Herzattacken


Herz ist Trumpf. Und HEART wieder hoch in den Charts. Daß sie mit ihrer jüngsten LP nochmals ein derart gutes Blatt in die Hand bekamen, hat die Kanadier selbst wohl am meisten überrascht. "Barracuda", ihr letzter Stich, liegt immerhin schon zehn Jahre zurück. Dabei haben Ann (r.) und Nancy Wilson, offenherzig wie eh und je, noch einige Asse im Ärmel.

Der Alptraum jeder erfolgsverwöhnten Rockgruppe wurde für Heart 1983 wahr. Nachdem sie über 15 Millionen LPs abgesetzt hatten, lief plötzlich rein nichts mehr!

Absolut niemand wollte mehr etwas von ihnen wissen: Die 83er LP PASSIONWORKS war ein böser Flop, die damalige Plattenfirma glänzte — jedenfalls nach Meinung der Musiker -— durch Untätigkeit, und auch langjährige Fans wandten sich neuen, unverbrauchten Idolen zu.

Es war der absolute Tiefpunkt in der 14jähriaen Geschichte der Band aus Seattle, die 1976 mit sechs Millionen Exemplaren von DREAMBOAT ANNIE eine der erfolgreichsten Debüt-LPs aller Zeiten vorgelegt hatte. „Wir waren verzweifelt; dieser Absturz kratzte erheblich an unserem Selbstvertrauen. Wir dachten damals, daß niemand mehr unsere Songs hören wollte“, erinnert sich Sängerin Ann Wilson an den kommerziellen Knockout.

Doch es nahte unerwartete Rettung — in Form einer neuen Plattenfirma und einer neuen Management-Company. Die ordneten eine radikale Verjüngungskur an und drückten der Veteranen-Band als Herz-Schrittmacher erst mal ein paar außenstehende Songwriter aufs Auge, die für hitwärts gestylte Songs im Stil der 80er Jahre sorgen sollten.

„Wir hatten zu Beginn unsere Bedenken, aber alle drängten uns in diese Richtung“, erklärt Anns Schwester Gitarristin Nancy Wilson. „Und letztlich haben wir durch die neuen Einflüsse auch eine Menge gelernt.“ Das Rezept ging kommerziell voll auf. Heart erreichten ’85/86 gleich mit drei Songs fremder Autoren Top-Notierungen in den US-Charts („What About Love“, „Never“ und „These Dreams“).

„Natürlich hat uns das, wo wir doch früher unsere Hits selbst schrieben, nicht ganz kalt gelassen“, gibt Ann Wilson zu. „Trotzdem: Es ist nie frustrierend, einen Hit zu haben! Egal, von wem er stammt!“

Das Minus an Tantiemen wurde durch den Verkaufserfolg der jüngsten LP locker wieder ausgeglichen. HEART erreichte in den USA „Doppel-Platin“ -— eine Auszeichnung, die für zwei Millionen verkaufter Alben vergeben wird.

Zwei dieser Edelmetall-Souvenirs wird auch ein Österreicher namens Peter Wolf erhalten (nicht mit dem Ex-J.-Geils-Sänger zu verwechseln), der im kalifornischen Exil immer häufiger herangezogen wird, wenn es darum geht, Oldtimern neues (Synthesizer-)Leben einzuhauchen. Zuletzt mit den Commodores und Starship im Studio, plünderte der ehemalige Zappa-Keyboarder auch für Heart seine Sound-Datenbanken.

„Wir hatten eigentlich schon immer Synthesizer eingesetzt“, meint Nancy, „aber Peter brachte neue Sounds ins Spiel. Er war gerade aus Japan zurückgekehrt und hatte ganze Türme von Synthesizern mitgebracht; im Studio flippte er dann mit seinen neuen Spielzeugen richtig aus. Und davon hat die LP meiner Meinung nach ungemein profitiert.

Trotzdem: Wir sind natürlich eine gitarrenorientierte Bund geblieben! Aber unser Sound hat eine moderne Schärfe erhalten; wir haben beides: Gitarren und Synthesizer. „

Mit der Hilfe des Tastenmanns aus Austria und unter der Regie ihres neuen Produzenten Ron Nevison (der zuvor u.a. mit den Who und Led Zeppelin arbeitete), sind Heart heute in den USA heißer denn je.

Bevor sie jedoch die Früchte des unerwarteten Erfolgs ernten können, heißt es erst mal Ackern. Bis zum Umfallen! Seit einem dreiviertel Jahr touren sie nonstop durch Nordamerika —- die Musiker im Jet, Roadies und Anlage per Truck. 160 Shows standen auf dem bisherigen Tourneeplan, ein Ende ist nicht abzusehen. Denn sind die USA erst mal abgegrast, soll’s direkt nach Japan und Australien weitergehen.

Schauplatz: Huntsville/Alabama, bis zum Zweiten Weltkrieg ein verschlafenes Südstaaten-Städtchen und seit 40 Jahren (dank Wernher von

Braun) „Space Center, USA“. An einem lauen März-Abend quälen sich dort (von Daddy gepumpte) Limousinen und aufgemotzte Pickup-Trucks durch die historische Innenstadt. Heart sind „in town“. Nach drei hit-losen Jahren zieht auch ein doppelter Platin-Act noch einmal durch die Provinz, um sich seinem alten und neuen Publikum zu stellen. Immerhin 6.000 Zuschauer sind in die riesige, wenn auch nicht ausverkaufte Arena des „Von Braun Civic Centers“ gekommen, darunter zahlreiche lärmende GIs („in Kasernen-Städten wird’s halt immer besonders crazy“, klagt ein Tourneebegleiter), aber auch -— jedenfalls für eine Hard-Rock-Show —- überraschend viele junge Damen.

Ja, das ist bei unseren Shows durchaus üblich“, sagt Ann nach dem Konzert an ihrem „day off“ — einem langverdienten freien Tag im „Huntsville-Hilton“. „Wir sind für viele Mädchen in den USA eine Art Schablone: Sie schauen uns an und denken sich: ,Das kann ich auch — wenn die so etwas bringen, packe ich das auch!“

Sister Nancy stimmt zu: „Wir erhalten massenhaft Briefe von Girls, die durch uns dazu inspiriert worden sind, selbst Gruppen zu gründen. „

Die Wilson-Schwestern sind nicht nur auf der Bühne die „Front-Women“, sondern haben auch hinter den Kulissen das Sagen. Ann ist heute das einzige Mitglied, das von der 1963 gegründeten und bald darauf in „White Heart“ umbenannten Ursprungs-Gruppe „Army“ übriggeblieben ist; sie war 1970 in die (damals rein maskuline) Band eingestiegen. Vier Jahre später folgte Nancy, der Name wurde auf „Heart“ verkürzt, und die beiden kalifornischen Schwestern gaben von da an vereint den Ton an.

Haben die drei Heart-Buben (Gitarrist Howard Leese, Bassist Mark Andes und Schlagzeuger Denny Carmassi) durch das band-interne Matriarchat Probleme mit ihrem „männlichen Ego“? Ann druckst ein bißchen herum: „Schwer zu sagen, und eigentlich können sie das auch nur selbst beantworten. Ich möchte es mal so sagen: Sie werden mit dieser Situation fertig, so gut sie können. „

„Wenn du unsere Jungs mit anderen Typen in Bands vergleichst, dann schweben sie im siebten Himmel. Es hat mit der Chemie zwischen uns zu tun: Mit Heart haben sich fünf Leute gefunden, die wirklich exzellent miteinander auskommen“, wirft Nancy ein.

Und Ann: „Die Spannung, die in einer Gruppe zwischen Männern und Frauen existiert, gibt Heat das gewisse Etwas. Die kleinen Meinungsverschiedenheiten wirken sich nur zu unserem Vorteil aus!“

„If Looks Could Kill“ ist zwar der Opener ihrer Show in Huntsville, doch sind Heart auch 1986 weit von einer windkanal-gestylten Fashion-Band entfernt. Live haben sie es —- anders als viele Hardrock-Kollegen -— nicht nötig, mangelnde instrumentale Qualitäten durch optische Knalleffekte wettzumachen. „Wir sind keine hübschen Pappkameraden — wir sind in erster Linie Musiker“, stellt Ann Wilson klar. „Klar, wir versuchen, so gut auszusehen wie möglich, aber unser hauptsächliches Augenmerk gilt der Musik. „

Das Wilson-Duo will Persönlichkeit bieten, nicht plumpen Sex; folglich haben die beiden ihre Probleme mit dem Frauen-Image, das viele Hardrock-Videos vermittelt -— ob es sich dabei nun um willige Liebessklavinnen handelt oder um peitschenschwingende Dominas.

Ann baut dabei auf die Intelligenz der Zuschauer: „Nur weil man ein paar Plastik-Miezen in einem Video sieht, die derartigen Schrott präsentieren, heißt das noch lange nicht, daß wir auch so sind. Wir haben völlig andere Vorstellungen; und da wir auch ein musikalisches Forum finden, haben wir keine allzu großen Probleme mit dem Heavy-Metal-Umfeld. Es sind zwei verschiedene Sachen. „

Und noch einen Unterschied gibt’s zur Hardrock-Konkurrenz: Ann Wilson ist keine „Screamerin“, sondern eine wirkliche Sängerin, die sich auch in Balladen ausgesprochen wohlfühlt.

Die Vorliebe teilt die 34jährige mit Schwester Nancy (32); beide sind schließlich in den Tiefen ihrer Herzen alte Folk-Genossinnen, die ihren allerersten Auftritt ausgerechnet in einer Kirche hatten. „Wir spielten allerdings keine religiösen Lieder, sondern z. B. Songs von den Doors. In den späten 60er Jahren wehte ein liberaler Wind in den amerikanischen Kirchen; trotzdem trieben wir eines Tages die Gemeinde in heftige Gewissenskonflikte: Wir sangen in der Kirche einen Protest-Song von Peter, Paul & Mary; anschließend Elvis ‚Crying In The Chapel‘ mit einer wirklich blasphemischen Choreografie. Die beinharten Gläubigen dampften in Windeseile ab, die Gemeinde teilte sich in zwei feindliche Lager. Es waren unsere Eltern, die das Ganze später ausbaden mußten, denn wir gingen aufs College zurück …“

Die frühen Folk-Einflüsse haben die Wilsons zumindest auf der jüngsten Heart-LP geschickt versteckt. Das soll jedoch alles ganz anders werden, wenn sie einmal solo zuschlagen. Ann schwebt eine Mischung von Rhythm & Blues bis Judy Garland vor, und Nancy will sich noch ausgeklinkter präsentieren: „Ich will auf meiner Platte genausoviel hämmernden Rock ’n‘ Roll wie akustische Musik; eine Heiß-/Kalt-Platte, etwas völlig Konträres. Ich habe sonst nie die Chance, so etwas bis zur letzten Konsequenz durchzuziehen! Heavy Metal auf der einen — und Lauten, Harfen und Mandolinen auf der anderen Seite.“

Und wenn diese künstlerische Selbstverwirklichung erst einmal abgeschlossen ist, dann können sich die beiden Heart-Chefinnen durchaus vorstellen, im Show-Business eine etwas ruhigere Kugel zu schieben. Allzu große Lust, irgendwann einmal als verkalkte Rock ’n‘ Roll-Omas auf der Bühne zu stehen, haben sie jedenfalls nicht.

Nachdem einige Festival-Auftritte in deutschen Landen wegen ständiger Verlängerungen der US-Tournee ins Wasser fielen, gibt es unter Umständen kaum noch eine Chance für die heart-losen Europäer, die Band einmal live zu sehen. Ann und Nancy nämlich fangen an, sich mit dem Gedanken an ein geregeltes Familienleben anzufreunden: „Und das Touren ist dann die Sache, die zuerst verschwinden wird“, kündigt Nancy an.

„Wir haben jetzt zehn Jahre lang getourt. Im Moment macht es zwar noch Spaß, aber in den nächsten zwei, drei Jahren machen wir vielleicht noch eine Platte und eine größere Tournee — das ist alles, was ich sehe. Dein Leben wird einfach humaner, wenn du dich auf die Arbeit im Studio konzentrierst. Du kannst immer noch schreiben und produzieren — ohne dich auf Tournee entnerven zu lassen. „

Nancy spricht’s und bereitet sich seelisch auf das nächste Südstaaten-Nest vor, das Heart am kommenden Tag beglücken werden: Johnson City/Tennessee.