JAHRHUNDERT-MUSIKER


FELA KUTI

46 RE-RELEASES

Knitting Factory/Rough Trade

Afro-Beat: Die bislang umfangreichste Werkschau des Nigerianers. Oder: Die Entdeckung des Polyrhythmus für die Popmusik unter Berücksichtung von Erlöserpathos und Protestkultur.

Wie viele Alben waren es wohl? 50,60 oder sogar mehr? Das Gesamtwerk Fela Kutis darf man sich als einen wild wuchernden Organismus vorstellen, in dessen Blutbahnen Polyrhythmik, Pathos und Protestkultur frei zirkulierten. Was der Propagandist und Saxofonist Kuti auf Schallplatte pressen ließ, vermittelte eine Ahnung von den tranceartigen Improvisationen, die er mit seiner Bigband im Club „Shrine“ produzierte. Seine Einflüsse reichen bis weit in den HipHop und die elektronische Musik dieser Tage. Ihrem Urheber wird das Charisma eines panafrikanischen Messias zugeschrieben, grotesker Sexismus, die Furchtlosigkeit eines Volkshelden, nicht zuletzt die Erfindung des Afrobeat. Sein Tod im August 1997 setzte ein Zeitzeichen, die Geschichte Kutis, die kaum über jazzaffine Spezialistenzirkel hinaus erzählt worden war, wollte nun fürs gemeine Pop-Volk ausgebrütet werden. Eine Heldenstory aus dem Epizentrum der „Back To Africa“-Bewegung, ausgerollt auf einem fulminanten Swing-Teppich aus der Produktion von Kutis Zeremonienmeister Tony Allen.

Das Ende der Ära Kuti war der Startschuss für ein Rollback. Die von der angloamerikanisch diktierten Pophistory weitgehend ignorierte Musik eines ganzen Kontinents wurde Stück für Stück zur Entdeckung freigegeben -in Reihen von Wiederveröffentlichungen durch rührige Kleinlabel, in den Mali-Projekten von Damon Albarn, den Remixen von DJs, den afro-pop-informierten Aufnahmen junger US-Bands. Das New Yorker Knitting-Factory-Label beginnt jetzt mit der umfangreichsten Kuti-Retrospektive, die bis heute auf den Weg gebracht wurde und veröffentlicht 45 remasterte Originalalben (mit Liner Notes zu den Tracks) und eine DVD mit Live-Aufnahmen aus Glastonbury 1984.

Dass die Geschichtsschreibung in Sachen Kuti wieder den Umweg über die Amerikaner nimmt, ist ein ironischer Winkelzug des Schicksals: Der 1938 in Abeokuta bei Lagos geborene Fela Kuti wurde zu einem der schärfsten Kritiker des US-Imperialismus und der multinationalen Konzerne. Er erfuhr seine politische Initiation während eines US-Trips Ende der Sechziger. Angefixt von den Schriften der Black Panthers und beeindruckt vom scharfkantigen Soul Sly Stones und James Browns modifizierte Kuti, damals noch Trompeter, den Duktus seiner Band. Aus dem federleichten Highlife-Jazz der gerade entkolonialisierten Heimat erwuchs jene strenge Form des bigbandigen Afrobeat mit massiven Bläsersätzen und funky Bass-Riffs, auf deren Boden Felas Befreiungs-Lyrics zur vollen Entfaltung gelangten.

In der Mitte der 70er-Jahre gegründeten Kommune Kalakuta trommelte Bandchef Kuti den Widerstand gegen die Militärdiktatur zusammen, Kalakuta wurde zum Synonym für Gegenöffentlichkeit und Glamour und zur Heimstatt für Freunde und die 27 Frauen, die er später heiratete, zum freien Staat im Unrechtsstaat Nigeria. Auf Auseinandersetzungen mit Polizei und Militär reagierte Kuti eine Zeitlang mit Alben im Rhythmus von Monatszeitschriften: Höhnisch zog er über die Soldaten Nigerias her („Zombies“), in „Unknown Soldier“ verurteilte er das Ergebnis der Ermittlungen zum Tod seiner 77-jährigen Mutter, die beim Sturm auf Kalakuta aus dem Fenster gestürzt war. Soldaten der Obasanjo-Junta hatten Kutis Haus zerstört und in Brand gesteckt. Die Niederschlagung des Soweto-Aufstandes 1976 in Südafrika kommentierte er mit „Sorrow Tears And Blood“(das in einer bisher unveröffentlichten Version auf der Doppel-CD THE BEST OF THE BLACK PRESIDENT 2 zu hören ist).

Es war die rhythmische Finesse dieser sozialen Tanzmusik, die von Kraftwerk mit elektronischen Mitteln nachgestellt wurde, deren Tracks wiederum Pate standen für die Generation früher Hip-Hopper. Die Auftritte Kutis mit seiner Band Africa 70 nahmen den Set-Charakter vieler House-und Elektronik-DJs vorweg. Fela, Tony und die Rhythmus-Abteilung (Shekere, Sticks, Maracas, Congas, Schlagzeug) produzierten um Beats und Keyboardvariationen gewickelte Schleifen, nachzuhören auf den Meilensteinalben ALAGBON CLOSE (1974) und KALAKUTA SHOW (1976).

In ein für den europäischen Popmarkt gängiges Format ließ Kuti seine Tracks nie pressen. Sie mäanderten bis zu 30 Minuten über den Grooves, die hitverdächtigen Call-und Response-Gesänge setzen oft erst im letzten Drittel eines Stückes ein. Hier arbeitete ein Orchester hochdiszipliniert an der Transzendierung von Jazz, Funk und Beat, jeder Einzelne im Dienst am großen Ganzen, besser als auf den frühen Africa-70-Alben OPEN AND CLOSE und SHAKARA (beide 1972) gelang ihnen das selten.

Kuti starb an den Folgen von AIDS im Alter von 58 Jahren, der posthumen Seligsprechung in einem Heldenspektakel hat er nicht mehr grollen können. Das Hitmusical „Fela!“ zog vom Broadway um die Welt und kam 2011 heim nach Lagos, im „New Afrika Shrine“ erinnert es an die Husarenstreiche des Jahrhundertmusikers Kuti.

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Fela Kuti (1938-1997)

Aktiv von 1960 bis 1995 (voc, sax, tp, keyb)

Beeinflusst von: Georg Friedrich Händel, Musik der Yoruba, Highlife, Geraldo Pino, Miles Davis, Sly Stone, James Brown

Beeinflusste: seine Söhne Femi und Seun Kuti, Paul McCartney, Ginger Baker, Roy Ayers, Gilberto Gil, Kraftwerk, Can, François Kevorkian, Brian Eno, David Byrne, Jay-Z, Mos Def, Timbaland, Antibalas, Radiohead