Jam-Session im Rainbow


In der englischen Popmusik-Presse wurde vom Wiederauferstehen der alten Warhol-Truppe ‚Velvet-Underground‘ gemunkelt, als für den 1. Juni 1974 im Londoner Rainbow Theatre ein Konzert angekündigt wurde, an dem ausser den beiden Ex-VU-Mitgliedern Nico und John Cale auch Ex-VU-Mann Lou Reed teilnehmen sollte. Tatsächlicher Grund des Rainbow-Gigs war jedoch der blonde Kevin Ayers, der es schliesslich gar nicht so schlimm fand, dass Lou Reed wegen einer gerade laufenden Europa-Tournee nicht dabeisein konnte. Schliesslich ging es ihm darum, durch einen spektakulären Auftritt sein (man höre und staune!) fünftes Album vorzustellen, das den faszinierenden Titel ‚The Confessions of Dr. Dream and other stories‘ trägt. Um aus dem spektakulären Ereignis eine Sensation zu machen, holte sich Ayers zusätzlich noch Ex-Roxy Brian Eno sowie den Klangzauberer Mike Oldfield auf die Rainbow-Bühne. ME-Redakteur Lutz Wauligmann schaute und hörte sich diese ungewöhnliche Jam-Session an Ort und Stelle an und berichtet:

Neuentdeckung oder Pleite?

Im Herbst letzten Jahres konnte Kevin Ayers In Edinburgh (Schottland) einen Rekord für sich verbuchen, an den er sich heute eigentlich gar nicht mehr so gerne erinnert. Damals gelang es ihm, den unmöglichsten Gig Ober die Bühne gehen zu lassen, den ich emals erlebt hab. Nichts schien zu funktionieren. Kevin hatte sich gerade eine neue Gitarre angeschafft, die ihm on stage so sehr zu schaffen machte, dass er eine gute halbe Stunde brauchte, um das Ding elnlgermassen zu stimmen. Als dann auch noch die als besonderer Effekt geplanten Rauchwolken nicht nur die Bühnenbretter bedeckten, sondern die ganze Band einnebelte und vollkommen aus dem Konzept brachte, konnte das Publikum einfach nicht mehr anders als in schallendes Gelächter auszubrechen. Auf Grund dieser bösen Erfahrungen war es denn auch nur allzu verständlich, dass die Leute von Island-Records, Ayers‘ Plattenfirma, vorm Rainbow-GIg nervöser waren als allgemein üblich. Meinte einer von ihnen: „Entweder macht dieses Konzert Kevin zu einer der grössten Neuentdeckungen dieses Jahres oder es wird eine totale Pleite. Dieses Risiko sitzt bei ihm immer drin.“ Nun, um es vorweg zu nehmen, Ayers‘ Auftritt wurde dieses Mal ein voller Erfolg, und wenn das Dr. Dream-Album schon nicht den Sprung in die Hitlisten schafft, den es eigentlich verdient hätte, dann wird das mit dem an diesem Abend aulgenommenen Live-Album (Titel: ‚June, Ist, 1974‘) aller Vorrausslcht nach sehr wohl geschehen.

‚DEUTSCHLAND OBER ALLES‘

Das Konzert bekam gleich einen guten Start, als Brian Eno, der im weiteren Verlaut des Gigs vor-, nehmlich mit dem Synthesizer rummachte, sich vors Mikro plazierte und seinen recht irren Titel ‚Baby’s On Fire‘ zum Besten gab. Stürmischer Applaus setzte ein, wahrend John Cale seine Geige zur Seite legte, um den nächsten Titel zu singen. Er, der Velvet Underground-Gründer, schien beim Londoner Publikum immer noch nichts von seiner Popularität elngebüsst zu haben. In dem Moment, als die aus Köln stammende Nico, die seinerzeit von Andy Warhol höchstpersönlich an Velvet Underground vermittelt worden war, die Bühne betrat, kehrte eine unglaubliche Ruhe ins Ralnbow ein. Sie stand ganz allein Im Scheinwerferlicht, lächelte verlegen In den Saal und setzte sich dann hinter ihr Harmonium. Während nur Brian Eno sie auf dem Synthi unterstützte, Hess Nico ihre tiefe Stimme und – das Deutschland-Lied von sich hören. Am nächsten Morgen fragte ich sie auf einem Presseempfang, warum sie ‚Deutschland, Deutschland über Alles‘ ausgerechnet Im Ralnbow anstimmen musste: „Das ist doch einfach nur ein schönes Lied mit einer schönen Melodie. Es gefällt mir sehr gut, und ich sehe nicht ein, warum ich et nicht singen sollte.“ Wie auch immer, den Ralnbow-Besuchern schien es auch sehr gut gefallen zu haben, Jedenfalls wurde Nico’» Solo-Einlage mit Riesen-Beifall aufgenommen – während auf den Gesichtern der Pressekollegen, die ebenfalls aus Deutschland angereist waren und die neben mir sassen, totale Verblüffung abzulesen war.

UVE-ALBUM VON DER JAM-SESSION

Ais Kevin Ayers den beinahe kitschig, aber dennoch bezaubernd klingenden ‚Everybody’s Sometime And Some People’s All The Time Blues‘, anstimmte, bahnte sich ein weiterer Höhepunkt des Abends an. Mike Oldfield, der gerade mit seinem ‚Tubular Beils‘-Album Internationale Beachtung gefunden hatte, füllte diesen Song mit einem sehr ruhigen Gitarren-Solo an, das mir regelrecht eine Gänsehaut bescherte. So gegensätzlichen Persönlichketten wie Oldfield und Ayers hätte ich eigentlich nie zugetraut, dass sie sich In einer Jam-Sesslon ‚finden‘ könnten. Oldfield hat übrigens auch auf der Dr. Dream-LP mitgewirkt. Die beiden Musiker verbindet nämlich eine alte Freundschaft, die auch nicht dadurch gestört wurde als Mike praktisch über Nacht zum Platten-Millionär aufstieg. M. Oldfield war seinerzeit Gitarrist in Kevin Ayers‘ Whole World‘, einer Gruppe, die Kevin gegründet hatte, nachdem seine Tage bei ‚Soft Machlne‘ gezählt waren. Der informativen Vollständigkeit halber sollen an dieser Stelle schnell noch die Musiker In Ayers‘ augenblicklicher Band genannt werden. Das sind der Ex-Tempest Gitarrist Ollie Halsall, Eddie Sparrow (drums), Archie Legget (bass) und Rabbit (piano).

Kevin Ayers: ‚Vielleicht kriegen wir einen neuen Messias‘

Als der Rainbow-Jam sich dem Ende näherte, versammelten sich alle beteiligten Musiker mit Percussion-lnstrumenten bewaffnet vor einem einzigen Mikrofon und stimmten das Finale an. Während im Anschluss daran ein minutenlanger Beifallssturm durch den Saal fegte, wurde auf den Bühnenhintergrund ein Film projeziert, in dem ein maskiertes Publikum gezeigt wurde, dass dem Rainbow-Publikum entgegenapplaudierte. Englischer Humor 1974 nennt man sowas wohl, glaube ich. Als musikalische Zugabe Hess Eno noch ein weiteres Mal sein ‚Baby’s On Fire‘ hören – dann hatte Dr. Dream seine ‚confessions‘ (Beichte) entgültig abgelegt. Der Live-Mitschnitt des Konzertes wurde übrigens in Rekordzeit auf Platte gepresst, sodass er bei * Erscheinen dieser ME-Ausgabe wohl auch schon In Deutschland erhältlich sein dürfte.

ENO: ICH BIN ÜBERHAUPT KEIN MUSIKER

Auf dem bereits erwähnten Presse-Empfang am folgenden Mittag erzählte mir Brian Eno, dass er beabsichtige, demnächst Urlaub in Deutschland zu machen. Natürlich keinen richtigen Urlaub, versteht sich, denn dafür hat ein Rockmusiker (Eno: „Ich bin überhaupt kein Musiker!“) eigentlich nie Zeit. Brian will ‚Can‘ in ihrem Kölner Studio besuchen und mit ihnen lammen, nachdem er neulich bereits in der Hamburger ‚Fabrik‘ mit der deutschen Newcomer-Band ‚Harmonie‘ ähnliche* unternommen hatte. Mit Kevin Ayers unterhielt ich mich Ober die Krise in der momentane Entwicklung der Rockmusik:

NEUE POPMUSIK. BLÜTEZEIT?

ME: Kevin, Ende der Sechziger Jahre, als Du noch zu ‚Soft Machine‘ gehörtest, konntest Du mit dieser Gruppe unter anderem auch an einer US-Tournee mit der Jlmi Hendrix Experience teilnehmen. Damals stand die Rockmusik noch in Ihrer vollen Blüte. Woran, glaubtst Du, liegt es, dass sich das inzwischen geändert hat? Kevin: Nun, die musikalische Energie, die um 1967 herum während der Flower-Power-Periode vorhanden war, ist im Moment wie verschwunden. Vielleicht liegt es daran, dass die Leute meiner Generation inzwischen grösstentells bürgerliche Geschäftsleute geworden sind und sich kaum noch für Musik interessieren. Die jetzige Teenager-Generation könnte allerdings, wenn sie sich auf die swingende Zeit von 1967 besinnt, sehr wohl dafür sorgen, dass die Popmusik eine neue Blütezeit erlebt. ME: Viele Leute im Showbusiness sind der Ansicht, dass 1974 wieder ein ganz riesiger Pop-Star entdeckt wird, so gross wie die Beatles oder Hendrix. Glaubst Du, dass die Zelt reif ist für sowas? Kevin: Weisst Du, Ich glaube nicht, dass der nächste grosse Star, der einen Einfluss wie die Beatles hat, ein Musiker sein wird. Ich vermute, dass wir dieses Mal ein religiöses Ding erleben werden. Vielleicht kriegen wir einen neuen Messias. Es Ist schon sehr komisch mit der Menschheit, sie sehnt sich immer nach einem Führer, nach einem Idol. In den Sechziger Jahren war Musik ein ‚Führer‘. Jeder fühlte sich davon angezogen. Musik scheint heutzutage jedoch gar nicht mehr so faszinierend zu sein. Deshalb werden wir wohl Idole, Superstars auf anderen Gebieten bekommen. Vielleicht gibt’s Kriege, und es kommt ein neuer Hitler. Es ist zum Verzweifeln, dass alle Leute Immer auf Führer warten, die das Leben verändern sollen. Warum kommt denn k einer auf die Idee, sein eigenes Leben selbst zu verändern? ME: Das sind ja ‚gute‘ Aussichten, Kevin, da sieh‘ doch mal lieber zu, dass Du gross rauskommt, dann bleiben uns die schlimmeren Typen wenigstens erspart. Dankeschön für dieses Gespräch.