Hurricane von Grace Jones


Lifecasting nennt sich die Kunst, mit der Grace Jones‚ Kopf (8 x), Arme (10 x) und Hände (auch 10 x) für dieses Artwork in Schokolade gegossen wurde. John Schoonraad (siehe Bild), neben Nick Reynolds der hier federführende Künstler, erklärt den Ablauf:, Zuerst mussten wirGraces Abdrücke nehmen, dann füllten wir die Guss formen mit geschmolzenem Plastilin. Mein Sohn Tristan (ein in der Filmindustrie sehr angesehener Skulpteur;Anm. d. Red.) meißelte die offenen Augen in den Guss. Dann bastelten wir daraus Formen, in die die Schokolade gegossen werden konnte, und schickten diese in die Schokoladenfabrik (Thorntons im britischen Derbyshire;Anm.d. Red.).“ Die ursprüngliche Ideefürdas Projekt entstammt der Gedankenwelt des britischen Graffitikünstlers Banksy. Wenn Nick Reynolds nicht gerade Totenmasken bastelt, spielt er Mundharmonika bei der humoristisch ausgerichteten (ausgerechnet!) britischen Electronica-Country-Band Alabama 3, deren Song „Woke Up This Morning“ als Titelmelodie der Serie „Die Sopranos“ diente. Darüberhinaus ist Reynolds Sohn des berüchtigten Bankräubers Bruce Reynolds, der 1963 mit einer mehrköpfigen Diebesbande den königlichen Postzug von Glasgow nach London überfiel und diesen um 120 Geldsäcke mit umgerechnet 50 Millionen Euro erleichterte.

Warum ausgerechnet Schokolade?Tom Hingston. Chef derfür die Realisation des Projekts zuständigen Hingston Studios: „Wir dachten an alle möglichen Industriezweige, die Objekte in großen Mengen produzieren: an Autohersteller, Möbelmacher und Töpfereien. Doch die vielen Konnotationen, die eine aus Schokolade gegossene Grace Jones auszulösen uermag, gaben dann den Ausschlag.“

Über die Bedeutung der Bilder gehen die Einschätzungen der Beteiligten auseinander: Laut Reynolds ist „das Ganze nicht mehr als ein elegantes, surreales Bild“. Er habe „zumindest noch uon keinem tieferen Sinn gehört“. Nun, dann hat er sich wohl nie mit Tom Hingston unterhalten. Der sieht hier durchaus ein durchdachtes Konzept: „Unsere Grundidee wareine Massenproduktion uon Grace-unter ihrer eigenen Kontrolle, mitihrals Fabrikarbeiterin (siehe kleines Bild). Das soll das Eigentumsrecht an der eigenen Identität ausdrücken.“ Für das Foto zeichnet Jonathan de Villiers, in Kunst-und Modekreisen für seinen Hang zum Normbrechen gefeiert, verantwortlich. Seit Jahren mit Jones befreundet, stellte er den Kontakt zu Schoonraad her, nachdem er von dessen Ruf als weitbestem Lifecaster gehört hatte.

Die Artworks ihrer Platten sind Übermodel Jones erwartungsgemäß „sehr wichtig. Ich komme ja von der Bühne. Optik hat daher immer schon eine große Rolle in meinem Leben gespielt Meine Mutter war außerdem Näherin, und sie brachte mir uon klein auf alles bei, was man für diesen Beruf brauchte“ Außerdem habe ihre streng religiöse Heimat Jamaika ihre visuelle Vorstellungskraft stark bereichert: „Ich bekam einfach sehr schnell mit. dass dort außer Schule und Kirche nicht viel passierte. Ich musste diese Blase zum Platzen bringen. Allerdings tat ich das anfangs noch sehr im Geheimen: Sobald ich allein zu Hause war, schminkte und uerkleidete ich mich!‘ Im Lauf ihrer über 35jahre im Rampenlicht arbeitete Jones mit Design-und Kunstlegenden wie Andy Warhol und Keith Haring zusammen.

John Schoonraad und Reynolds unterhalten die Firma Memorial Casts, die sich auf die Produktion von Totenmasken spezialisiert hat. Freunden und Familien will man mit dem Abguss von wahlweise Kopf oder Händen ihrer Verstorbenen die Möglichkeit geben, „die Zeit, die man gemeinsam hatte, zu feiern“, wie es auf der Homepage des Unternehmens, www.memorialcasts.com, heißt. Die Körperteile können dabei mit einer Vielzahl von Materialien wie Gips und Bronze nachgebildet werden. Auf Wunsch kann sogar die Asche des der Toten in den Guss eingearbeitet werden. Jones ist aber beileibe nicht das erste lebende Objekt, an dem die beiden arbeiteten. So hat Schoonraad in den überzwanzigjahren seines Schaffens bereits Künstlerwie Björk und Robbie Williams „gelifecastet“.

Die Kollaboration mit der so gern als Diva verschrieenen Jones verlief laut Reynolds „absolut fantastisch. Wiralle waren natürlich anfangs sehr skeptisch -Grace hat eben diesen bestimmten Ruf. Aber sie war brillant und sogar extrem lustig. Ein sehr professionell arbeitender Mensch. Wiruerstanäen uns sogar so gut, dass wir nächstes jähr wieder zusammenarbeiten wollen: Und zwar soll dann ihr ganzer Körper nachgebildet werden. Wirmöchten dasCouerzu ihrer Platte Island lifc nachstellen. Außerdem hat sie mich gebeten, bei ihrem nächsten musikalischen Projekt mitzuwirken.“

Jones liebt Schokolade: „Ich kann sie aber nicht essen, weil ich davon Pickel bekomme. Während des Shootings hat mich der Vorarbeiter allerdings so mit dem Zeug zugestopft, dass ich mich nicht mehr wehren konnte. Allein der Geruch hat mich regelrecht abhängig gemacht – ich wollte mit der Session gar nicht mehr aufhören“, sagt sie. Nie um sexuelle Anspielungen verlegen, wollte Miss jones während eines Besuchs in der Show des britischen Comedian Jonathan Ross ebenjenen an einem der Schokoköpfe lecken lassen. Zum Glück für Ross (die Replikate waren mit einer ungenießbaren Chemikalie überzogen, um ihnen mehr Glanz zu verleihen) hatte sie das zu leckende Objekt aber in den Studiokulissen verlegt. Um die Situation zu retten, presste Ross seine Zunge an Jones’Real-Life-Wange. Die Objekte wurden mittlerweile im Rahmen der BBC-Charity-Show „Children in Need“ versteigert. Reynolds bekam keins davon ab, obwohl ihm „das uersprochen wurde“, wie er beklagt.

ALBUMKRITIK ME 11/08