Laurie Anderson’s 100 Violins


JEDES JAHR FINDET IM KULTURPALAST „SOUTH BANK“ an der Themse das zweiwöchige „Meltdown“-Festival statt. Dabei wird jeweils eine Koryphäe moderner Musik eingeladen, ein „unkonventionelles“ Musikprogramm vollkommen nach eigener Neigung zusammenzustellen. Neben Kontemporärmusikern klassischerer Schattierung wurde auch Elvis Costello diese Ehre schon zuteil. Dieses Jahr ist Laurie Anderson dran. Sie läßt Star-Fiedler Cidon Kremer die Tangos von Astor Piazzolla vergeigen, Autor Spalding Crey dramatische Monologe rezitieren, Arto Lindsay brasilianisch singen, Boyfriend Lou Reed new yorkerisch rocken, den englischen Kuriositätendichter Ivor Cutler Kuriositäten rezitieren verspricht einen Abend mit sich selber „und Freunden“ und hat darüberhinaus unter dem Titel „dancing in the moonlight with her wigwam hair“eine Mini-Ausstellung mit spukhaften Videoinstallationen eingerichtet. Der beim Durchblättern des Programmheftes am eigenartigsten und darum am verlockendsten erscheinende Abend ist aber der mit den „100 Violinen“.“Ich finde, die Geige das leidenschaftlichste Instrument der Welt ist“, schreibt Laurie im Programm. „Es ist außerdem das Instrument, das der Frauenstimme klanglich am nächsten ist (das männliche Pendant ist das Saxophon). Das heutige Programm soll die Stimme als Musikinstrument präsentieren, und gleichzeitig die Geige in den verschiedensten Stilen zeigen, von leidenschaftlich bis zickig…“ So so. Das Konzert ist von Anfang an rundum fesselnd – und, ja, hundert Geigen sind es tatsächlich: wer aber in der Liste der Musiker nach illustren Popstarssucht, fahndet vergeblich. Bekannt ist als solcher nur ein gewisser Lu Edmonds, der einen Bass zupft und einmal bei The Damned war. Ansonsten sind den vielen Geigen hie und da noch Pianos,Tubas.Tablas und dergleichen Farbtupfer mehr beigemengt. Es beginnt mit einem Ken Nordine, der etwas Literarisches über Geigen liest, derweil ein Heer selbiger Instrumente wohlorchestrierte Wind- und Wehgeräusche macht. Es folgt ein atemberaubender Tango von Gidon Kremer sowie ein ebenso atemberaubendes „südindisches karnatisches“ Stück, komponiert und gefiedelt von einem B K Chandrashekar plus wogendem Orchester. Erst eine Stunde später ruiniert Anderson persönlich die magische Stimmung, indem sie ein veritables Katzenmusik-Experiment auftischt: Sie hat eine Geige gefertigt, auf der statt Saiten ein Ton-Pick-Up befestigt ist, und der Bogen statt Pferdehaaren mit einem Stück Tonband bespannt ist-wenn letzteres über ersteres gezogen wird, entsteht Sprechsalat pur und scheußlich. Den verbrät Laurie mit drei anderen Musikerinnen zu einem nervkillenden Finale vor der Pause. Danach geht’s weiter mit einem minimalistischen rhythmischen Stück, das von Elektronik-Bastier Scanner künstlich verfremdet wird. Dann wendet sich das Orchester Debussys „La Mer“ zu, spielt jedoch aus der Partitur nur den Part der zweiten Geige, mit langen, langen Momenten der Stille – eine genialische Idee, auf die postwendend und ärgerlicherweise die dumme Idee folgt, zwei Puppen (eine von Anderson gesteuert) Saiten kratzen zu lassen. Eine Geigenversion von Lou Reeds „Street Hassle“ schafft es, zu gleichen Teilen melodramatisch, minimalistisch und albern zu wirken (Sänger Dean Brodrick singt mit einer derben Prise Ironie – ob Laurie Lou das erzählt hat?). Schließlich gibt’s ein monumentales Finale mit dem kanadischen Punk-Folk-Geiger Ashley Mac Isaac. Fazit: ein Abend mit Höhen und Tiefen, und ein Abend, wie er öfters gewagt werden sollte. Verspielt, verstiegen, mißraten, immer wieder überraschend und deswegen über alle Maßen gelungen.