Kolumne

„Dopamin und blaue Flecken“: Die besten Live-Momente 2025 laut Linus Volkmann

Der beste Platz ist direkt vor der Bühne. Wenn es so dort laut und wunderbar wird, dass alles andere verblasst, ist man auf der richtigen Fährte. Findet zumindest Linus Volkmann – und nimmt uns noch mal mit in die Clubs.

Was war das wieder für ein Konzertjahr, oder? Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe auch 2025 mal wieder die geilsten Konzerte verpasst. Meist versehentlich, manchmal aber auch sehenden Auges. In dunklen Stunden wünsche ich mir den Lockdown zurück. Da lief das popkulturelle Leben immerhin nicht in so einem obszönen Überfluss an mir vorbei. Okay, das klingt jetzt so, als hätte ich mein ganzes Dasein auf FOMO (Fear of missing out) ausgerichtet, aber ein wenig ist es auch so. Das hätte ich gern auch noch mitgenommen und das und das! Hätte, hätte, Würstchenkette.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Zum Glück aber habe ich auch dieses Jahr nicht nur viel verpasst, sondern auch etliches gesehen. Hier kommen zwei Hände voll erinnerungswürdiger Erlebnisse – live und in Farbe. Enjoy. Die Meta-Message ist hier natürlich: Geht mehr auf Konzerte, aber das habt ihr sicher a) eh schon verstanden und b) vielleicht auch gar nicht so niedrig auf der eigenen Wunschliste fürs nächste Jahr.

Power Plush, Charlotte Brandi u.a. / 30.05.25 / Immergut, Neustrelitz

Ich habe Festivals ja schon gehasst, als ich noch jünger war und den Zumutungen von Schlafentzug, Schlamm, Mücken und Dixiklos körperlich noch etwas entgegenhalten konnte. Heute – als ein durch Instagram-Filter jung gehaltener Greis – habe ich natürlich erst recht kein Interesse mehr, Musik outdoor „zu genießen“. Ewig Anstehen für ein Bier, das letztlich sieben Euro kostet, weil man die Pfandmarke verloren hat oder den Lebenszeitbetrug nicht über’s Herz brachte, um sich vor dem Gehen noch mal für die Becherabgabe in eine Schlange zu stellen. Aber es gibt auch schöne Momente in der Open-Air-Kultur, einer davon ist sicherlich das Immergut in Neustrelitz. Hier wird immer noch die freundliche Gitarrenmusik-Utopie der Nullerjahre mit Leben gefüllt, dazu gibt es zeitgemäße Acts, längst natürlich auch Beats, es gibt mitunter große Stars aber vor allem viel zu entdecken in den liebevoll ausgestellten Nischen. Ich sah beispielsweise das schnuffige Chemnitz-Indie-Orchester Power Plush. Mit Charme und ihren Kostümen. Band und Publikum wirkten verknallt ineinander, der Rest war reine Chemie (in a good way).

Auch schön beim Immergut: Es ist nicht alles Musik, Charlotte Brandi las aus ihrem Roman „Fischtage“ am Birkenhain (okay, zum feierlichen Schluss setzte sie sich auch noch mal ans Keyboard). Am Ende dieses Blocks möchte ich euch nur drei Worte mit auf den Weg geben: Immergut, Immergut, Immergut! Macht was draus. Zum Beispiel nächstes Jahr vom 28.-30. Mai.

Molly Punch u.a. / 14.02.25 / Freak-Show, Essen

Wie sang uns einst die Band Fraktus von Schamoni, Palminger und Strunk? „Geschlossene Gesellschaft / keiner kommt rein / keiner kommt raus!“ Ein bisschen so fühlte ich mich bei dem Event der Autorin und Filmemacherin Diana Ringelsiep („Punk As F*ck“, „A Global Mess“, „Millenial Punk“). Zusammen mit ihrem Partner feierte sie in einer Grusel-Core-Kellerbar Geburtstag.

Dort trat ein Trio auf, an dessen Wucht ich mich noch leicht schaudernd erinnere. So präzise bretterten Molly Punch ihren Riot-Grrrl-Sound, ihren hochemotionalen Post-Grunge unter die Leute. Das war Knüppel auf den Kopf aber trotzdem super sensibel – ich persönlich liebe genau diese Mischung. Diese Liebe verschonte auch nicht die Band selbst. Ich bereue nichts.

1000081922
Zwei Drittel von Molly Punch (Foto: Linus Volkmann)

Der Gang 350, Laura Krieg / 02.10.25 / Café Koz, Frankfurt

Der Gang 350 spielt Wave-Core in Duobesetzung. Einer (Bene) übernimmt die Sounds, der andere (Nik) Gesang und Performance. Erinnert von der Aufteilung an DAF, mitunter auch von den minimalistischen wie eingängigen Songs her. Erstmalig hatte ich die Band gesehen, wie sie bei Tageslicht zur Einweihung einer von der schwedisch-deutschen Künstlerin Amelie Persson gestalteten Litfasssäule auftraten. Okay, wie viel Information passt eigentlich in einen Satz? Rund um diese Litfasssäule jedenfalls behaupteten sich Der Gang 350 mit ihrem dystopischen Pop auch vor Zufallsgästen und spielenden Kindern. Nur Respekt dafür von meiner Seite. Unter regulären Bedingungen (als Vorgruppe des kanadischen Electro-Acts Laura Krieg) räumten sie im ASta-Studi-Club Koz alles ab. Keine Minute Stillstand, immer am Ballern, aber trotzdem ein Set, das einen Aufbau verfolgt, trotzdem eine Dramaturgie besitzt. Eine der Entdeckungen des Jahres für mich.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

 

Die 80er Live (Nena, Peter Schilling, Samantha Fox, Cutting Crew, Billy Ocean, Sandra, Nik Kershaw, Gazebo, C.C. Catch, Johnny Logan) / 02.08.25 / Waldstadion, Frankfurt

Eigentlich wollte ich ironisch hingehen, vor Ort allerdings wusste ich plötzlich nicht mehr, ob es sich lohnt die Distanz aufrecht zu erhalten. Auf jeden Fall entstand danach eine meiner liebsten Kolumnen dieses Jahr. Hier nachzulesen.

Jenny Thiele, Paul Sies / 30.06.25 / Romanfabrik, Frankfurt

Es ist Montag, es ist einer der heißesten Tages des Jahres. Die Faszination für Jenny Thieles Sehnsuchts-Pop lockt mich dennoch irgendwo an den Hafen von Frankfurt. Frankfurt und Hafen? Kommt mir auch komisch vor, aber ich schwöre, es stimmt. Die Wahl-Kölnerin mit Fortuna-Ehrenfeld-Hintergrund lässt sich Hitze und stehende Luft im gut besuchten Laden nicht anmerken, sie bringt viel eher die Verhältnisse zum Tanzen. Nächstes Frühjahr gehen ihre Live-Konzerte zum Album PLATZ weiter … Grüner wird’s nicht, Leute. Danach tritt Paul Sies auf, der ist mir zwar ein Begriff, aber so reingeworfen in dessen Kunst hatte ich mich noch nicht. Hier und jetzt ist das auch egal, man wird sofort reingesogen – in alles. Abgründige Texte, Klavier-Performance, Buben-Charme trifft auf Dandy-Attitüde. Als ich in seiner Band am Bass auch noch Henri von Tubbe entdecke, verschwendet sich restlos all mein Dopamin. Ein Abend der schönen Botenstoffe.

20250630_220753
Paul Sies mit Band. (Henri ganz rechts)

Umme Block, Hellsongs u.a. / 10.10.2025 / NBG-Pop, Nürnberg, diverse Locations

Hellsongs, das waren doch diese Schweden, die Metal-Klassiker auf Chor und in Balladen übersetzten. Die Idee besitzt für mich bis heute ihren Reiz. Musik, die durch Härte und Schnelligkeit besticht, einfach vollends dieser Attribute zu berauben. Zwanzig Jahre nach der großen Zeit von Hellsongs klingt das heute – immerhin gleich in einer Kirche – weiterhin sakral und feierlich, aber wie schon damals auch … ein wenig bieder. Das ist nicht next level, das bleibt irgendwie in so einem evangelischen Ferienlager-Swag mit zuviel Erwachsenen stecken. Wilder und zwingender geht’s zu bei Umme Block. Das elektrische Duo von Klara und Leoni muss den rechtschaffen sterilen Keller des Neuen Museums von Nürnberg zum Klingen bringen. Das gelingt. Späte Stunde, Euphorie, Liebe zirkuliert zwischen Band und Publikum. Merkt euch den seltsamen Namen Umme Block, wird noch mal sehr wichtig werden. Das hier ist mindestens klausurrelevant.

„Normal“ / 12.12.25 / Am Römerberg, Frankfurt

Er war einer der ganz wenigen, die in den 90ern aus seltsamen Krawall-Talkshows bei SAT1 und ähnlichen gut rüberkamen. Überhaupt ist die Vita des Grünen-Politiker Thomas Ebermann so grell wie ein Showmaster-Jacket aber dabei immer klassenbewusst, solidarisch und gegen den Strich gebürstet. Schön, diese linksgrünversiffte Ikone mal live zu sehen – und zwar in einer Multimedia-Revue (an der Seite von Thorsten Mense und Flo Thamer), die mit dem deutschen Wahn, den deutschen Rechten, der Mitte und auch den Linken seit den Siebzigern aufräumt. Wenn euch diese Show mal unterkommt, geht hin, dankt mir später. Bei uns wurde sie übrigens geöffnet und geschlossen von Jutta Ditfurth (Ökolinx), auch eine Person, die ich immer schon mal „in echt“ erleben wollte. Toller Abend – Klassenkampf mit Pfiff, wie wir jungen Leute sagen.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Kettcar / 25.01.25 / Batschkapp, Frankfurt

Bei dem Song „Balu“ laufen mir die Tränen runter. Sehr gut. Ich liebe Gefühle, warum nicht auch solche? „Wie die Dinge sich wohl anfühlen / Wenn sie denn noch ganz wären / Ein Lebenslauf gebastelt / Mit den Händen eines Tanzbären“. Ein gut aufgelegtes Konzert, die Band hat Frankfurt lange übersprungen und freut sich sichtlich, so gut aufgenommen zu werden – alles ist an dem Tag wie im Rausch, dabei mache ich doch gerade Dry January. Vielleicht liegt’s ja gerade daran, dass es sich so intensiv anfühlt. Hier spüre ich ein wenig Community, das lenkt ab von dem absolut hostilen, unsolidarischen Außen, das sicher nicht nur mir in diesem Jahrzehnt dauernd ins Gesicht springt.

20250125_195046
Konzertfotografie mit Luft nach oben (Bild: Linus Volkmann)

Balbina / 27.08.25 / Reception Popkultur-Festival, Kulturquartier, Berlin

Bei dem Empfang zum diesjährigen Popkultur-Festival spielte keine Musik, dafür hielt Balbina etwas, das heute gern „Impulsvortrag“ genannt wird. Bedacht aber dennoch klar sprach sie über die gestiegene Verantwortung von Künstler:innen, die heute via Social Media so viel und so unmittelbar Einfluss auf ihre Fans nehmen können – und welche Gefahren es bergen kann, sich politisch zu positionieren, auch wenn man manche Themen gar nicht überschaut. Balbina bezog sich, ohne es direkt auszusprechen, auf den Trend im Pop, mit seiner Stimme nicht nur Empathie für palästinensische Opfer zum Ausdruck zu bringen, sondern sich immer mehr in einem globalen Shitstorm gegen Juden, Jüdinnen und Israel kenntlich machen zu wollen. Ein Thema, das gerade das Popkultur-Festival in Berlin seit langen Jahren begleitet. Den Ausgang markiert eine Kampagne des BDS (steht für Boykott, Deinvestition, Sanktionen), die 2017 eine 500-Euro-Unterstützung für den Flug der jüdisch-arabischen Sängerin Riff Cohnen durch das israelische Tourismusbüro zum Anlass nahm, gegen das Festival Boykottaufrufe zu lancieren, die im links-progressiven Milieu auf fruchtbaren beziehungsweise furchtbaren Boden fielen. Das Thema spiegelte sich auch 2025 in Absagen und Ansagen diverser Acts wider. Umso wichtiger, dass Balbina zumindest bei dieser Begrüßung (hieß: Reception) den Finger auf diese wachsende Wunde der Gegenwart gelegt hat.

PS: Ginge es nach der als antisemitisch eingestuften Boykott-Organisation BDS, hätte dieses Jahr Radiohead keine Konzerte geben dürfen. Ihr „Vergehen“, sie haben 2017 dem Boykott-Imperativ widerstanden und in Tel-Aviv live gespielt. Im Mai 2025 mussten zwei Konzerte in London von Radiohead Gitarrist Johnny Greenwood tatsächlich abgesagt werden. Dort hätte das mit Dudu Tassa eingespielte Album JARAK QUARIBAK zum Vortrag kommen sollen, welches vor allem arabische Liebeslieder mit Beiträgen von Musiker:innen aus Syrien, Libanon, Kuwait und Irak beinhaltet. Doch auch solche Aussöhnungskultur wird vom BDS angegriffen und konnte aufgrund massiver Drohungen gegen die Veranstaltung nicht abgehalten werden.

20250905_230126
Haze’Evot beim Riviera Festival (Foto: Linus Volkmann)

International Music, Lampe, Haze’Evot / 05.09.25 / Riviera-Festival, Hafen 2, Offenbach

– Weckt mich erst wieder, wenn der supercute Songwriter Lampe in Deutschland endlich so groß ist wie Herbert Grönemeyer oder die AfD. Live hat der bärtige Jugendliche für uns zu seinen Hits auch noch lustige Ansprache dabei. Ich bitte im Überschwang danach sogar um ein Fan-Foto. Zurecht.

– International Music wirkten beim Immergut auf mich auch ein wenig lost auf der riesigen Bühnen. Hier im mit fröhlichen Leibern vollgeparkten Hafen 2 entfaltet sich nun aber ihre ganze Zauberkraft. Spleeniger Stadionrock in nerdig, gute Ideen in Reihe und mehr Spielfreude, als wenn ich deiner Mutter einen Tennisball zuwerfe.

– Haze’Evot hatten im Vorfeld über Instagram gefragt, ob jemand Teile ihres Kollektivs für eine Übernachtung nach der Show aufnehmen könne. Schwöre, ich hätte fast alle Introvertheit auf die stille Treppe gesperrt und die Schlafsäcke ausgerollt. Aber am Ende blieb es dann doch bloß beim Konzertbesuch. Aber was heißt hier „bloß“? Haze’Evot aus Israel sind ein Indiedisco-Tanzlokal mit der Energie der Muppet-Show-Band. Eine emanzipative, eine kritische Band, die für alle zwischen den Gräben vermittelt, die noch zu erreichen sind. Schrei(b)t mich an, wenn ihr die Videos sehen wollt, die ich vom komplett ekstatischen Konzert komplett wackelig mitgefilmt habe. Bis dahin hilft das hier aber auch, wenn man Haze’Evot live zumindest erahnen möchte …

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Eric Pfeil und Mondo Sangue / 19.06.25 / „Talking Kaput“, Stadtgarten Köln

Der Journalist, Lebemann und Betexter der Off-Stimme bei VOX „Das Perfekte Dinner“ hat bei Ki-Wi mittlerweile zwei Bestseller zum Thema Italo-Pop veröffentlicht – „Ciao Amore Cioa“ und „Azzurro“, 2026 folgt „Hotel Celentano“. To be honest, ich hatte bereits 2024 versucht, Eric Pfeil und damit das wunderbar luftige Thema Italo-Pop zu einer wiederkehrenden Talk’n’Musik-Show im sommerlichen Köln, zu „Talking Kaput“ zu bekommen. Dieses Jahr klappte es endlich – und ich war schockverliebt in den kauzigen Sympathieträger mit Herz. Bei dem Bühnengespräch fand sich eine weitere Szene-Legende ein, Yvy Pop, deren Act Mondo Sangue später auch den musikalischen Pfeiler des Italo-Pops in den Abend bohrte. Unvergessen zudem, als Eric Pfeil mit seiner Frau den „Tuca Tuca Tanz“ anleitet.

Youtube Placeholder

An dieser Stelle findest du Inhalte aus Youtube
Um mit Inhalten aus Sozialen Netzwerken zu interagieren oder diese darzustellen, brauchen wir deine Zustimmung.

Tuca, Tuca? Was das bitte sein soll? Ist wunderschön, aber schwer zu beschreiben, zum Glück gibt es einen kleinen Ausschnitt davon hier bei Minute 2:40.

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte im Überblick.

ME

Linus Volkmann schreibt freiberuflich unter anderem für MUSIKEXPRESS. Weitere Artikel und das Autorenprofil gibt es hier.