Formel Eins


Die traditionellen Live- und Playback-Sendungen („Rockpalast“, „Rockpop In Concert“, „ZDF-Hitparade“, „Musikladen“, „Vorsicht Musik“, „Bananas“ etc.) unterscheiden sich in einem Punkt maßgeblich von „Formel 1“: In den erwähnten Sendungen spielen Video-Clips, wie sie kurz und neudeutsch genannt werden, nur eine untergeordnete Rolle. Wenn überhaupt.

Doch Clips als Lückenbüßer, als optisches Extra, als Zeitschinderei, um Kulissen zu schieben, gehören der Vergangenheit an. Der Siegeszug der 3-Minuten-Augenweiden hat längst begonnen.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Während selbst für Playback-Programme Stars und Sternchen für viel Geld rund um die Welt kutschiert wurden, tagelang in Studios rumhingen, um letztlich drei Minuten über den Bildschirm zu flimmern, sind Clips billig, praktisch… pflegeleicht. Man kann sie in der Tasche mit rumtragen, bei Bedarf einsetzen, horten – was auch immer. Immer offensichtlicher ist und wird, daß die preiswerte Video-Konkurrenz der Live/ Playback-Sendung den Rang abläuft.

Während der Bremer „Musikladen“ weiterhin seine Tore zum Playback-Reigen öffnet und nur als Pausenfüller hie und da ein Video einstreut, machte man im sonst eher konservativen Bayern Video-Nägel mit Köpfen. Das von Stefanie Schoener ms Leben gerufene „Pop-Stop“ baut gänzlich auf die schillernde Kraft der kurzen Dinger. Die unter ZDF-Schirmherrschaft hergestellten „Ronnys und „Tommys Popshow“ mixen lockere Plattenplauderei zum Affenspaß oder Schalk-igen Versprechern.

Was man vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte, gelang Gottschalk, dem schnatternden Sunnyboy der Nation. Als Video-Jockey schaffte er den Sprung ms ZDF-Abendprogramm.

Großer Nachteil von „Ronnys und Tommys Pop-Show“, die 1983 insgesamt 11 mal ausgestrahlt wird: Sie kommt im Vier-Wochen-Turnus. Es fehlt also ganz einfach an der flimmernden Beständigkeit für die gewohnheitstüchtigen Heimkopierer. Die nämlich möchten umfassend über die musikalische Entwicklung informiert werden und auch die Gelegenheit wahrnehmen, die Hitparade chronologisch home-zu-tapen.

Mit „Formel 1“ beginnen da bessere Zeiten. Die flotte 45-Minuten-Sendung wird hauptsächlich mit Video-Clips das, wie der Name schon andeutet, Rennen um die Chart-Spitze ausstrahlen. Ein grauer Markt für alle Home-Taper tut sich da auf, wie ihn sich die Video-Besitzer besser nicht wünschen können. Die Privatparty mit den im Do-It-Yourself-Verfahren zusammengestellten All-Time-Greatest ist in Kürze Realität.

Aufgerüttelt durch den momentanen Video-Boom und krisengeschüttelt durch die Tonträger-Baisse wollen die Plattenfirmen, ernst freiwillige Zulieferer, jetzt doch ihr Scherflein ins Trockene bringen.

„Formel 1“-Redakteur Spinrads dazu: „Im Moment sind die Firmen noch der Meinung, daß wir Werbung für sie machen und verzichten daher auf Honorare, Abgabe- oder Verleihgebühren.

Außerdem zahlen wir von uns aus ein sogenanntes ,Anerkennungs-Honorar‘ m Höhe von DM500,-, womit Versandkosten und ähnliches abgedeckt wird. Für Videos zu zahlen, fände ich auch ziemlich schizophren, denn jahrelang hat die Industrie gejammert, daß sie gerne eine Sendung für ihre teuren Videos hätte – und jetzt, wo man finanziell in der Talsohle angelangt ist, wollen sie plötzlich Geld sehen. Das ist albern, dann sollen sie ihre Clips doch weiterhin im Büro angucken.“

Wie sieht „Formel 1 eigentlich aus? Macher Spinrads gibt einen ersten Einblick: „Das Studio besteht aus lauter Autoteilen. Zersägte Autos, zerschweißte Autos, Autos in jeder Form. Es sieht fast aus wie ein Autofriedhof. In dieser collagenartig zusammengebastelten Dekoration treten zwischen den Videos – auch Gruppen auf, und dort wird auch das Publikum sein. Im Gegensatz zu der reinen Disc-Jockey-Funktion, die der Gottschalk im kalten Studio hat, hat .Formel 1′ eine wirklich eigene Atmosphäre.“

In die selbe Kerbe schlägt Regisseur Bentele: „Mein Ziel: weg von der flutlichterhellten Studio-Kälte, hin zu einer Realistik, einer Atmosphäre, einer Wärme der Bilder. Die Gestaltung hängt natürlich auch vom Video-Material und von den Acts ab, die zu uns kommen. Wenn es sich jedoch ergibt, werde ich versuchen, zumindest die Live-Präsentation wie ein Original-Motiv aussehen zu lassen.“

Der 27jährige Absolvent der Film- und Fernsehhochschule München hat schon für die Insisters und neuerdings auch für Hans-A-Plast viel gelobte Videos gemacht sowie drei Filme gedreht. Wenn er daran denkt, daß bei „Formel 1“ fast ausschließlich Videos im Vordergrund stehen, er also fast nur hintenherum kreativ werden kann, entrutscht ihm ein kurzes „leider Gottes“.

Befragt, wie er als Jung-Talent mit dem Fernseh-Althasen Spinrads auskomme, erfährt man:

„Kein Problem. Er Bringt seine Vorschläge, aber im Grunde gibt es recht wenig Reibungspunkte.“

Sicher ist jedenfalls, daß mit Bentele endlich mal ein junger, musikverständiger Macher am Werk ist, Wie wird „Formel 1″ im einzelnen ablaufen? Spinrads: “ Unsere Sendung beginnt damit, daß alle Aufsteiger und Newcomer der Woche vorgestellt werden- Danach werden die amerikanischen und die englischen Top Ten präsentiert und jeweils ein Titel gezeigt. Das nächste ist der .Formel 1-Tip‘ nach dem Motto: ,Das könnte was werden.‘ Und dann gibts den .Exoten der Woche‘. Das kann was Beknacktes sein wie z. B. die Nummer 40 der siamesischen Hitparade oder ähnliches. Danach: die deutschen Top Ten. Wir schätzen, daß das Live-Video-Verhältms 30/70 betragen wird. Das kann sich von Sendung zu Sendung ändern.“

Spinrads, der während seines Studiums (Kunstgeschichte/Germanistik/Theaterwissenschaften „was man halt so studiert“) als Fotograf der TV-Aufzeichnung eines Schülerkabaretts beiwohnte, dabei einem Fernseh-Redakteur auffiel und vier Wochen später beim Fernsehen volontierte, macht sich laut Gedanken über den Unterschied Live/Video-Sendung:

„Das sind zwei Paar Schuhe. Zum einen gibt’s halt diese Sendungen wie den .Rockpalast‘ oder .Rock aus der Alabamahalle, die mit einer Fußballübertragung vergleichbar sind. Das Femsehen ist in diesem Falle em registrierendes Medium.

Im anderen Fall inszeniert man etwas. Die Sketche m.Bananas‘ waren ja an sich schon wie , Video-Clips‘ aufgezogen, lange bevor Videos zum , Trend‘ erklärt wurden.“

Der Mann, der gerne ißt und trinkt und „Plattenküche“ und „Bananas“ als seine „Kinder“ betrachtet, sieht sich bei „Formel 1“ nur als Redakteur, obgleich er „schon seit fünf Jahren dabei ist. eine solche Sendung nach dem englischen .Top Of The Pops‘-Muster in Deutschland zu etablieren. „

Sehr zufrieden stellt er die einhellige Reaktion auf die „Formel 1“ -Pilotsendung fest: „Es ist eigentlich das erste Mal, daß ein Programm von vorneherem auf allen dritten Kanälen laufen wird. Es ist schon eine kleine Sensation, daß sich die ARD sooo einig ist.“

Und fügt hinzu: „Wenn diese Sendung nicht mindestens 20 Jahre lang läuft, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. Ich würde fast Wetten darauf abschließen, daß .Formel 1’immer noch läuft, wenn ich am Krückstock gehe.“

Zu dieser Vermutung hat er auch allen Anlaß. 1983 als das Jahr des Videos zu deklarieren, ist fast schon eine charmante Untertreibung, Nur zum Vergleich ein paar Zahlen, die auf der diesjährigen Musikmesse „Midem“ ermittelt wurden: bis 1985, so konnte man im Branchenblatt „rundy“ lesen, wird der internationale Tonträger-Umsatz um 17% zurückgehen. Die Erträge ums doppelte.

Ähnlich lapidar notiert man an dieser Stelle die rosigen Zukunftsaussichten des Mediums Video. Dessen Umsätze werden voraussichtlich um 21% zunehmen. Midem-Chef Bernhard Chevry geht sogar noch weiter und betrachtet „Video als Rettungsanker der Plattenbranche“.

Andere Zahlenspiele bestätigen diese Prophezeihung. Videos sind momentan der Renner. Plattenläden, Kaufhäuser und Discotheken locken Kunden und Konsumenten mit den Büdfeuerwerken. Die Firmen „Video Disco“ und „Muvi“ erreichen mit ihrer Mixtur aus Werbung und Musik-Clips Millionen von Jugendlichen. Die „Computer-Mönche“ (so der „Stern“ über die künftige Jugend) legen nicht länger nur Platten auf, sondern wollen Videos, Video- und Fernseh-Spiele. Ob nun amerikanische Medien-Wissenschaftler schon vor Jahren warnten, das Fernsehen würde die „fünfte Wand im Wohnzimmer“ oder sei gar schon der „Kaugummi fürs Hirn“egal, Video boomt, Fernsehen total ist in. selbst wenn die Öffentlich-Rechtlichen abends um elf oder eins das bläuliche Geflimmer einstellen und eine Gute Nacht wünschen.

Spinrads und Bentele liegen also hundertprozentig richtig. Und Peter Illman, der „Formel 1“-Moderator, der sonst im bayerischen „Pop nach Acht“ smalltalkt, dürfte in Bälde die Popularität von Thomas Gottschalk erreichen. Denn „Formel 1“ kommt 1983 ganze 23mal.