Kraftwerk: Autobahn


1.

Es war ein Quantensprung für die moderne Musik: Als im November 1974 das vierte Kraftwerk-Album „Autobahn“ erschien, sollte fürderhin nichts mehr so sein, wie es war, in der elektronischen Populärmusik. Hatten die beiden Kraftwerk-Köpfe Ralf Hütter und Florian Schneider auf ihren ersten drei (noch Synthesizer-freien) Alben „Kraftwerk“, „Kraftwerk 2“ und „Ralf und Florian“ abstrakte Klangwelten mittels Improvisation und dem starken Willen zum Experiment erforscht, trat mit dem Album „Autobahn“ zusätzlich der Pop-Faktor ins Spiel. Die bekannteste Synthesizerband der Welt hatte sich erstmals – und eigens für die Aufnahmen dieses, ihres vierten Albums – einen Synthesizer angeschafft. Einen Mini Moog um genau zu sein, damals mit knapp 6000 Mark so teuer wie ein VW Käfer, der die Realisierung des Projekts erst möglich machte. Das 22-minütige Titelstück, das die gesamte erste Seite der LP einnahm, war etwas, das man in der klassischen Musik als symphonische Dichtung bezeichnen würde: eine elektronische Fantasie über eine Autobahnfahrt. Die Idee für das Stück soll Kraftwerk angeblich bei einer Spritztour mit Ralf Hütters VW Käfer gekommen sein. Dabei haben die Musiker mit einem Cassettenrekorder, den sie aus dem Autofenster hielten, die Verkehrsgeräusche aufgenommen. Ob wahr, oder nicht, sei dahingestellt: Für Kraftwerk war „Autobahn“ jedenfalls der erste vollelektronische Popsong, der Prototyp für den Techno Pop der kommenden Jahre. Die Reise begann mit dem Startgeräusch eines VW Käfers, hupende Autos sausten in irrwitzigen Stereoeffekten zwischen den Lautsprechern hin und her und immer wieder dominierten melodische Impressionen von verschiedensten Landschaften, die der virtuelle Fahrer durchläuft. Das Erstaunlichste aber: Zum ersten Mal gab es auf einem Kraftwerk-Album Gesang. Zeilen wie „Die Fahrbahn ist ein graues Band /Weiße Streifen, grüner Rand“ gaben die Blaupause ab für die Naiv-Lyrik, die die Stücke der Band in den kommenden Jahre bestimmen sollte und waren nicht zuletzt der klingende Beweis dafür, dass es sich bei „Autobahn“ tatsächlich auch um einen Song handelte. Auch wenn das Titelstück, das zu Recht als Geburtsstunde des Techno Pop gefeiert werden darf, den Rest des Albums überstrahlte, sollte nicht vergessen werden, dass „Autobahn“ – wie jede LP – eine zweite Seite hatte. Dort knüpften Kraftwerk an ihre avantgardistische Vergangenheit an. „Kometenmelodie 1“ war ein langsames Ambient-Stück, das Erinnerungen an Tangerine Dream wachrief, der zweite Teil der „Kometenmelodie“ klang wie die melodische, synthiepoppige Ausarbeitung der ersten Version. „Mitternacht“ tönte wie die Parodie eines Soundtracks zu einem billigen Gruselfilm und „Morgenspaziergang“ setzte das musikalisch um, was der Titel versprach: synthetisches Vogelgezwitscher, ein rauschender Bach und Florian Schneiders beseeltes Flötenspiel gaben dem Hörer die Impression eines Waldspazierganges an einem Frühlingsmorgen. Bei den Aufnahmen zu „Autobahn“ wurden Ralf Hütter und Florian Schneider von zwei Gastmusikern begleitet: Klaus Roeder (Geige, Gitarre) und Wolfgang Flür (Percussions). Im folgenden Jahr, nach dem Ausstieg Roeders und dem Einstieg von Karl Bartos, war die „klassische“ Kraftwerk-Quartett-Besetzung geboren, in der die Band 1975 zu einer erfolgreichen USA-Tournee antrat. Die (gekürzte) Version von „Autobahn“ schaffte es als erste Single mit einem deutschsprachigen Text in die amerikanischen Charts (Platz 25, in England: Platz 11). Im Zuge des Erfolgs der Single rutschte auch das Album in die Hitlisten (in den USA auf Platz 5, in England auf Platz 4). Die heute noch anhaltende Weltkarriere der vier Düsseldorfer hatte begonnen und strahlte wiederum auf Deutschland ab. Die Kritiker hierzulande waren dem Album „Autobahn“ kurz nach der Veröffentlichung noch relativ skeptisch gegenüber gestanden. Das änderte sich freilich mit dem internationalen Erfolg: Plötzlich zählte der Prophet auch im eigenen Land.