Ihre letzte Zigarette


Seine Schritte hallten in dem langen Korridor wider. Er fand keinen Lichtschalter. Nur mühsam konnte er die Zimmernummern an den Türen erkennen. 54 – 53 – 52 – das war total falsch. 32, hatte Birgit gesagt. Vielleicht sollte man mal jemanden fragen, überlegte er. Er stand vor Nummer fünfzig, als sich die Tür des Zimmers öffnete. Ein Mädchen trat heraus auf den Flur. Sie hatte eine Kaffeekanne und einige Tassen in der Hand und wollte damit offensichtlich in die Küche. Die Zeiten sind lange vorbei . „Entschuldigen Sie . . .“ Sie biieb stehen. „Ja?“. „Ach können Sie mir sagen, wo Nummer 32 …“ Er stockte, glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das war Corinna! Oder sah sie ihr nur ähnlich? Er wischte sich mit der Hand über die Augen. In diesem Moment schien auch sie ihn zu erkennen. „Mensch, Erik“, sagte sie. „Ich dachte erst, Du wärst es nicht“, das war das Einzige, was er in seiner Verwirrung von sich geben konnte. „Kann ich mir vorstellen. Nun komm erstmal rein.“ Sie ging vor ihm ins Zimmer zurück und stellte die Kaffeekanne und die Tassen wieder auf den Tisch. Er blieb stehen und sah sich im Raum um. Klein, aber hübsch. Hellblauer Plüschteppich und dunkle Rosen in einer Vase auf dem Fußboden. „Wie kommst Du hierher?“ fragte sie .“Ich wollte meine Freundin besuchen. Sie wohnt erst seit einigen Tagen hier im Zimmer 32. Deshalb fragte ich“. „Ach ja! Da ist eine Neue eingezogen. Heißt sie nicht Birgit?“. Er nickte „Kennst Du sie?“ „Nein, nur flüchtig. Sie ist nicht der Typ, auf dessen Bekanntschaft ich Wert lege. Aber das ist ja egal. Es ist erstaunlich, wie klein die Weit ist. Ich hatte nicht damit gerechnet. Dich jemals wiederzusehen.“ „Und Du?“ fragte er, „wie kommst Du

hierher?“ ,,Ich wohne hier im Studentenheim.“ „Sag‘ bloß. Du studierst?“ „Ja“.

Erst jetzt ließ er sich auf einen Sessel nieder. ,,Das ist ja nicht zum Aushalten. Das darf einfach nicht wahr sein Du — ausgerechnet Du!“ Sie lächelte ein bisschen. ,,lch habe Whisky da. Möchtest Du einen Schluck?“ ,,Aber ja.“

Sie goss zwei Teetassen halb voll Whisky und schob ihm eine zu. „Ich habe keine Gläser“, entschuldigte sie sich. Er grinste.

,,Es gab Zeiten, Cora, weißt Du, da haben wir Milch aus einer Konservendose getrunken „ja, aber die Zeiten sind lange vorbei “ ,,Ja —“ sagte er gedehnt, ,,die Zeiten sind lange vorbei.“

Kalte Nächte an der Ostsee

Ja, die Zeiten waren vorbei, in denen Corinna und er und acht andere Leute abends in ihrem aus Ponchos gebauten Zelt hockten und das flackernde Windlicht in ihrer Mitte tanzende Schatten gegen die Zeltwand warf. Er sah diese Bilder wie Szenen aus einem Film vor seinen Augen vorüberhuschen, bunt und fern: Johnnie und Pit, die im Morgengrauen loszogen, um Frühstuck zu holen — Willi, wie er da auf einem Baumstamm saß und mit einem stumpfen Taschenmesser Brötchen zersägte — Uschi die sich einen kleinen Taschenspiegel an einen Baum klebte, um sich davor zu kämmen — Und dann die langen, kalten Nächte . . . „Bist Du jemals wieder an der Ostsee gewesen?“ fragte sie in seine Erinnerungen hinein. ,,Nein“, sagte er,“ich habe auch Johnnie und Pit und die anderen nie wiedergesehen Es bleibt meistens nicht viel übrig von so einer Gammlerromantik.“ Sie nickte gedankenverloren. „Ich wette, dass nach den Ferien alle von uns wieder zur Arbeit oder Schule gegangen sind Ich glaube nicht, dass auch nur einer weitergegammelt hat.“

Du weißt, wir hatten uns vorgenommen, im Winter nach Afrika zu trampen und im Sommer nach Schwedeni“

Niemand wird je in Afrika angekommen sein. Möchtest Du noch Whisky?‘ Er nickte. Während sie zwei weitere Whisky eingoss, registrierte er, dass sie ein Kleid trug. Zwar mini, aber immerhin Kleid. Er hatte sie nur in Jeans gekannt — mit Parka oder Lederjacke. Sie war ein anderer Typ gewesen, damals wenigstens äußerlich.

Verrückte Sache! Er dachte an diese verregnete, kalte Nacht, in der sie ihm ihre letzte Zigarette geschenkt hatte. Er war verblüfft gewesen über diese Geste und gleichzeitig begeistert. Später erst, als sie nach Kopenhagen weitergezogen war, hatte er angefangen, sie zu suchen. Er war ihr vergeblich in den Norden gefolgt und hatte weiterhin genauso verzweifelt wie erfolglos die Küstenorte abgesucht. Auf seiner Suche nach Corinna hatte er andere Mädchen getroffen, die ihn davon abgelenkt hatten, weiterzusuchen. Aber es war keine darunter gewesen, die ihm ihre letzte Zigarette gegeben hatte. Corinna wanderte im Zimmer auf und ab. Sicher besitzt sie gar keine Jeans mehr, dachte er. Sie hatten zusammen gefroren, damals, und in nassen Schuhen und nassen Parkas geschlafen — aber das war lange her. Er vermisste sie, seine Cora, obwohl sie ihm jetzt gegenüberstand. ,,Du wolltest Deine Freundin besuchen, Erik“, sagte sie unvermittelt. „Warum sagst Du das?“ „Sie wird au f Dich warten“.“Ach so, ja, das wird Sie.“ „Warum eigentlich ist sie nicht der Typ, den Du kennenlernen mochtest? ..Sie ist kühl. Man bekommt keinen Kontakt mit ihr. Mag sein, dass Du mit ihr was anfangen kannst. Aber das ist nicht meine Sache „

Er schwieg einen Augenblick. „Gut,“ sagte er dann, „das ist nicht Deine Sache. Früher übrigens hattest Du so etwas nicht gesagt. Alles, was meine Sache war, war auch Deine. Das fand ich so gut an Dir. Du warst große Klasse. Cora, Du warst so unheimlich kameradschaftlich und so irrsinnig süß, dass ich nachts nicht schlafen konnte, wenn ich an Dich dachte. Ich hatte Dir das damals eigentlich sagen wollen, aber ich habe es dann vergessen. Ich meine, ich habe vergessen, Dir das zu sagen.“ Sie antwortete nicht. Er wusste selbst nicht, was er von ihr erwartete. Sie wühlte in einem Stapel Platten herum, zog eine daraus hervor und legte sie auf. Stones. „Yesterday don’t matter if it’s gone – das Gestern spielt keine Rolle mehr, wenn es vorüber ist – Good bye, Ruby Tuesday.“ Sie stand unbeweglich vor dem Plattenspieler und reagierte nicht. „…Gut“, sagte er,“dann werde ich jetzt gehen.“

Ein Lächeln mit den Augen

„Hallo“, sagte er.

Indische Räucherstäbe glommen in einer Glasvase stumm vor sich hin und verbreiteten einen angenehmen, lieblichen Geruch von Lotusblüten im Raum. Das Tonbandgerät gab Bob-Dylan-Philosophien von sich. Birgit lag auf ihrer Couch und las Smart, dachte er.

Er setzte sich zu ihr und fing in ruhiger Systematik an, ihren Nacken zu kraulen. Sie fragte nichts. Sie drehte sich halb um, sah zu ihm und lächelte. Das Lächeln lag auf ihrem Gesicht, nicht in ihren Augen. Vielleicht ist sie wirklich kühl, und ich Idiot merke es nicht, dachte er. Ach. egal Der süße schwere Duft der Räucherstäbe betäubte ihn. Er war bereit, sich betäuben zu lassen.

Birgit stand auf und goss zwei Gläser voll Whisky. Sie goss Gläser immer voll — egal ob es sich um Bier handelte oder Whisky. Sie machte da keine Unterschiede. Der Whisky entzückte ihn. Birgit setzte sich wieder neben ihn und legte ihren Kopf auf seine Knie. Er trank das halbe Glas mit einem Schluck. Der Gedanke an Cora nervte ihn. Er hatte sie wie ein armer Irrer gesucht! Das Gestern spielt keine Rolle mehr, wenn es vorüber ist? Sie hatte ihm ihre letzte Zigarette gegeben Das spielte eine Rolle. Er schob seine Hand unter Birgits Kopf und betrachtete sie. Sie hielt seinem Blick nicht stand. Ihre Augenlider flatterten ein bisschen, sie setzte sich ruckartig auf. Er drückte sie mit den Schultern wieder auf die Couch hinunter und beugte sich über sie. Mechanisch legte sie die Arme um seinen Hals. Leere Routine. Als er sie küsste. wusste er, dass er sich von ihr trennen wurde, und er wusste auch, dass sie ihn gehen lassen würde, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie würde lächeln — nur mit den Lippen, nicht mit den Augen Er würde beim Schließen der Tür schon seinem Nachfolger die Klinke in die Hand geben! Seine Schritte hallten in dem langen Korridor wider. Vor Zimmer fünfzig blieb er stehen. Die Tür wurde von innen geöffnet bevor er klingeln konnte. „Mensch Erik“ sagte sie. „Mensch Cora“ „Warum kommst Du?“ fragte sie unsicher. „Ich wollte Dir noch sagen, dass ich Dich monatelang gesucht habe.“

„Und Birgit?“ wandte sie ein. Sie hatte ich nicht gesucht. Es hatte sich nicht gelohnt. Ich habe Dich jetzt also gefunden, und ich wollte Dich fragen was ich tun muss, um Dich zu halten. „Kaffee kochen“ sagte sie. Er lehnte sich gegen die Wand und lachte. In Gedanken sah er Cora auf ihrem Parka hocken und ihre alten Witze machen, er sah Johnnie Zigaretten drehen und Uschi weiße Mause dressieren, aber er vermisste all diese Dinge jetzt nicht mehr.