Kevin Coyne – Exzentriker im Exil


Für Andy Summers, der vor seiner Police-Zeit in Kevin Coynes Band spielte, ist er ein "Genie". Für ME/Sounds-Redakteur Manfred Gillig, der ihn im Nürnberger Exil besuchte, ist er noch immer einer der Größten.

Andy Summers‘ späterer Partner Süng nannte ihn in einem Atemzug mit Bob Marley als Vorbild: „Er entblößt sich schonungslos. Ich muß mir einen ansaufen, um seine Intensität überhaupt ertragen zu können.“ Sting stand mit seiner Bewunderung nie allein: Als Kevin Coyne 1973 einen Vertrag bei Virgin unterschrieb und mit MARIORY RAZOR BLADE und BLAME IT ON THE NIGHT zwei exzellente Alben veröffentlichte, sahen die Kritiker bereits einen neuen Bob Dylan am Horizont. Vier Jahre später zollte ihm Johnny Rotten auf dem Höhepunkt der Punkwelle Tribut. Und Jack Holzman, damals Präsident der amerikanischen Firma Elektra, bot dem Mann mit der feinsten britischen Blues-Stimme nach Jim Morrisons Tod an, bei den Doors einzusteigen.

„Vielleicht hätte ich dieses Angebot nicht ausschlagen sollen“, lacht Kevin. „Aber ich fand die Doors sowieso nicht gut: der ganze Rummel um Jim Morrison war reichlich übertrieben.“ Coynes Karriere verlief längst nicht so spektakulär wie die von Morrison. Heute lebt der Mann aus Derby in den britischen Midlands zusammen mit seiner Freundin Helmi, einer Religionslehrerin, ausgerechnet in Nürnberg.

Wer die Wohnung der beiden nichtsahnend betritt, käme wohl nie auf den Gedanken, daß hier einer der eigenwilligsten und besten englischen Rockmusiker sein Domizil hat, der sich gerade mit seiner 25. Platte ROMANCE – ROMANCE (siehe Seite 85) anschickt, an seine beste Zeit in den 70er Jahren anzuknüpfen.

Und doch ergibt das altfränkische Setting für den 47jährigen Musiker, Maler und Poeten mit der wechselhaften und turbulenten Vergangenheit einen Sinn. Denn der „Sozialarbeiter des Rock“ — so „Sounds“ anno 1974 — kümmerte sich von Anfang an mehr um die Randbereiche menschlicher Existenz als um falschen Glanz und Glamour des Showbusiness. Er arbeitete in einer psychiatrischen Klinik als Maltherapeut, er betreute Alkoholiker in Camden Town, und 17 Jahre lang lebte er im Londoner Stadtteil Brixton, wo er alle sozialen Spannungen der britischen Gesellschaft hautnah erlebte. Er wurde selbst zum Alkoholiker und trank vier bis fünf Liter Wein am Tag, als er — völlig abgebrannt und ausgelaugt — nach seiner Scheidung in Nürnberg landete. Im soliden Franken lernte er zunächst die Bahnhofsmission und dann Helmi kennen, die ihm dabei half, trocken zu werden.

Jetzt trifft sich Kevin regelmäßig „mit amerikanischen GIs bei den Anonymen Alkoholikern“, und als Musiker ist er eine lokale Berühmtheit — seit 1988 sind alle Nürnberger Vorstellungen des Musicals „Linie 1″. in dem er als Gaststar auftritt, ausverkauft. In seinem Arbeitszimmer deutet, abgesehen von einem alten Tourneeplakat an der Wand (daneben hängt ein kleines Foto von der Band seiner Söhne), kaum etwas auf den Musiker Coyne hin. Ein Regal mit englischen Büchern nimmt eine ganze Wand ein — der Mann ist belesen, und stolz weist er auf sein erstes Buch mit Kurzgeschichten hin, das kürzlich unter dem Titel ,.The Naked Dress“ in England erschien. Ansonsten scheint das Zimmer aus allen Nähten zu platzen, denn hier stapeln sich die Bilder, die Coyne malt. „Seit ich vor vier Jahren mit dem Alkohol aufgehört habe und nur noch Mineralwasser trinke, kann ich in jeder Beziehung wieder kreativer arbeiten — in der Musik wie beim Malen oder Schreiben. Obwohl Schreiben der härteste Job von allen ist. „

Mit seinen Bildern bestreitet er mittlerweile Ausstellungen von München bis Grenoble. und mit seiner Paradise Band — „alles unverbrauchte, junge Musiker aus Nürnberg, denen ich sagen kann, worauf es ankommt“ — ist er eindeutig auf dem aufsteigenden Ast. Virgin veröffentlicht endlich seine alten Platten auf CD. und hat wieder Kontakt mit ihm aufgenommen — „das freut mich, denn es wird Zeit, daß mal wieder ein paar Tantiemen reinkommen. „

Der englische Exzentriker mit dem trockenen Humor fühlt sich im fränkischen Exil sichtlich wohl. Und doch gesteht er: „London geht mir ab. Irgendwann möchte ich wieder zurück. “ Und dann gießt er sich noch ein Glas Mineralwasser ein, zündet die nächste Zigarette an — „von diesem Laster kann ich nicht lassen“ — und betont: „Ich kenne meinen Stellenwert für die Rockmusik der vergangenen 20 Jahre. Und ich fühle mich noch lange nicht zu alt, um auch weiterhin meinen Beitrag zu leisten. Ich will auch noch in 20 Jahren mimischen.“

Darüber würden sich bestimmt nicht nur Sting und Andy Summers freuen.