“-Arbeitern.

Das ist ja nun wirklich Geschwätz! Der Mensch, der am stärksten von dem Bergarbeiterstreik getroffen wurde, war ein Taxifahrer, der von Streikposten ermordet wurde, als er einen arbeitswilligen Arbeiter durch die Reihen der Protestierenden fahren wollte. Traurig, aber wahr. Großzügig überreichte Weller ein paar Tantiemen an die Witwe des Taxifahrers und blökte weiter.

Wenn man in Wellers Texten gräbt, wird man feststellen, daß er ein „conservative“ mit dem kleinen „c“ ist, wie wir Engländer sagen. Früher war er einer mit dem großen „C“. Die Jam warfen sich mit Volldampf in eine Welle des extremen Toryism und priesen auch die Royal Family. (Billy Bragg, Elton John und sogar Geldof sind allesamt überzeugte Monarchisten.)

Inzwischen ist Weller zwar etwas klüger geworden, aber er ist immer noch ein echter „conserver“. Nichts bringt ihn mehr in Rage als die Vorstellung, daß die Jungs ihre Heimat verlassen müssen, um einen Job in einer fremden Stadt zu bekommen. Er. schmachtet danach, die Familien zusammenzuhalten: „Our tears fell like rain as my mother walks me to the train“, singt er in dem lächerlichen „Homebreakers“. Er zerreißt ihm das Herz, wenn irgendwo ein kleines Geschäft bankrott geht: „The grocer’s shop hangs up its sign / The sign says closed, it’s a sign of the times. „

Als die Kinks in den sechziger Jahren ein Album mit dem Titel THE VILLAGE GREEN PRESERVATION SOCIETY herausbrachten, war man sich einig, daß das ein hoffnungslos exzentrisches Werk sei. Die Kinks als Bewahrer altenglischer Traditionen! Inzwischen ist fast jeder in dieser „Preservation Society“.

Man sollte nie vergessen, daß Protest in neun von zehn Fällen eine Emotion ist, die ihre Wurzeln im Patriotismus hat. Der Protestierende sagt:

Das Leben hier ist nicht mehr so gut, wie es mal war.

Oder: Das Leben ist nicht so gut, wie es sein könnte.

In beiden Fällen glaubt er fest daran, daß es in seinem Land Werte gibt, worauf zu bauen wert ist.

Die Long Ryders haben gerade das Album STATE OF OUR UNION herausgebracht, in dem sie vor Nationalstolz geradezu überschäumen. Die Waterboys sind erschrocken darüber, daß mehr englische Kinder denn je Drogen nehmen. „Old England is dying“ singen sie voller Sorgen.

Sting, der sich aus unerfindlichen Gründen als radikal einstuft, singt auf seinem Soloalbum „We work the black seam“. Er sieht den Bergarbeiter als eine symbolische, heldenhafte Figur. Ein Mann, der in der Erde gräbt und Macht zu Tage fördert. Daß die Bergwerke, die dem Rotstift zum Opfer fielen, als wirtschaftlich unrentabel eingeschätzt wurden, beeindruckt Sting nicht im geringsten. Der Bergarbeiter repräsentiert die good old ways, die good old days, und dabei bleibt es.

Etwas hat sich in der letzten Dekade in der Rockmusik geändert. Als der Punk seinen Einzug hielt, wurde eine vorgefertigte „Anarchie“ zum Lippenbekenntnis. Wir sind weit entfernt von der Ära, als „Rock“ und „Jugendrevolte“ noch nahezu identische Begriffe waren.

Man denke nur daran, wie Jim Morrison konstant sein Publikum zum Aufruhr anspornte – selbst wenn seine Revolution absolut kindisch war. Er zeigte auf die Bullen im Saal und sang „They got the guns but we got the numbers.“

Vielleicht kann ein Künstler auch gar nicht anders, als die Zeiten reflektieren, in denen er lebt. Die Sechziger, in denen zum ersten Male die jungen Leute eine Menge Geld hatten, schufen eine beinahe luxuriöse Atmosphäre des intelektuellen Aufruhrs. Aus der Beschaulichkeit der Universität heraus konnte man eine linke politische Position einnehmen, die man niemals wirklich leben mußte.

Die Achtziger mit all ihrem Karriere-denken lassen einem gar keine Zeit mehr, sich verantwortlich zu fühlen. „Scheuklappen auf – und weiter geht’s!“ lautet die Parole.

Inzwischen haben wir auch den Soundtrack zu diesem Film: Songs, die immer wieder leiern: „my country, my family, my Job“.

Ist es da noch verwunderlich, daß Springsteens Publikum mit Flaggen anreist? Oder daß Bob Geldof beim Live Aid-Konzert zur Rechten von Prince Charles sitzt?