Jonathan Richman


Als ich zum erstenmal in die LP „Rock’n Roll With The Modern Lovers“ reinhörte, dachte ich mir, das kann nicht sein, damit kommt niemand durch, kein Mensch läßt sich so verarschen und kauft soetwas – jede Hinterhofband spielt sowas besser, diesen absoluten Antisound, fast mono und in einem Aufwasch aufgenommen. Wenn sich das durchsetzt, können Hi-Fi-Fanatiker ihre super Science Fiction-Maschinen wegwerfen und die totale Anarchie bricht aus. Heute, ein paar Monate später, geht mir „Ice Cream Man“ von Jonathan Richman und seinen Modern Lovers nicht mehr aus dem Kopf, und ihr „Egyptian Reggae“ stieg in England bis unter die ersten Fünf der Charts auf und schnellt derzeit tatsächlich auch in den deutschen Hitlisten immer weiter nach oben! Und nun mal ganz ehrlich: gibt’s da irgendjemanden zwischen Nordsee und Alpen, der das vorausgesehen hat?

Besonders auffällig, neben der geringen Lautstärke, sind Charme und Spielfreude der Modern Lovers, die manchmal mit akustischem Baß (Asa Brebner, früher C. Keranen),einer akustischen E-Gitarre mit 5-Watt Verstärker (Leroy Radcliffe), einer mini-Bassdrum (D. Sharpe) und der ab und zu unverstärkten akustischen Gitarre von Sänger Jonathan Richman antreten. Alle ihre Stücke sind ziemlich einfache Eigenkompositionen, die sich sehr an den Rock der fünfziger Jahre anlehnen und deren Texte sich mit ganz alltäglichen Dingen wie Schneemännern in Supermärkten, grünen Marsbewohnern und Eisverkäufern beschäftigen. Hier werden also nicht einfach irgendwelche Stücke nachgespielt, sondern wird der Versuch unternommen, den Enthusiasmus des frühen Rock’n’Roll auf unsere Zeit zu übertragen. Viele Zuhörer werden so ermuntert, selbst wieder Musik zu machen: jene Zuhörer nämlich, die nach anhören von ELP, Yes und Genesis vor Angst erstarrten, wenn sie nur eine Gitarre sahen, geschweige denn anfassten.

Jonathan Richman, die Zentralfigur der Modern Lovers, wurde in der Nähe von Boston geboren und gehörte Ende der sechziger Jahre zum weiten Kreis um Andy Warhol und die Velvet Underground. 1970 ging er zurück nach Boston, wo er zuerst allein mit selbstgeschriebenen Stücken auftrat, um dann ein Jahr später die Modern Lovers zu gründen (von der Urbesetzung begleitete ihn bis vor kurzem noch Drummer David Robinson). Die Band erzielte ziemlich schnell lokale Erfolge, sodaß sich Warner Brothers einschaltete und die Gruppe von John Cale (Ex-Velvet Underground) produzieren ließ. Leider gab es dann zwischen allen Beteiligten ziemliche Meinungsverschiedenheiten, was dazu führte, daß die für eine erste LP fertig produzierten Stücke nicht herauskamen und die Plattenfirma sich von der Band trennte.

1973 lösten sich die Modern Lovers dann auf. Daß die Gruppe überhaupt nochmal in Vinyl gepreßt wurde, verdankt Jonathan Richman seinem Manager Matthew Kaufman. Der gründete 1976 nämlich die Plattenfirma Beserkley, kaufte die Warner Brothers-Bänder auf und brachte die Modern Lovers-Platte (siehe ME 9/77) doch noch heraus. Außerdem ermöglichte er es Jonathan Richman, eine Neuauflage der Modern Lovers zusammenzustellen, mit der er bislang drei weitere Alben eingespielt hat: „Jonathan Richman & The Modern Lovers“, „Rock & Roll…“ und „Modern Lovers Live“ (siehe Longplayers).

Das Beserkley-Label ist mittlerweile mit 12 LPs auch vollständig in Deutschland zu bekommen; hören kann man da so gute Gruppen wie Earthquake, die Rubinoos, die Tyla Gang oder Greg Kihn, den wir in Hamburg schon live erleben konnten.

Etliche Beserkley-Gruppen planen derzeit Auftritte in Deutschland, so daß wohl auch die Modern Lovers in Kürze kommen werden. Übrigens ist die Richman-Gruppe noch mit vier Stücken auf dem ausgezeichneten Sampler „Beserkley Chartbusters Vol. 1“ vertreten.

Also: die totale Anarchie ist mit Mr. Richman’s Hilfe noch nicht ausgebrochen, aber das kann ja noch kommen, denn wie man aus gutunterrichteten Kreisen hört, soll ein gewisser Herr Last (James für euch) planen, den „Egyptian Reggae“ auch aufzunehmen,und das ist keine Ente! Ich hoffe, wir werden es überleben.