Kevin Coyne – Der Ritter von der traurigen Gestalt


„Als ich sehr jung war, sagte ein fettarschiger Bingo-Club-Manager zu mir: ‚Du wirst ganz nach oben kommen, direkt an die Spitze. Und ich werde dich dort hinbringen.‘ Er war der erste in einer langen Kette von ach so smarten Leuten, die Versprechungen machten. Wie viele andere Künstler sind genau so behandelt worden? Ich glaube, die meisten. Sie sind überall — 10 (manchmal auch 25) Prozent-Typen, die imaginäre Verträge rumtragen. Sie stellen dich berühmten Leuten vor und haben Ideen, wie du groß rauskommst. Die meiste Zeit denken sie an das schnelle Geld, an einen Aufschlag für ihre Familien außerhalb der City, ihre geldverschlingenden Frauen. Sie haben wenig Zeit, sind gierig und gefährlich. Und solche Leute bestimmen dann auch deinen Tag… Was kümmern die sich um Kreativität? (Kevin Coyne, ca. 1970)K evin Coyne gehört seit Ende ^V der 60er Jahre zu den ein^Mk drucksvollsten, lebendigsten und kreativsten Persönlichkeiten in der internationalen Rock-Szene. Das ist die eine Seite. Die andere: Er verkauft von seinen Platten gerade ein paar tausend Stück in seiner Heimat, er wird kaum im Radio gespielt, er hat gerade sein „Auskommen‘, wie man so sagt. Und ihm werden immer noch die gleichen Versprechungen wie vor zehn, zwölf Jahren gemacht. Damals, er war bereits Mitte 20, nahm er die ersten Platten mit einer Band auf, die sich Coyne-Clague und dann Siren nannte. John Peel, einflußreicher Mentor der englischen Rock-Szene bis heute, veröffentlichte auf seinem Dandelion-Label zwei LPs von Siren. Von da ab wurde Kevin Coyne verglichen: „Besser als Joe Cocker“ hieß es. Und „Wichtiger als Randy Newman“ tönte es. Doch Kevin Coyne ist unvergleichlich. Der aus Derby stammende Coyne ist nicht nur Sänger/Musiker. Er schreibt Gedichte, er malt und zeichnet, er hat einen Film gemacht, hat Musicals geschrieben und gespielt, einen Songzyklus aufgeführt, geht rüber in den Pub, um mit den Leuten von nebenan zu trinken, ist eine Kult-Figur von Finnland bis Frankreich, hält Lesungen, macht Ausstellungen, ißt gern Schnecken und trinkt am liebsten Bier, war Katholik, ist Fußballfan und immer noch Anhänger von Derby, ist Außenseiter und Anti-Star. Vier Jahre arbeitete der ehemalige Kunststudent („Man sollte die Kunstschulen schließen, man weiß hinterher doch nicht, was man machen soll“) in einer psychiatrischen Klinik, dann in einer ähnlichen Einrichtung in London. Eine Erfahrung, die sein Leben bis heute geprägt hat. „Ich bin kein Optimist, ich bin ein miserabel depressiver Mensch, vermutlich wegen meiner Arbeit. Es ist zermürbend.“ Sagte er vor zehn Jahren in einem Interview. Depressiv ist er bis heute, aber sein Glaube an den Menschen ist ungebrochen. Wohl jede seiner Platten enthält ein Liebeslied. Manche Aufnahmen sind seiner Frau Leslie gewidmet; mit ihr und zwei Söhnen lebt er im Süden Londons. Dort, wo normalerweise‘ kein Musiker wohnt, inmitten von verfallenden Wohnmaschinen und Industriebauten, nebenan die Slums der Farbigen, die Fish’n’Chips-Buden, das Unkraut vor dem Hause wuchert und im winzigen Garten hinter dem grauen Reihenhaus die Wäsche auf der Leine. Das Innere des typischen englischen Reihenhauses wirkt wie eine friedliche Insel im Gegensatz zum kreischenden Verkehrslärm draußen. Aber bei näherem Hinsehen sind auch diese Räume bei aller Behaglichkeit voller Widersprüche, voller Coyne, voller Leben. Wand für Wand und selbst der Fußboden ist bedeckt von Dokumenten Coynscher Kreativität. Zeichnungen und Gemälde aus den vielen Jahren der Beschäftigung mit anderen Menschen und mit sich selbst; Selbstporträts scheinen zu dominieren. Meist sind es überdimensional wirkende, in sich zerrissene Köpfe, die der kleine Mann zu Papier und auf Leinwand bringt. Oben in seinem Schlafzimmer stapeln sich, in seiner ihm eigenen Un-Ordnung, Gedichte, Hefte mit Notizen, unzählbare, auf Tourneen entstandene Skizzen. Jahrelang war in der Öffentlichkeit von dieser Seite seiner Ausdrucksfähigkeit nicht viel zu bemerken: ,Jch habe eine ganze Menge gemacht, immer so zwischendurch, und ich werde das auch weiterhin tun. Aber ich bin von dem ganzen Kunstausstellungs-Geschäft desillusioniert, deshalb mache ich da nichts. Es hat Ähnlichkeit mit dem Pop-Business – es geht nicht darum, was du weißt, sondern wen du kennst.“ Erst vor eineinhalb Jahren wieder waren einige seiner Zeichnungen bei der Rock’n’Roll-Aussteü’ung in Hamburg zu sehen, in Gegensatz gesetzt zu der vom Business produzierten Teil- und Scheinwelt der Rock-Musik mit ihrer Werbung, ihren Gimmicks, der Vermarktung der Musiker. Und erst vor wenigen Monaten begann Coyne wieder, Gedichte, zum Teil mit Gitarrenbegleitung, vorzutragen: „Es hat mir viel Spaß gebracht, und ich möchte das öfter tun.“ Coynes große Liebe aber war und ist der Rock’n’Roll, mit demer, wie viele in den angloamerikanischen Landern, aufgewachsen ist. Geprägt von Blues und R&B laßt er auf seinen Platten und in den verschiedenen Konzepten seiner Live-Auftritte die Musik dennoch nicht zu einer leeren Hülle werden, zu einer sich selbst und dem Publikum genügenden Form: „Rock’n’Roll ist für mich ein Kommunikationsmittel.“ Ein seltener Standpunkt, viel mehr noch eine seltene Praxis in einem mörderischen Geschäft. Coyne hätte schon oft aufgeben können… Mit einem Zettel am Schwarzen Brett der Kunstschule begann sein Zick-Zack-Weg durch die Höhen und Tiefen der Rock’n’Roll-Welt. Die mit Freunden aus Derby entstehenden beiden Siren-Alben gehören für mich zu den überragenden Felsen in der Ende der 60er Jahre einsetzenden psychedelischen Welle. Von seinen Rock’n’Roll-Vätern in ihren Strukturen bestimmt, weisen sie hin auf die erst Jahre später öffentlich registrierten Pub-Rock-Bands a la KUburn & The High Roads mit lan Dury, Hatfield & The North, die Kursaal Flyers und andere, ebenso vergessene Bands wie Brinsley Schwarz. SIREN und STRANGE LOCOMOT1ON bekamen zwar die erhoffte positive Resonanz bei der Kritik, aber der kommerzielle Erfolg blieb aus. Coyne arbeitet weiter als „der singende Sozialarbeiter“, wie er noch jahrelang tituliert wird. Kaum eine Einordnung kann jedoch den menschlichen Eigenschaften und damit der Arbeit Coynes gerecht werden. Von seiner Familie bis zu seiner aufreibenden Tätigkeit mit psychisch Kranken, mit Alten und Trinkern, vom Kunst- bis zum Pop-Business – er registriert mit allen Sinnen, was um ihn herum vorgeht. Das Elend seiner Mitmenschen versucht er in direkter Kommunikation zu ergründen und ihnen zu helfen. Er malt mit seinen Patienten und macht mit ihnen Musik. Eine Erfahrung, die sich erst auf seinen beiden nächsten Alben ausdrückt – so radikal wie es keiner in dieser Zeit gewagt hat. Lebendige, kommunikative Rockmusik ist ohne Einbezug eigener Erfahrungen nicht denkbar. CASE HISTORY (1972) ist die wohl intensivste Verarbeitung Coynscher Erfahrungen, eine Fall-Geschichte voller scharfzüngiger Beobachtungen, voller Aufschreie, Bitterkeit und Depression. Das Solo-Album fand kaum Beachtung, wurde kaum verkauft und gehört heute zu den begehrtesten Sammler- und Fan-Raritäten. CASE HI-STORY begründete vermutlich den Kult-Status des kompromißlosen Künstlers. Seine Aussagekraft hat das Album bis heute behalten und Coyne zählt es weiterhin zu seinen wichtigsten Produktionen, auf die er auch bei Live-Auftritten immer wieder hinweist. Dem Song „Evil Island Home“ gibt er aktuelle Bedeutung; es wird geradezu beängstigend klar, was er meint, wenn er das Publikum daran erinnert, daß heute eine „Eiserne Lady“ seine Heimat regiert und er dann diesen Song „Evil Island Home“ anstimmt. Bei einem Auftritt in Dublin skandierte er die Namen deutscher Konzentrationslager. Das Publikum antwortete mit den Namen einheimischer Internierungsiager: „Long Kesh!“ Politiker ist Coyne zwar, aber keiner der Partei-Politiker, der Jsmen‘-Anhänger. In einem Interview machte er das unmißverständlich klar: „Meine katholische Geschichte bedeutete soviel Gehirnwäsche, daß ich niemals wieder mit irgendeinem Jsmus‘ zu tun haben will, sei es Katholizismus oder Kommunismus. Ich habe wenig übrig für Flaggenträger, große politische Gruppierungen, Dogmen jeder Art. Meine Haltung ist, daß Menschen Menschen sind, und es ist die Äußerung von Selbstachtung, die am wichtigsten ist. Es geht darum, die Fähigkeiten im Menschen zu stärken, sich selbst zu sehen und sich auch so zu sehen, wie andere einen sehen“. Diese Haltung erfordert eine offene Form des Auftretens, kein geschlossenes, branchenübliches Unterhaltungs-Konzept. Coyne braucht Reaktionen des Publikums, Kommunikationsbereitschaft. Das ist in großen Hallen, wie aber auch in kleinen Clubs, am Samstagabend kaum zu machen. Da wird er ungeduldig und startet manches Mal einen direkten Angriff auf Leute, die von ihm eine bierselige Show erwarten. Seit Jahren arbeitet er nur noch ab und zu mit einer Band, viel eher allein, mit Gitarre, Rhythmusmaschine und Bändern, um so diese offenere Form zu ermöglichen: „Ich will den Leuten zeigen, daß sie eigentlich dasselbe wie ich tun können, Erfahrungen der gleichen Art äußem, wie ich es tue. Die größte Anerkennung, die mir jemand zollen kann, ist zu sagen: TJas könnte ich auch!‘ Gut So! Das war das Tolle an der New Wave – die Leute konnten sich einfach eine Gitarre nehmen und das Ganze nicht länger als komplizierten Western-European Trick sehen…“ Wenn Punk nicht nur, und nicht in erster Linie, eine Pose und Mode war und ist, dann lassen sich sehr wohl Beziehungen herstellen zwischen Kevin Coyne und Johnny Rotten, zwischen der Arbeit des Künstlers und der Haltung der Kids. Dann ist Coyne so etwas wie der Prototyp des Punks. Sein Doppelalbum MARJORY RAZORBLADE von 1973, das erste auf dem damals noch jungen Virgin-Label veröffentlichte Werk, ist haargenau dieser Schrei gegen die Vereinnahmung, gegen die Isolation, für Menschlichkeit. MARJORY RAZORBLADE vermittelt die ganze Tiefe der Coynschen Erfahrungen, seiner Wurzeln im Blues und im typisch englischen Pub-Sing-a-long, seine unvergleichbare, mal gurgelnde, mal kreischende, mal sanft-traurige Stimme, seine Liebe zum Rock’n’Roll, seine beissenden Anklagen und seinen Glauben an die Menschlichkeit. Songs wie „Marlene“, „Eastbourne Ladies“, „House On The Hill“ und „Everybody Says“ gehören zu den überzeugendsten Liedern der Rock-Geschichte. Aber wer hörte schon darauf? Mit MARJORY wurde Coyne, auch dank der Virgin-Promotion, einem etwas größeren Publikum bekannt, aber den Durchbruch schafft er immer noch nicht. ,,Ich vermute“, sagte er einmal, „daß sie im BBC eher meine Singles ungehört zum Fenster rauswerfen als sie zu spielen“. Und auch für die übrigen Massenmedien hat er wahrscheinlich zu viel zu sagen. Weniger er selbst, als vielmehr die vorherrschenden Strukturen und Gesetze der Vermarktung zwingen ihn in die Obskuritäten-Ecke. Aber der „Mad Man“ des Rock’n’Roll gibt nicht auf. „Mein Vertrauen in mich selbst sagt mir, daß etwas da ist. Ich weiß, daß es auf die eine oder andere Art und Weise rauskommen wird. Wenn ich keine Platten gemacht hätte, hätte ich Bücher geschrieben oder Bilder-Ausstellungen gemacht. Oder ich wäre der Sozialarbeiter geblieben… Falls ich meine Kindheits-Wünsche weiter gehabt hätte, wäre ich Boxer geworden. Egal was, ich weiß, daß ich durchgekommen wäre.“ Überzeugung, Ehrlichkeit, Aussagekraft. Die früher bestimmenden Momente von Irritation, von Ängsten und Anklage gehen hier allerdings, wie auch auf dem nächsten Album, zu sehr in einem Sound-Teppich unter. HEARTBURN (1976) bedeutet so etwas wie einen Einschnitt in Coynes Arbeit: „Es war ein Tiefpunkt“, resümiert er später. Er hat die Platte nicht einmal selbst zu Hause. Einen zumindest gewissen kommerziellen Erfolg hätte er mit diesen Alben erzielen müssen, aber die Zeiten oder die Umstände, sie waren und sie sind nicht so. In jener Zeit allerdings wird der Mann, „der jemand wie Joe Cocker mit Leichtigkeit von jeder Bühne singen könnte“ (Coyne über Coyne) doch registriert. Hatte er schon Anfang der 70er an einem Musical-Konzept gearbeitet und am Londoner Institut für Contemporary Arts eine Performance über einen einsamen Menschen gemacht, so entwickelt er jetzt neue Wege der Kreativität. Für den „Theaterkritiker Nummer Eins in der Welt“, so Coyne über Kenneth Tynan, schreibt er eine Reihe von Songs. Er tritt in dem Fernsehspiel „Dont Make Waves“ mit einigen neuen Liedern auf und er schreibt für Snoo Wilson ’s Stück „England, England“ sage und schreibe 32 Songs, über diese Periode sagt Coyne: „Kenneth Tynan, er hört auf Bertolt Brecht, auf Harold Pinter und Samuel Beckett. Ich sehe mich eher als einen Künstler auf dieser Ebene als in der Art von LittleFeat.“ Coyne hat neue Hoffnung. Eingeschlossen eine ganze Reihe neuer Stücke aus diesen Musical-Versuchen, entwickelt er ein differenziertes Konzept für Live-Auftritte: auf der einen Seite ist da noch die Band, aber andererseits weiß er, wie sehr ihn deren Musik begrenzt. Und er verwendet Tapes, er arbeitet mit zwar minimalen, aber dennoch wirkungsvollen theatralischen Mitteln. Er zieht das ganze Register seines Könnens, um das Publikum mit einer Mischung aus Unterhaltung und Konzentration, mit Humor wie mit aufrichtiger Ernsthaftigkeit sowohl zum Nachdenken zu bringen als auch Spaß zu haben. „An Evening with Kevin Coyne – His Words, His Music, His Band“ nannte sich diese Tour, an der außer Andy Summers Steve Thompson (Baß), Peter Woolf (Schlagzeug) und der einfühlsame Zoot Money (Electric Piano) teilnahmen, der auch später noch Coyne auf Tourneen begleitet. Aus dieser Ära stammt eines der wichtigsten Werke von Coyne, das Doppelalbum IN LIVING BLACK AND WHITE (1976). Ähnlich wie sein früheres MAR-JORY RAZORBLADE bedeutet dieses überwiegend live aufgenommene Werk Vergangenheit und Zukunft zugleich. Es gibt hier den Rock’n’Roll-verliebten Jungen aus Derby ebenso wie den visionären Künstler. Anders als sein früheres Doppelalbum, das von aggressiver Spontaneität lebt, ist IN LIVING BLACK AND WHITE ein diszipliniertes, ausgefeiltes Produkt. Aber einen Platz in den Charts hat auch dieses Werk nicht gefunden. Mag sein, daß eine ganze Reihe Interessierter durch Coynes neue Wege irritiert waren. „Gut so“, mag Coyne sagen. Denn die Anpassung, die Hinwendung zum Mainstream, sie ist nicht ,sein Ding‘. Rauch und Nebel, die Mythen des Rock’n’Roll sind keine Mittel für Coyne. Seine Songs sind auch so explosiv genug. Überall in Europa findet er eine wachsende Zahl von Anhängern, Freunden, Interessierten, die in ihm nicht den exotischen Außenseiter sehen, sondern jemanden, der jedem etwas zu sagen hat. Ich würde behaupten, er wird in Europa mehr und mehr zu einem Star viel mehr als in seiner Heimat, deren Leben und Musik er doch wie kaum ein anderer zu interpretieren vermag. Bei 35 Grad Minus machte Coyne vor einigen Jahren eine Tour durch Finnland: „Wir haben dort einmal in einer Halle gespielt, die wie ein Iglu war. Fünfzig Fuß mit Schnee bedeckt, so schien es. Voll von betrunkenen Kids, die sich an die Bühne preßten. Es war wie Beatlemania. Es war eine gute Übung in Kommunikation.“ Coyne hat solo und mit Bands verschiedenster Zusammensetzung Dutzende von Tourneen durch fast alle Länder Europas und selbst durch Australien gemacht. Ich erinnere mich an den ersten Auftritt, den ich erlebte. 1975 war das; einige Wochen vorher hatte ich bei einer Autofahrt mit einem Freund eine Kassette gehört. Völlig fasziniert erfuhr ich, wer das war: Kevin Coyne mit MARJORY RAZOR-BLADE. Es hat mich nicht mehr losgelassen. Da war etwas in dieser leeren Rock’n’Roll-Wüste jener Tage, was mich direkt ansprach, mich in meinen Gefühlen bestätigte, verletzte, aufrichtete. Der Auftritt dann in der Hamburger „Fabrik“ war, naja, eine Katastrophe. Nicht einmal fünfzig Leute waren gekommen, um Kevin Coyne zu erleben. Eine gespenstische, trunkene, wilde Schau, die der kleine Mann in seinen ausgelatschten Turnschuhen dort zelebrierte. Der Stuhl, auf dem er herumturnte, lag am Schluß einsam vor der Bühne. Wenn Kevin Coyne heute wieder durch die Bundesrepublik und durch andere Ländern tourt, hat sich einiges verändert. Ob in kleinen Clubs oder in großen Hallen – die Menschen hören auf ihn. Und es ist sicher eine Wandlung auch bei ihm geschehen. Coynes Themen sind allgemeiner geworden, verständlicher: „Meine früheren Texte waren stark geprägt von meiner Arbeit im psychiatrischen Krankenhaus. Vom Leben und Leiden dieser Menschen auf der untersten Ebene war ich zutiefst betroffen. Vieles davon ist inzwischen anderem gewichen, aber es ist nichts vergessen. Ich vergesse nichts… Nur beschäftige ich mich inzwischen mit vielerlei Aspekten menschlichen Lebens unter den verschiedensten Gesichtspunkten.“ Seine drei letzten Alben sind Zeugnisse davon genauso wie der Aufbau seiner Solo-Auftritte, bei denen er auf die hunderte Mal gespielten Klassiker wie „Eastbourne Ladies“ verzichtet. Bereits auf DYNAMITE DAZE (1978), aber vielmehr auf MILL1ONAIRES & TEDDYBEARS (1979) und auf seinem soeben veröffentlichten Album BURSTING BUBBLES offenbart er die ganze Breite seiner Existenz. Nur noch wenige seiner Lieder haben allerdings die konventionellen Rock’n’Roll-Strukturen. Hämmernde Gitarrenriffs, manchmal nur ein präziser, simpler Beat, das sind schon eher vorherrschende Elemente, die es möglich machen, seine menschlichen Mitteilungen erfahrbar zu machen. Und er geht ständig für ihn neue Wege; auf BUBBLES setzt Coyne z.B. ein Saxofon ein. Auf MILL1ONARIES war es ein Akkordeon als adäquate Instrumentierung. Befragt, nennt Coyne nicht sehr viele Vorbilder und Einflüsse für seine Musik. Es sind vornehmlich die .alten‘ Blues- und Jazz-Größen, es sind die Songs aus den Pubs, in die er heute noch ab und an geht, um mit den Leuten von nebenan zu singen. Aber die Kraft seiner neuen Platten weist auch darauf hin, daß ihn Punk nicht unberührt gelassen hat. Aber er sagt: „Punk hat mir in Wirklichkeit nichts gebracht. Es war allerdings eine Bestätigung meiner Prinzipien, wirklich. Ich habe einige Punk-Platten bekommen, und jemand hat mir eine ganze Reihe davon vorgespielt. Für mich klingen sie so, wie ich klinge! Die Texte sind sehr stark, und die Einfachheit ist etwas, was ich erreichen will. Ich meine, ich bin nicht Beethoven… Ich mag es, in einer bestimmten Weise zu spielen, und es ist ihr Mangel an Beherrschung der Gitarre, der Weg, den sie einschlagen, dieses tolle Hämmern… da stehe ich drauf. Darauf habe ich immer gestanden. Ich könnte mich damit total identifizieren. Wild und beängstigend, einerseits, aber andererseits auch zu sagen, daß du etwas zu sagen hast, daß du denkst, daß du nicht wie ein Zombie herumläufst, daß du nicht diesen endlosen Strom des Medien-Unfugs akzeptierst, daß du aufpaßt, was ‚der Daily Mirror will, daß du weißt, wo du lebst, ist es nicht das Wahre und es könnte besser sein.“ Für Coyne ist Johnny Rotten die aufregendste Persönlichkeit seit Little Richard. Aber das ist die eine Seite des Rock’n’Roll. Von der anderen, der Seite der Opfer, der Toten, die dieses Business bereits gefordert hat, ist Coyne ebenso betroffen. In fast jeder Show widmet er einen Song Sid Vicious. Und manchmal auch Elvis. Von seinem Tod erfuhr er in einer Kneipe in London: „Da kam jemand rein und sagte JElvis ist tot‘. Ich konnte es nicht glauben. Ich habe erst sehr viel später gemerkt, daß da ein Mensch durch das Geschäft aufgefressen worden ist, durch die Medien. Sie haben seine Seele gefressen… Es hat mich richtig fertiggemacht, als ich ihn in seiner letzten Femsehschau gesehen habe. Es sollte keinerlei Elvis mehr geben dürfen.“ Seither arbeitet Kevin an einem Songzyklus mit dem Arbeitstitel ,,Fat Old Elvis“. Und es wird sicherlich eine Performance, die den Elvis-Fan irritieren und anderen etwas über einen Menschen sagen wird. Coynes Zynismus und Bitterkeit haben seine Humanität für manche nicht sieht- und hörbar werden lassen. Seine Alpträume hat er immer noch. Unruhig geht er auf einer Tournee nachts durch die leeren Hotelflure. Das eine und andere Bier hilft dann, langsam in den Schlaf zu kommen. In dem mit Ian Breckwell, einem englischen Filmemacher, entstandenen Film „The Institution“ zeigt sich Coyne als dieser einsame Mann, der von Raum zu Raum stolpert, mit sich selbst spricht. Eine eindeutige Interpretation läßt dieser Film nicht zu;auch seine ungewöhnliche, extrem einfache Form fordert vom Zuschauer eine sehr individuelle Antwort. In seiner Familie, aber auch in seinem Freund, Produzenten und Manager Bob Ward hat Coyne die für seine Persönlichkeit wichtige Sicherheit gefunden. Mit Ward, dem früheren Blossom Toe-Gitarristen Brian Godding und der Ex-City Preacher-Sängerin Dagmar Krause, die seit Jahren in London lebt und mit Slapp Happy gearbeitet hat, konnte Coyne endlich im letzten Jahr sein seit langem fertiges Stück „Babble“ realisieren. Ursprünglich als 13 Personen-Oper gedacht, hat Coyne nun die Darstellung des Aneinander-Vorbei-Lebens eines Ehepaares mit minimalen Mitteln auf die Bühne gebracht. ,3abble“, auch auf Platte erschienen, ist ein faszinierendes Stück Leben, ein an die Zeiten von CASE HISTORY erinnernder Song-Zyklus, ein Appell an die Menschlichkeit. Sänger, Song-Schreiber, Trinker, Maler, Dichter, Immer-Noch-Verlierer, Kultfigur, Ex-Katholik, Rock’n „Roll-Besessener, Liebender und Liebenswerter — Kevin Coyne gehört zu den wichtigsten, weil auch widersprüchlichsten Persönlichkeiten. Auch für die Zukunft. Seine Scharfzüngigkeit hat Methode, und die wird wirkungsvoll, wenn nur jemand bereit ist, sich mit ihm auseinanderzusetzen. „Ich bin jetzt näher an einer optimistischen Sicht des Lebens, anstatt es mit möglicherweise mißverständlichen, depressiven Elementen zu überdecken. Ich bin nicht von Natur aus ein teilweise depressiver Mensch… nun, ich bin es und bin es doch nicht. Ich kann von Schwarz nach Weiß gehen, wie jeder andere auch. Aber ich möchte hoffen, daß ich einige Hinweise auf etwas Besseres in der Zukunft geben kann“. Kevin Coyne kommt mit seiner Band, The Occasionals, im Rahmen seiner Europa-Toumee auch für einige Auftritte in die BRD. Don’t miss ‚em!