Holger Czukay – Kurzwellensurfer


Für sein neues Album tat sich Holger Czukay mit zwei langjährigen Weggefährten zusammen. ME/Sounds-Mitarbeiter Michael Engelbrecht schaltete das Can-Radio ein und hörte wildes Urgestein.

Das Radio ist wie eine Radar-Antenne, die eine bestimmte Atmosphäre schafft“, erzählt Holger Czukay. „Es kann fürchterlich drauflosplappern, solange man nur bei einem Sender bleibt. Deshalb suche ich die interessanten ,Löcher‘ zwischen den Sendern.‘ ‚Wer einmal auf Kurzwelle auf die Pirsch ging und sich von den seltsamen Klängen aus weiter Ferne, die da durch den Äther wehen, verzaubern ließ, der wird Czukays Hingabe verstehen. Der Can-Man wilderte wie kein anderer Musiker mit dem Weltempfänger im exotischen Dickicht der kurzen Wellen, und so verschaffte er dem Radio einen Ehrenplatz unter den Instrumenten der Rockmusik. „Die Kurzwelle“, so der radio-aktive Czukay. „ist ein einziges großes Generatorfeld, die Milchstraße der Klänge.“

Czukay nennt sein neues Werk, das Anfang Februar erscheinen soll, passenderweise RADIO WAVE SURFER. Es stellt die dunklen, anarchischen und wilden Aspekte seiner Musik in den Vordergrund — zur Abwechslung belebt der „Karl Valentin der deutschen Rockmusik“ mal wieder den ungestümen Geist der frühen Can-Jahre. Und das verwundert nicht, denn von der legendären Formation sind Gitarrist Michael Karoli und Drummer Jaki Liebezeit mit von der Partie.

„Die Platte entstand ganz spontan als Projekt der Band“, merkt der Kurzwellenreiter an. „Da passierte genau das, was wir alle zu Can-Zeilen gelernt haben: Das floß spontan aus uns heraus. Und wenn du ein guter Musiker bist, dann findest du dafür auch eine passende Form — sonst gibt ’s nur Chaos. Wirklich tolle Musik ist einmalig und unwiederholbar.“ Als Czukay und seine Can-Kumpels in einer überfüllten Berliner Konzerthalle und in einer großen leeren Frankfurter Messehalle die neuen Aufnahmen machten, standen die Sterne äußerst günstig: „In Frankfurt spielten wir um drei Uhr morgens. Der Mixer war schon müde nach Hause gegangen. Deshalb habe ich selbst wie ein Wünschelrutengänger den richtigen Ort für das Mikrophon gefunden — und dann haben wir ohne irgendwelche Absprachen einfach losgelegt. „

Wie bitte — nur ein Mikrophon? Holger Czukay bestätigt das unkonventionelle Aufnahmeverfahren und bezieht sich dabei auf die Frühzeit des Radios: „Damals mußte alles live über den Sender gehen. Im Unterschied zu den angelsäclisischen Ländern, wo fast jeder Musiker ein eigenes Mikrophon bekam und das Ganze dann am Mischpult zusammengeführt wurde, bestand .die gute deutsche Art‘ darin, mit einem einzigen Mikrophon zu arbeiten. Dabei kam man zu erstaunlich guten Ergebnissen.“

Und nun griff Holger wieder auf die raffiniert einfache Prozedur zurück. So entstand der ungeschliffene, rauhe Sound von RADIO WAVE SURFER. Dabei kam er für seine Verhältnisse mit nur wenigen Schnitten aus. Auf seinen ersten Soloalben MOVIES (1979) und ODE TO THE PEAK OF NORMAL (1981) zerlegte der „Frankenstein des digitalen Zeita//era“(Czukay über Czukay) seine Musik am häuslichen Operationstisch noch mit Hilfe diverser Tonbandmaschinen und Schneidemesser in tausend Einzelteile, um die dermaßen atomisierten Aufnahmen neu zusammenzusetzen. RADIO WAVE SUR-FER wirkt im Vergleich wie wildes Urgestein; Czukay leistet sich keinen nostalgischen Reflex auf alte Zeiten. Aber er versteht sich blind mit Karoli und Liebezeit.

Auf dem Album gibt es ein langes Stück mit dem Titel „Saturday Night Movie“, in dem sich der Sänger Sheldon Ancel zu Czukay. Liebezeit und Karoli gesellt. Mit seiner dunklen, vibrierenden und „verdammtguten Radiostimme‘ ‚(Czukay über Ancel) hört er sich mitunter völlig leer und ausgebrannt an — als brauche er die Adrenalinstöße der Band, um nicht am Mikrophon einzuschlafen. Das weckt Erinnerungen: Ancel erreicht die gleiche Intensität wie Malcolm Mooney, der erste Can-Sänger, der Ende der 60er Jahre auf dem Debütalbum MONSTER MO-VIE stöhnte und raspelte.

Und wer Czukays Faszination beim Radiowellenreiten hautnah nachempfinden möchte, der sollte sich am 18. Februar von 0.05 Uhr bis zwei Uhr morgens in den Deutschlandfunk einklinken, wenn der Meister des 49-Meter-Bandes in der Sendung „Klanghorizonte“ nach Jahren wieder live zu hören ist.