Johnny Cash Rebell Im Ruhestand


Es waren weniger die Drogen, die Johnny Cash fast zum Verhängnis geworden wären, als vielmehr ein Vogel Strauß. Nach einem gut 25 Jahre dauernden Kampf gegen Suff, Pillen und zeitweise sogar gegen die Regierung der Vereinigten Staaten wollte Anfang der 8oer Jahre ein fast drei Meter großer Vogel den „Man in Black“ in die ewigen Jagdgründe befördern. Eine verständliche Reaktion des gefiederten Riesen. Immerhin hatte Cash vorher das Weibchen des aufgebrachten Laufvogels in seinem winterlichen Hinterhof versehentlich einem vorzeitigen Kältetod ausgesetzt. Und die Rache für diesen animalischen Todesfall war fürchterlich.

„Der Strauß griff mich an“, nickt Johnny Cash, gut einsneunzig groß, 64 Jahre alt, mit einer Stimme, die aus der Tiefe des Ozeans heraufzudröhnen scheint. „Der Vogel verPlatten und Konzerte bleiben sein täglich Brot. Die wilden Jahre aber sind für Johnny Cash (64) endgültig vorbei

suchte, mich mit seinem Schnabel aufzuschlitzen, aber ich hatte meinen breiten Gürtel an. Er erwischte mich also nur zehn Zentimeter über dem Magen und brach mir zwei Rippen. Ich landete auf dem Rücken und brach mir dabei noch drei Rippen auf einem Stein. Die Story endete in der Klinik.“

Wer denkt, Johnny Cash wäre nur irgend so ein alter Typ, der vor ungefähr 700 Jahren ‚A Boy Named Sue‘ gesungen hat und wie ein Grufti ganz in Schwarz herumläuft (was bei einem Mann im pensionsberechtigten Alter ziemlich unpassend wirkt), hat unrecht. Lemonhead Evan Dando weiß es ausnahmsweise besser: Beim Festival in Glastonbury anno 1994, dem Jahr der Cash-Renaissance, wurde Evan hinter der Bühne dabei beobachtet, wie er seine Arme um die Knie von Johnnys Manager schlang und ihn buchstäblich anflehte, ihn mit dem großen Mr. Cash bekannt zu machen. Denn Evan wußte:

Johnny ist der Original Outlaw. The man in black. Der Gott des Country & Western. Jener Musik, die noch vor dem Rock’n’Roll kam, dem Stoff, aus dem die Mordballaden gemacht sind, Geschichten mit rabenschwarzem Humor, die von toten Hunden, durchgebrannten Vätern sowie Lust und Frust der menschlichen Seele erzählen. Und hier sitzt er mir an einem heißen Tag in Los Angeles fast schon unheimlich bewegungslos in seinem Hotelsessel gegenüber, wie immer ganz in Schwarz, Brille auf der Nase, auf dem Tisch vor ihm ein dicker Wälzer über Serienmörder, denn falls ihr es noch nicht gewußt habt: Dieser Mann ist auch noch der wahre Nick Cave. Und er spricht über, äh, Schuhe.

„Ich mag deine Schuhe“, sagt Johnny Cash. „Ich mag deine Schuhe“, sagt die Schreiberin dieser Zeilen und verliert prompt die Nerven. Das mit den Legenden ist schon komisch, so als ob man auf einmal so mir nichts, dir nichts neben Elvis oder Cassius Clay oder der Queen sitzt. Wow. Du bist Johnny Cash. Du bist es wirklich! „Tja“, sagt er grinsend, mit genau der Stimme, die er auch zum Singen benutzt. Einer Stimme, die nach 1000 feuchtfröhlichen Weihnachtsfeiern klingt und die Geschichte der ganzen Menschheit zu erzählen scheint. „Ja, ja. Was sagt man dazu. Mmmmm.“ Das tiefe Grummeln in der Kehle gilt bei diesem reuigen Sünder mit den spärlichen und sorgfältig gewählten Worten vermutlich als Lacher. Er sieht aus wie ein Mann aus Granit; sein Kinn erinnert allerdings irgendwie an ein Backenhörnchen, aber vielleicht liegt das ja auch an dem Nervenleiden im Kiefer, das ihn seit Jahren plagt. Trägt Blockabsätze, Krokodillederstiefel in Schuhgröße 46 mit einer „…ganz schweren Sohle. Ich gebe sie ans ‚Rote Kreuz‘, wenn ich sie satt habe. Die können sie an andere Leute mit großen Füßen weitergeben.“ Großer Gott. Wissen denn die Leute, die die Schuhe dann bekommen, überhaupt, daß das mal deine waren? Kann man die dann ganz normal kaufen? „Die werden nicht verkauft“, grunzt er, „sie werden verschenkt.“ Aber wissen denn die Leute, daß es sich dabei um historische Reliquien handelt? „Historische Reliquien? Du machst wohl Witze… Hmmmn.“ Aber genau das sind sie doch, Reliquien“! Die Antwort: „Hmmmm. Ehmmnnn.“

Johnny Cash lehnt sich in meine Richtung, während L.A. gerade mal wieder in einem mittleren Erdbeben erzittert, hebt die Obstschale vom Tisch und plaziert sie direkt unter meiner Nase. „Magst du vielleicht eine Zwetschke?“

ja, bitte. Es zeugt von einer übergeordneten Gerechtigkeit, daß Cash nicht länger als Traum einsamer Hausfrauen gilt, sondern als Musiker, der deshalb gewürdigt wird, weil sein Erbe nach wie vor über die Griffbretter unserer zeitgenössischen Rock’n’Roll-Barden geistert — was letztere mittlerweile verinnerlicht haben. So sang Johnny Cash 1993 U2’s ‚The Wanderer‘, und sein ’94er Comeback wurde mit ‚American Recordings‘ eingeläutet, seinem Grammygekrönten, von Rick Rubin produzierten Akustiktriumph. Zuletzt arbeitete er wieder mit Rubin und meldet sich nun mit dem Ergebnis, dem Album ‚Unchained’zurück. Eine Platte, auf der u.a. Coverversionen von Becks ‚Rowboat‘ und Soundgardens ‚Rusty Cage‘ zu hören sind. Johnny Cash ist musikalisch auf der Höhe der Zeit. „Ich habe sechs Töchter, einen Sohn, zwölf Enkel, deshalb höre ich viel aktuellen Rock’n’Roll.“ Beck trat bei Johnnys Tour als Support auf und – wie Cash stolz verkündet – „er hört sich wie ein Hillbilly-Sänger an. ‚Rowboat‘ klingt wie ein Song, den ich in den 60er Jahren geschrieben haben könnte.“ Das Soundgarden-Stück war Rubins Idee: „Die habe ich mir dann zueigen gemacht.“

Der Rock’n’Roll wurde in den 5oern von Johnny Cash, Elvis, Jerry Lee Lewis und den anderen Vertragskünstlern des Sun-Labels in Memphis erfunden. Inzwischen müßte Johnny eigentlich entweder verrückt oder tot sein — wie sein damaliger Kollege Hank Williams zum Beispiel, der sich mit 29 auf dem Rücksitz seines Cadillac zu Tod soff. Daß Cash es nicht versucht hätte, es seinem Stallgefährten gleichzutun, kann man beim besten Willen nicht behaupten. Ende der 50er und während der 60er Jahre war er von Aufputsch- und Beruhigungsmitteln abhängig und fuhr so gut wie jedes Vehikel zu Schrott, das er während dieser Zeit sein eigen nannte: zwei Jeeps und einen Camper, er überschlug sich mit zwei Traktoren und einem Bulldozer, versenkte zwei Boote und hechtete einmal gerade noch rechtzeitig aus seinem Wagen, bevor dieser in eine 200 Meter tiefe Schlucht stürzte. Sieben Mal landete Cash im Knast, wurde allerdings niemals verurteilt. Einmal wurde er im Flughafen von El Paso verhaftet, weil er in einer billigen mexikanischen Gitarre 688 Dexedrinund 475 Equanilpillen versteckt hatte. Regelmäßig zertrümmerte er auch Hotelmobiliar und errichtete Trennwände, wenn ihm seine Mitbewohner nicht paßten, oder klopfte Löcher in die Wand zum Nebenzimmer, wenn er sie mochte. Der berüchtigte wahre Rebell hatte in der ehrwürdigen „Grand Ole Opry“ in Nashville Auftrittsverbot. Und als man sich schließlich zu einer Ausnahme bereiterklärte und Johnny auftreten ließ, zertrümmerte er in einem Anfall von ungezügelter Begeisterung mit seiner Gitarre die Beleuchtungsanlage (das ist ungefähr so, als wenn Pavarotti die Kronleuchter in der Semperorper in Dresden demolieren würde). Aber das ist eben auch Rock’n’Roll. Und mit dem Rock’n’Roll kamen die entsprechenden Verhaltensmuster, ein Rollenbild in Sachen Exzeß und Gewalt, dem bis zum heutigen Tage begeistert nachgeeifert wird. Viele meinen, daß Johnny Cash das große Vorbild dafür war. Da muß er sich wohl für einiges verantworten, oder?. „Wer, ich?“ grinst er. „Hmmnmm. Nein! Das lasse ich mir nicht in die Schuhe schieben. Ich bin natürlich kein Unschuldslamm, aber andere waren auch keinen Deut besser…“ Aha. Da fragt man sich, wie er denn eigentlich auf die Idee gekommen ist, diesem „Lebensstil“ zu frönen. Es folgt eine Pause so lang wie der Grand Canyon. „Ich bin in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen“, überlegt er. „Selbst in der Air Force habe ich nie mehr als 85 Dollar im Monat verdient. Nach meiner Entlassung hatte ich sofort meinen ersten Hit. Ich verdiente plötzlich 125 Dollar am Tag, was für mich sehr viel Geld war. Zunächst kümmerte ich mich um meine Mutter und meinen Vater, aber das Geld wurde immer mehr.

Die Gewalttätigkeit kam also von… äh, nein.“ Jetzt hat Johnny eine Eingebung. „Eigentlich war ich auch vor den Amphetaminen schon gewalttätig. Und ich habe wirklich keine Ahnung, woher das kam. Wahrscheinlich war ich vom Teufel besessen. Wir nahmen ein Pfund Schießpulver, schnürten ein Paket daraus, banden eine Lunte dran und steckten es in einen hohlen Baum auf der texanischen Prärie, nur um zu sehen, wie der Baum explodiert. Diese Zerstörungswut richtete sich bei mir später zunehmend nach innen. Ich begann, mich selbst zu zerstören. Mit Drogen. Damals lag mir so wenig an mir selbst wie vorher an dem Baum.“ Was war denn so toll an Speed, der Droge deiner Wahl? Fandest du damals, daß das Leben nicht schnell genug ablief? Er überlegt mehrere Jahrtausende lang. „Im Gegenteil, es kam mir zu schnell vor“, erklärt er schließlich, „und ich wollte nicht auf der Strecke bleiben.“ Dann kam der Tag, an dem er auf der Strecke blieb. 1967 wog Johnny nur noch 69 Kilo und haßte sich selbst. Er fuhr zu den Höhlen bei Chattanooga und marschierte schnurstracks in eine der Grotten, außer sich vor Angst. Schließlich leben in den Höhlen die bösen Geister von toten Indianern und konföderierten Soldaten. Wild entschlossen lief, Cash mit seiner Taschenlampe so lange weiter, bis die Batterie leer war. In völliger Finsternis, zwei Meilen tief im Berg, legte er sich schließlich zum Sterben nieder. Und dann hörte er eine Stimme. „Die Stimme Gottes: ‚Nein, du stirbst noch nicht, steh‘ wieder auf.“ Er ging wieder zurück. Am Eingang warteten seine Frau und seine Mutter – und eine 30tägige Entziehungskur. Inzwischen ist er „drei oder viermal“ in verschiedenen Kliniken gewesen, auch bei Betty Ford. Und wie bei Alkoholikern bedeutet ein Ausrutscher für ihn gleich einen kompletten Rückfall.

Und heute? Vermißt er die Drogen? „Nein, ich vermisse sie nie“, behauptet er. „Weil ich damals völlig durchgeknallt war.“ Von diesem Original Outlaw können die Outlaw-Aktivisten unserer Zeit sich eine Scheibe abschneiden. Oasis und ihre Skandälchen? Einfach nur lachhaft! Johnny Cash nahm zentnerweise Drogen, wurde beinahe von einem großen Vogel erledigt und fackelte nebenher noch einen ganzen Berg ab: Jedes Wort davon ist wahr“, kichert der alte Haudegen. „Ich war im Los Padres Nationalpark und hatte eine verbogene Felge an meinem Camper; es wurde heiß, glühend heiß. Das hohe, trockene Gras fing Feuer, das Feuer weitete sich auf den Berg aus. Auf einmal flog die Nationalgarde mit Hubschraubern ein und bekämpfte das Feuer aus der Luft. Dann kam auch noch die Feuerwehr angefahren. So kam es, daß ich von der Regierung der Vereinigten Staaten wegen Brandstiftung verklagt wurde. Und diese Burschen haben ordentlich abkassiert. Ich mußte 125.000 Dollar berappen. Das ist außer mir noch nie jemandem passiert.“ Einfach haarsträubend, schließlich konntest du doch gar nichts dafür. „Stimmt, es war ein Unfall. Aber das haben die mir partout nicht abgekauft“

Die gesamte Regierung der Vereinigten Staaten – das ist ein ernstzunehmender Gegner. „Kann sein“, nickt der wahre „Firestarter“.

Du bist der Keith Richards des Country, beide seid ihr nicht kaputtzukriegen. Jetzt halt‘ mal den Ball flach“, unterbricht er mich. „Ich habe nicht soviel Mist verzapft, wie die Leute von mir behaupten. Sonst wäre ich nicht so alt, wie ich heute bin und würde mich nicht obendrein so gut fühlen. Und ich fühle mich gut“ — was der Country-König mit einem tiefen Grummeln unterstreicht. Cash, ausgewiesener Kenner der dunklen Seite des Lebens, ist ein Freund des einfachen Volkes. Sein Leben lang war er der Held des kleinen Mannes. Er hat sich für Aids-Opfer eingesetzt, für die Rechte der amerikanischen Ureinwohner, für das Recht auf Abtreibung und hat gegen die Ungerechtigkeit des Vietnam-Krieges gewettert. Damals verkündete er, er werde so lang Schwarz tragen, „bis der Weltfrieden verkündet wird“. Heute sieht er eine durchgedrehte Gesellschaft und weigert sich, den Jugendlichen die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben: „Die Ursache vielen Übels liegt in verkorksten Familien.“

Von sich selbst spricht Cash als „Sünder“. Aber in Wirklichkeit gehört er natürlich zu den Guten. Oder etwa nicht? „Mnmnm hmmn“, grummelt er, ängstlich jegliches Eigenlob vermeidend, „na ja, die Welt ist ungerecht. Früher knallte ich mir nach einer Show den Kopf zu und landete bei Huren, Ex-Knackis und Pennern. Bei denen fühlte ich mich wohler als in einem noblen Club. Trotz des Schadens, den ich mir und anderen zufügte, habe ich vielleicht hin und wieder auch mal ein gutes Werk getan, wenn ich mich für einen von diesen Leuten eingesetzt habe. Ich glaube, daß ein ehemaliger Knastbruder eine zweite Chance verdient, die er leider meistens nicht bekommt. Ich habe ein paar unter meine Fittiche genommen und versucht, ihnen zu helfen. Aber ich will nicht den Moralapostel spielen.“ Johnnys Manager klingelt an der Tür. Die 45minütige Audienz ist beendet. Cash steht auf, bewegt sich wie eine riesige, verkohlte Schildkröte und versetzt die Dielenbretter in Schwingung. Ein alter Mann mit jungenhaftem Funkeln in den Augen. „Es hat lange gedauert, bis ich erkannte, daß ein Drogen-High ein spirituelles Tief ist, denn es zerstört den Geist eines Menschen“, sagt der vitale Veteran und zeigt mir ein paar alte Schwarzweißfotos. „Das bin ich mit ungefähr 20“, sagt er. Mein Gott, sah der Mann ‚mal gut aus, eine Mischung aus Frank Sinatra und Keith Richards in jungen Jahren. Und heute? So viel steht fest: Klasse hat Cash auch jetzt noch. Zudem ist er der wahre König des Rock’n’Roll. Und unsterblich ist er sowieso.