In der Sackgasse?


Dinosaurier, zwei Vulkanausbrüche, Fledermäuse in Gummianzügen, viele Präsidenten mit Dreck am Stecken und einer, der zupackt, Schwerverbrecher in Flugzeugen und, immer und immer wieder, Außerirdische-, mal witzig („Mars Attacks!“), mal bedrohlich („Alien – Die Wiedergeburt“), mal bildschön („Das fünfte Element“), mal tödlich („Starship Troopers“), mal knuddlig („Men In Black“), aber Hauptsache extraterrestrisch. So hatte sich Hollywood ein unterhaltsames Kinojahr ausgemalt – und dabei einmal mehr an die eigene Geldtasche als die Unterhaltung der Zuschauer gedacht. Bei der Oscar-Verleihung im vergangenen März bekamen die großen Studios dann die Rechnung präsentiert: Mehr als 20 Statuetten gingen an unabhängige Produktionen („Der englische Patient“, von einem großen Studio abgelehnt und dann von einem Indie gedreht, wurde neun Mal ausgezeichnet), nur fünf blieben den Majors. Die Lektion: Wer Filme hauptsächlich dreht, um massentaugliche Konzepte zu verkaufen und nicht Ideen, der steuert auf den kreativen Bankrott zu. Zu Beginn des Jahres hatte es Gerald Levin, Chairman des Industriegiganten Time Warner, nicht einmal mehr für nötig befunden, seinen öden Effekteritt „Space Jam“ als Film zu bezeichnen: Das Aufeinandertreffen von Bugs Bunny und Michael Jordan sei vielmehr „ein Merchandising-Ereignis“. Acht Monate und etwa ein Dutzend 100-Millionen-Dollar-Produktionen später klang der Tenor bei den Studios schon anders. Zu diesem Zeitpunkt waren zwei alberne Filme über Vulkanausbrüche, „Dante’s Peak“ und „Volcano , bereits wieder aus den Kinos gelacht worden, „Speed 2“ bereitete den Bossen von Fox Kopfzerbrechen, und Warner sah mit dem kampfmüden „Batman & Robin“ trotz des Auftritts von Arnold Schwarzenegger das Ende einer Filmreihe nahen, die dem Major seit 1989 Umsätze in Milliardenhöhe beschert hatte. Let’s kick some ice? Von wegen!

Oh Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!

Die Angst in Hollywood war geradezu greifbar: Man müsse wieder Vernunft einkehren lassen, beschworen Insider die Entscheidungsträger in La-La-Land. MGM-Produktionschef Larry Gleason zeigte sich gar froh, daß seine Company aufgrund endloser Strukturierungsprobleme in diesem Jahr eine Nullrunde einlegen durfte: „Wenigstens mußten wir uns nicht wegen eines 100-Millionen-Dollar-Films die Köpfe einschlagen. Im nächsten Jahr werden die Budgets wieder vernünftiger aussehen.“ Er sollte sich da nicht zu sicher sein. Denn so lange nur ein Bruchteil der am Reißbrett konzipierten „Ereignisfilme“ ihr Publikum findet, wird Hollywood nach weiteren Events suchen (im nächsten Jahr stehen neben „Titanic“, dem teuersten Film aller Zeiten, mit „Lost In Space“,“Armageddon“,“Saving Private Ryan“ und „Godzilla“ wenigstens fünf weitere teure Filmmonster auf dem Programm). Daran wäre nichts weiter auszusetzen, würde es Hollywood seinen richtigen Filmemachern nicht immer schwerer machen, Stoffe und Ideen umzusetzen, die das Publikum herausfordern, neue Blicke auf vermeintlich Altbekanntes zulassen und den Zuschauer nicht mit einem mühselig mit Popcorn gestopften Loch im Kopf aus dem Kino entlassen. Da mußte ein Martin Scorsese, Regisseur von Filmen wie „Taxi Driver“ und „GoodFellas“, Klinken putzen, um sein Dalai Lama-Projekt „Kundun“finanziert zu bekommen. Altmeister Robert Altman sah sich im Clinch mit den Managern von Polygram, denen seine Grisham-Verfilmung „The Gingerbread Man“ nicht gefiel und die den Film hinter dem Rücken des Regisseurs umschneiden lassen wollten, um ihn für ein breites Publikum goutierbar zu machen. Der Balanceakt zwischen Kunst und Kommerz, Vision und Blockbuster war 1997 delikater als je zuvor. Im gegenwärtigen Klima ist es schwieriger denn je, grünes Licht für riskante Projekte zu bekommen, deren Inhalt sich nicht in einem Nebensatz zusammenfassen läßt. Allem, was fremd und neu ist, steht Hollywood skeptisch gegenüber. Angesichts der steigenden Vermarktungskosten setzt man lieber auf abgetakelte Filmreihen oder leicht wiedererkennbare Konzepte: Da weiß man, was man hat. Es bedurfte schon eines zugereisten Filmemachers aus Asien, um den Studios zu zeigen, daß auch Blockbuster voller Seele und Leben sein können und hohe Budgets nicht von vornherein auch Originalität und künstlerischen Wagemut ausschließen. John Woos „Face/Off-Im Körper des Feindes“ ist ein wahnwitziger Trip, der das Duell zweier Erzfeinde auf die Spitze treibt, indem sie unfreiwillig die Identitäten tauschen müssen. Wie Woo pausenlos die Perspektive wechselt, mit den Sehgewohnheiten des Zuschauers spielt und ihn ohne Atempause in sein absurdes Szenario involviert, während er gleichzeitig ein Actionfeuerwerk ohne Beispiel abbrennt, das ist gleich mehrere Universen von den handelsüblichen „Stirb Langsam“-Klons entfernt. Das Wasser reichen konnte „Im Körper des Feindes“ bestenfalls „LA. Confidential“, Curtis Hansons wundersam effektive Verfilmung von James Ellroys labyrinthischen Kultroman „Stadt der Teufel“. Wie „Der englische Patient“ ruft dieser teuflische Thriller Erinnerungen an eine glamourösere Filmära hervor, ohne im Ansatz retro zu wirkemThema und Erzählstil sind atemberaubend kontemporär und zeitlos gut. Fast ist man bereit, für solche Meisterwerke ein weiteres Jahr mit Filmen über Außerirdische über sich ergehen zu lassen – wenn’s denn sein muß.

Fürchtet Euch gefälligst!

Aber das ist der Zeitgeist kurz vor dem Jahrtausendwechsel: Angetrieben von „Akte X“-Skeptizismus und dem „Star Wars“-Revival (die Success-Story des Jahres; die überarbeiteten Versionen der Ur-Trilogie schlugen alle Kassenrekorde, eine neue Trilogie hat SW-Vater George Lucas derzeit in Produktion) scheint der Öffentlichkeit kein Thema heißer unter den Nägeln zu brennen, als die Frage, ob wir denn nun allein im Universum sind oder nicht. Eine Frage, die auf perfidere Weise auch der Horrorfilm stellt, der 1997 ein unerwartetes und bislang erfreuliches Comeback feierte: Wes Cravens ökonomisch-cleverer Slasher „Scream-Schrei!“ und der herrliche Trash „Anaconda“ gaben nur den Startschuß. Im nächsten Jahr folgen „I Know What You Did Last Summer“ (in den USA bereits der erfolgreichste Film der Herbstsaison) und „Scream 2“, ein Horrorsequel, das explizit über den Unsinn von Horrorsequels ablästert. Be very afraid!

Und es gibt sie doch: die Perlen ’97

Es mag schwerer gewesen sein, in diesem Jahr die Perlen zu finden, aber die Suche nach den unberechenbaren Stoffen, die ein Filmjahr mit prallem Leben füllen, hat sich wie immer gelohnt. Während in den Multiplexen Jim Carrey versuchte, sich in „Der Dummschwätzer“ selbst k.o. zu schlagen, und Steven Spielberg in dem enttäuschenden „Vergessene Welt“ wieder mal seine Dinos von der Leine ließ (die Wohnwagen-Szene, in der Julianne Moore auf einer zerbrechenden Glasplatte über einem Abgrund liegt, sollte dennoch erwähnt werden – sie war eine der besten des Jahres), konnte man im kleinen Kino ums Eck Filme wie Scott Hicks‘ „Shine“ über Genie und Wahnsinn des Konzertpianisten David Helfgott, Billy Bob Thorntons „Sling Blade“ über einen einfachen Mann, der sich zum Mord getrieben sieht, um einem kleinen Jungen ein besseres Leben zu ermöglichen, George Armitages herrliche schwarze Thrillerkomödie „Ein Mann, ein Mord“ um einen Lohnkiller in der Midlife-Crisis, David Lynchs wahnwitziger Psychoterror „Lost Highway“, Lynne Stopkewichs Nekrophilie-Romanze „Kissed“, den kulinarischen Genuß „Big Night“ oder den tschechischen Herzensbrecher „Kolya“ entdecken. Zum Kulthit der Saison schwang sich Baz Luhrmans innovative Neuerzählung von „William Shakespeares Romeo & Julia“ auf, während Cameron Crowes moderne Yuppie-Abrechnung „Jerry Maguire – Spiel des Lebens“ mit Tom Cruise der US-Blockbuster war, den in Deutschland niemand sehen wollte. Ein echtes Versäumnis. Das gleiche gilt für „Larry Flynt-Die nackte Wahrheit“: Milos Formans Satire über den Lebensweg des „Hustler“-Herausgebers hatte genug Witz, Intelligenz und Subversivität, um es mit dem US-Elaboraten von Roland Emmerich und Wolfgang Petersen (der mit dem unsäglichen „Air Force One“ regelrecht schockierte), den großen deutschen Aushängeschildern in Hollywood, aufzunehmen.

Kleine Rrschlöriier und Hirngespinste

Immerhin mußten die beiden nicht miterleben, wie sich die deutsche Branche heuer gegenseitig emphatischer auf die Schulter klopfte, als es sich die großen amerikanischen Vorbilder jemals trauen würden: Man mußte doch den von der hiesigen Presse heraufbeschworenen Boom des deutschen Films feiern – und keiner wollte nicht daran teilgehabt haben. Daß es sich dabei, zumindest bisher, doch eher um ein Hirngespinst handelt, wurde freundlich unter den Tisch gekehrt. Zugegeben, in den ersten vier Monaten des Jahres sorgten „Rossini“, „Knockin’On Heaven’s Door“ und „Das kleine Arschloch“ dafür, daß die Kassen ordentlich klingelten und die übermächtige amerikanische Konkurrenz kurzzeitig schlecht aussah. Aber man müßte kein kleines, sondern eher ein etwas größeres Arschloch sein, zu behaupten, das sei bereits ein Zeichen dafür, daß es mit dem deutschen Film qualitativ bergauf geht. Den wirklich sehr gelungenen „Rossini“,Tom Tykwers „Winterschläfer“ und Rainer Kaufmanns „Die Apothekerin“ einmal ausgenommen, ließ nur wenig darauf schließen, daß man in Deutschland bald ein neues Kinowunder erleben darf. „Knockin’…“ war bestenfalls eine halbherzig als Tarantino light getarnte Macho-Fantasie, in der weder mit Worten noch mit Pistolen tödlich geschossen wurde, „Bandits“ wiederum präsentierte sich als eine halbherzig als „Thelma & Louise“ light getarnte Mädchen-Fantasie, in der weder Drehbuch noch Musik über Workshop-Niveau herauskamen, „Das kleine Arschloch“ qualifizierte sich als Strichmännchen-Zeichentrick weit unter Workshop-Niveau, und „Ballermann 6“ hatte schlicht und einfach gar kein Niveau, ey. Und wartet erst einmal ab, bis „Widows“ und „2 Männer – 2 Frauen – 4 Probleme?“ in die Kinos rauschen, um dem tot gehofften Genre der deutschen Beziehungskomödie zu neuem Zombie-Leben zu verhelfen. Brrnrrr!!! Hollywood-Standard erreichen derzeit nur die Egos der endlos gehypten Stars des neuen deutschen Films: Zickig, überheblich und unprofessionell stellten sich Damen und Herren, deren Namen hier ungenannt bleiben sollen, der Presse, um darüber zu lamentieren, Deutschland würde seine Stars nicht lieben.

Briten im Kreotiurausch

Sie sollten sich ein Beispiel nehmen an den europäischen Kollegen aus Großbritannien, das sich nach dem Adrenalinstoß von „Trainspotting“ im Kreativrausch wiederfindet, ohne sich deshalb für die größte Filmnation der Welt zu halten. Angeführt von „Ganz oder gar nicht“, dem mittlerweile erfolgreichsten britischen Film aller Zeiten, verband die Garde junger Filmemacher Witz und Einfallsreichtum mit einem Auge für soziale und politische Realitäten zu Filmen, die, finanziell gesehen, klein waren, aber immer große Wirkung zeitigten: „Brassed Off“, „Shooting Fish“, „Face“ und „Nil By Mouth“ (letztere beiden bei uns erst 1998) rütteln nicht an den Grundfesten des Film, sind einen Kinobesuch mit anschließender Diskussion aber allemal wert. Wirklich groß dachte 1997 in Europa nur Luc Besson, der sich die teuerste nichtamerikanische Produktion aller Zeiten auf die schmalen Schultern lud – und einen Volltreffer landete. Legte Science Fiction made in USA dieses Jahr bestenfalls die Stirn in Falten („Contact“) oder nahm sich als Anlaß, um zu zeigen, was im Bereich der Computereffekte schon wieder alles möglich ist („Men in Black“), ließ Besson seinem kindlichen Spieltrieb vollen Lauf: Sein Film ist ein Triumph der Fantasie, ein Farben- und Bilderrausch, der auch die erinnerungswürdigste Filmfigur des Jahres schuf. Daß die Dreadlock-Pippi-Langstrumpf Leeloo (Milla Jovovich) allerdings kaum ein Wort sagen durfte, mag wiederum als Indiz dafür gelten, daß 1997 sicherlich nicht als Filmjahr der Frau in die Annalen eingehen wird. Vielmehr war es das Jahr, in dem Hollywoods Anything-goes-Philiosophie kurz vor dem Crash mit der massiven Wand der Kreativ-Sackgasse stand und die Geschichten hinter der Kamera spannender wurden als die Stories, die davor erzählt wurden. Fortsetzung folgt…