Madness / Ein Schritt jenseits vom Wahnwitz


Es gibt nur wenige Bands, die sich ihren Ruf durch eben jenen Namen erhalten können, den sie sich selbst gaben – Madness zählen zu ihnen. Noch vor nicht allzu langer Zeit bedeutete ihre unorganisierte Organisation, die sich mit Wahnsinn, Gelächter, Tanz und einem nach eigener Aussage „Nutty Sound“ beschäftigt, kaum etwas, aber in diesen Tagen, da einem Reggae, Bluebeat und Ska allenthalben aus dem Radio entgegentönen, ist die Sieben-Mitglieder-Band aus dem Norden Londons nach zwei Jahren Grabens endlich auf eine Goldmine gestoßen. VIhre erste Single auf dem Label ,,2-Tone“, „The Prince“, machte Eindruck. Ihr Album „One Step Beyond“ auf Stiff sorgte danach für einiges Aufsehen, aber zum ganz großen Schlag holten sie aus, als sie zusammen mit den Freunden von The Specials und Selecter auf eine „2-Tone“-Tour gingen, bei der sie 42 Auftritte absolvierten. Keine der Bands ging von der Bühne, ohne nicht mindestens fünf Zugaben gespielt zu haben. Um wirklich nachempfinden zu können, was es mit Madness auf sich hat – auf der Bühne, auf Platten und im Alltag muß man die Zeit fünf Jahre zurückdrehen. Damals nannten sie sich die North London Invaders. Chas Smash, der seit jenen Tagen dabei ist und jetzt als Tänzer/Conferencier und Organisator wirkt, erklärt: „Wir waren einfach ’ne Bande von Freunden, hingen in unserer Stammkneipe rum und wollten was ganz Aufregendes auf die Beine stellen. Lee, Mick und ich machten uns an R&B-Sachen zu schaffen und an so Zeug von den Coasters, während die anderen noch lernten, ihre Instrumente zu spielen. Ich lernte damals Baß, und unser Manager John trommelte. Weil wir aber auch unsere normale Arbeit hatten, kamen wir nicht recht voran. Bevor wir zu den Invaders wurden, mußten wir elfmal Leute auswechseln. Als unser Sänger ,Suggs‘ zur Gruppe kam, nannten wir uns Morris and the Minors, später dann Madness.“ Obwohl sie über hinreichend Selbstvertrauen verfügten, kamen Madness dennoch nicht so recht voran, bis Freunde ihnen von den Specials erzählten, einer Band, die ähnlich klang, aber schon Erfolg hatte, in bekannten Clubs auftrat und beste Kritiken einheimste. Man begutachtete die Specials, traf sich mit ihnen und kam überein, die Debut-Single „The Prince“ auf dem 2-Tone-Label zu veröffentlichen, das die Specials gerade gründeten. Außerdem erklärten sich Madness einverstanden, auf der oben erwähnten Tour als Vorgruppe aufzutreten. Es dauerte nicht lange, da bekundeten die großen Plattenfirmen ihr Interesse, aber Stiff hatte schon die lockeren Finger im Spiel, weil die Band bei Ober-Stiff Dave Robinson zur Hochzeit im „Hope and Anchor“-Pub aufgespielt hatte.“.Anfangs hatte Stiff uns abgelehnt'“, erinnert sich Chas, „aber als wir bei Robinsons Hochzeit alle zum Tanzen und Lachen brachten. änderte er spontan seine Meinung und bot uns einen recht guten Deal an.“ Zu Anfang bevorzugten Madness den R&B-Sound, aber der nächste Schritt in ihrer Entwicklung führte in Richtung Reggae. Den rechten Tanz-Reggea fanden sie bei Prince Buster, dem Bluebeat-König der sechziger Jahre aus Jamaika. Ihrem Mentor widmeten sie „Prince Buster“ und „One Step Beyond“. Buster jedoch war zu einer Zeit populär, an die sichdie Madness-Mitglieder so recht nicht erinnern können. Wieso haben sie sich den alternden Jamaikaner ausgesucht? ,,Als der Punk rauskam, gefiel er uns nicht so richtig. Wir hörten uns Sham 69 an und auch die Pistols, aber davon bekamen wir eigentlich nur Kopfschmerzen, und es war irgendwie deprimierend. Zu Konzerten sind wir kaum gegangen“, erinnert sich Suggs. „Wir waren auf der Suche nach neuen Sachen. Uns gefielen Motown und Bluebeat. Ich hab‘ gebrauchte Buster-Platten aufgetan, „AI Capone“ zum Beispiel, und wir fanden die gut und witzig. Sie hatten genau den Humor, der uns gefiel. Saxofon und Baß hatten Anklänge an den R&B, also fiel es uns nicht schwer, da mitzuhalten. Aber Buster ist echt komisch, besonders seine Texte. Viel witziger als die anderen Bluebeat-Typen.“ „Irgendwie ist es aber ziemlich blöd gewesen, ihm eine Platte zu widmen, denn inzwischen ist er Moslem geworden, will Priester sein, und wenn er wieder Platten machen sollte, kommt er bestimmt mit Disco oder irgendwelchem religiösen Zeug. Niemand mag ihn mehr, weil ihm all das zu Kopf gestiegen ist. Er hat versucht, sich seinen ehemaligen Ruhm zu erhalten, aber der ist eben von gestern. Witzig ist er jetzt nicht mehr.“ Der Humor, den Buster einmal sein eigen nannte, war die Inspiration zum ,,Nutty Sound“. Das ist weder Bluebeat noch Ska, sondern genau der Wahn-Witz, der die Band auszeichnet. ,,Eigentlich bedeutet es nichts anderes, als auf die Bühne zu gehen, zu lachen und Spaß zu haben“, sagt Chas.“.Wir wollen weder unter Mode-Trend abgeheftet werden noch als rüde boys gelten, und darum haben wir für uns die Bezeichnung .Nutty Sound‘ geprägt.“ Die Gefahr liegt bei Ska und Bluebeat darin, daß sie im Augenblick eine wesentliche Modeströmung sind und daß sie ebenso wie Bluebeat damals von einem Tag auf den anderen vergessen sein können. So ging es Prince Buster.“.Das ist bei uns anders“, unterbricht Suggs, ,,denn wir spielen auch andere Sachen. Rock’n’Roll. R&B und Pop, nicht nur Bluebeat, und daher haben wir uns genügend Möglichkeiten offengelassen, um Fortschritte zu machen. Ich habe das Gefühl, daß die meisten unserer Songs nicht mehr Ska sind, sondern off beat guitar, und außerdem sind nicht alle Mitglieder der Band auf Ska abgefahren, so daß auch oft Rock-Nummern herauskommen. Hoffentlich können wir deswegen irgendwann einen anderen Sound finden.“ Es besteht kein Zweifel: im Kopf wie auf der Bühne sind Madness der reine Irrwitz. Hin Mordsgetöse. Tarzan-Schreie und Rauchbomben im Saxofon gehören zu den Normalmätzchen, die diese Band auf der Bühne einsetzt. Ihr ,,Nutty Walk“ ist ein geradezu spektakulärer Gag. Überraschend an Madness ist wohl, daß sie nicht die große Deprimiertheit predigen wie die anderen Skinhead-Bands. Suggs schafft Klarheit: ,,Es gibt ’ne Menge bescheuerte Pop-, Mod- und Skin-Gruppen, die witzige Texte singen, aberdie Texte bedeuten nicht viel, denn sie stammen von Chinn & Chapman und solchen Leuten. Wir sind die einzige ernstzunehmende Band aus der Arbeiterklasse, die nicht mit aller Kraft auf deprimiert macht. Anfangs hatten wir alle verschiedenen Geschmack, aber langsam nähern wir uns einer ganz speziellen Art von Satire. Es geht um die schauderhaften Dinge im Leben, aber wir versuchen, sie mit Humor zu nehmen. „Land Of Hope And Glory“ handelt zum Beispiel von der Erziehungsanstalt, in der Lee war, aber wir reden nicht davon, ,daß die Regierung abgeschafft werden soll* oder daß ,man die Schweinehunde umbringen‘ sollte. Wenn Lee sich an die Zeiten erinnert, dann fällt ihm ein, was auch Ulkiges daran war. Schwarzer Humor ist das, eigentlich nichts als Ironie.“ „Die meisten dieser Bands haben sich aufgelöst, weil sie die Zwänge nicht mehr ertragen konnten, die sie sich selbst geschaffen haben“, sagt Chas. „TRB zum Beispiel sagen: ,Wir kämpfen für die Schwulen, Rock gegen Rassismus‘. Die reden soviel davon, wogegen sie den Kampf aufnehmen, daß sie am Ende nicht mehr kämpfen können und sich auflösen. Dasselbe bei Sham 69. Da wird zuviel gequatscht, und das langweilt die Leute. Niemand hört ihnen mehr zu, denn sie kommen alle zehn Minuten mit irgendeiner neuen Meinung: erst sind sie für die Skinheads, dann plötzlich woüen sie sie bei ihren Gigs nicht sehen. Also fühlen sich die Kidsan der Nase herumgeführt. Manche von den Leuten werden so großkotzig, daß sie plötzlich nichts mehr mit denen zu tun haben wollen, von denen sie anfangs gestützt wurden. Mich freut es, wenn die Skinheads zu unseren Gigs kommen, solange sie keinen Ärger machen.“ „Ärger“ ist das Schlüsselwort. Obwohl sich Madness wohlweislich nicht als „politisch“ abstempeln lassen und auch keine Gigs für „Rock Against Racism“ spielen, bringen die Fans, zum größten Teil Skinheads, unglücklicherweise ihre ureigenen Ansichten mit. Es ist nicht ungewöhnlich, bei Madness-Auftritten „SiegHeil“-Rufe zu hören, Slogans für die National Front, das British Movement oder die Anti-Nazi-Bewegung. Kürzlich wurden bei einem Auftritt Leute mit anderer politischer Meinung mit Rasiermessern malträtiert. Suggsy hat dazu etwas zu sagen. ,,An diesem politischen Scheiß können wir nicht viel ändern. Wir können uns höchstens persönlich mit den Jungs unterhalten und ihnen erklären, daß wir keinen Ärger wollen. Es gibt ’ne Menge Leute, die unsere Musik mögen, aber nicht wagen, zu unseren Gigs zu kommen, weil es schon ein ziemlich furchterregender Anblick ist, 300 kurzgeschorene Jungs vor sich zu sehen. So sehr die Skins uns mögen, so schaden sie uns wiederum mit dem politischen Quatsch, den sie von sich geben. Mir ist es egal, wer kommt, um uns zuzuhören, ob’s Chinesen sind, Japaner, ob sie rot sind, grün, schwarz oder weiß, solange sie sich anständig aufführen.“ „Weil wir Skinheads waren und einige von uns es noch immer sind, kommen Skins zu unseren Konzerten, und die gehören zur National Front, zum British Movement oder zur Sham Army, und sie vermuten, daß wir auch hinter all dem Scheiß stehen. Aber das ist natürlich nicht so. Also ließen wir uns die Haare ein bißchen länger wachsen und kamen in bunten Stiefeln. Da haben die Leute gesagt, wir sind Punks. Reiner Schwachsinn und ärgerlich obendrein. Deshalb tragen wir jetzt die ulkigen Anzüge auf der Bühne, damit uns keiner mit irgendwas identifizieren kann. Das ist keine Mode und nebenbei noch witzig — nichts anderes wollen wir.“ „Wir sagen den Kids, daß wir keine ,Sieg Heils‘ hören wollen“, beteuert Chas. „Und wir sagen ihnen auch, wenn sie unsere Gigs kaputtmachen wollen, sollen sie gefälligst wegbleiben. Manche haben das geschnallt, aber es gibt immer noch genügend Idioten.“ Einmal haben Madness versucht, sich von all den politischen Dingen zu distanzieren; Chas Smash atmet tief durch und lacht dann sarkastisch. „Man drehte uns die Worte ins Gegenteil um, und das hat uns sehr geschadet. Indem man Stellungnahmen abgibt, ist man schon politisch, und die Kids, die das lesen, die halten uns dann nicht mehr für ihre Kumpels, sondern für Politiker, und sie denken, wir wiederum halten sie für Idioten. Das Einzige was hilft, ist, sich persönlich mit ihnen zu unterhalten, und das haben wir bei einem Gig gemacht, als manche immer wieder ,Sieg Heil‘ schrien. Ich sagte ihnen: ,Wie können wir pro-britisch sein, indem wir ,Sieg Heil‘ schreien, wenn im Krieg viele Leute durch die Bomben ums Leben gekommen sind, die von eben jenen abgeworfen wurden, die .Sieg Heil‘ riefen?‘ Suggs und Chas sind normalerweise diejenigen, die über die Band sprechen, aber die anderen stehen ebenso voll hinter ihren Songs und den Auftritten. Mike Barson, der Keyboard-Mann, Lee Thompson am Saxofon und Wood an den Drums kümmern sich darum, wie die Band auf der Bühne rüberkommt. Bassist Mark Bedford und Chris Foreman, der Gitarrist, halten sich im Hintergrund und sorgen für den reibungslosen Ablauf der Musik, machen das Zusammenspiel von Sound und optischer Präsentation zum aufregenden Schauspiel. Wenn auch bei Stiff, der flexibelsten Schall-, plattenfirma der Welt, schon immer ein positives Verhältnis zwischen Künstlern und Firmenangestellten herrschte, beharren Madness doch darauf, ihre eigene Politik zu betreiben. „Wir haben verfolgt, welchen Weg Kilburn and The High Road gegangen sind und Rocky Sharpe and the Razors, und die wurden zu kommerziell. Ian Dury hat man mit einem ganzen Orchester ausgestattet und mit Jazz-Funk, und andere sind einfach von der Bildfläche verschwunden. Warum? Weil sie ihren Plattenfirmen oder ihren Produzenten zugestanden haben, die Entscheidungen für sie zu treffen. Das soll uns nicht passieren. Wir sichern uns unsere eigenen Verlagsrechte, und wir kümmern uns auch um das Marketing. Wir bestimmen den Weg, den die Firma für uns gehen soll.“ „Die Zukunft der Band bricht wie ein Sturm über uns herein“, sagt Suggs. „Alles klappt. Was uns jedoch besonders freut, ist die Tatsache, daß wir fünf Jahre lang durchgehalten haben, ganz auf uns allein gestellt. Wir hatten alle geschorene Haare und wir standen auf Motown und Bluebeat, und als die Band Erfolg hatte, da gefiel den Leuten, was wir machten. Zuvor hatten wir nur eine kleine Gefolgschaft, und wir selbst dachten, daß es vielleicht dabei bleiben würde. Jetzt gibt es drei andere Bands, die ungefähr dieselbe Richtung vertreten – die Specials, Selector und The Beat – und wir kommen alle sehr gut miteinander aus. Es gab nur wenige Bands mit einem ähnlichen Sound, wir konnten unsere Experimente mit Bluebeat und R&B machen, und daher brauchten wir nie das Gefühl zu haben, irgendjemanden nachzuahmen. Unser Erfolg kam so schnell, daß es nicht nur damit zu tun hatte, wie hart wir gearbeitet hatten, sondern wir hatten einfach auch Glück. Jetzt, da wir den Erfolg haben, wird es für uns schwerer, aber ihn zu erlangen, das war nicht besonders schwer.“ Zusammen mit Lene Lovich, Rachel Sweet und Wreckless Eric werden Madness übrigens demnächst in einer Boeing 747 auf Welttournee gehen. Das wird die sogenannte „Stiff Tour of the World“ (oder: „Stiff conquer the world“) sein, und sie wird voraussichtlich im Sommer 1980 starten. Zuvor jedoch wird noch ein weiteres Madness-Album erscheinen, dessen Titel noch nicht feststeht. „Keine Sorge“, läßt die Band dazu vernehmen, „mit der Platte wollen wir euch eine ganz besondere Portion Wahnsinn verpassen.“