Marianne Faithfull: Berlin, Columbiahalle


Das mit dem Singen war ein Unfall, Folge einer Partybegegnung im turbulent swingenden London, von deren Fluch und Segen Marianne Faithfull seit 35 Jahren verfolgt wird. Ausgerechnet in Andrew Loog Oldham, dem Strippenzieher der Stones, glaubte sie den einzigen ehrlichen Manager der Popwelt getroffen zu haben – es war nicht der einzige Irrtum jener Dame in Weiß, die nun wieder auf der Bühne ihres Lebens steht und das Mikrokabel hält, als wäre es eine Federboa. Mit der Zigarette hantiert sie so elegant linkisch, als sei sie auf eine meterlange Platin-Spitze gesteckt. Und Marianne Faithfull singt. Besser gesagt: Sie reibt sich mit ihrer grazil versoffenen Stimme an Geschichten voller verlorener Liebe, Scheitern und Verzweiflung.Trauriges Schicksal, heitere Marianne.“Ich freue mich so sehr, in Berlin zu sein“, ruft sie nach dem Nummer-Sicher-Einleitungshit „Broken English“ emphatisch aus. Profispruch? Nein. Die Art, wie sie dabei in die Knie geht, die charmante Unbeholfenheit einer Frau, die mehr Krisen überlebt hat als manche deutsche Reihenhaussiedlung, sie wirken echt. Zum Dank wird der Engel in weiß bejubelt von Gleichaltrigen, die sich an die Hits und nicht an die Ausfälle von damals erinnern. Die Zeit ist so gnädig, manche Dinge unscharf werden zu lassen. Das gilt jedoch nicht für Marianne. Seitdem sie herausfand, daß Oldham nicht ehrlich, daß Jagger ein Arsch und sie selbst zum Junkie geworden war – seither ist Marianne dazu verdammt, sich das eigene Schicksal jeden Abend vor Augen zu führen. Das tut sie heute mit einem Hauch von Altersweisheit und Triumph, den sie aus dem schieren Überleben bezieht: Jagger und die Spritzen, den kreativen Stillstand, selbst den Single-Flirt mit Metallica hat ihre Grandezza unbeschadet überstanden. Heute wirkt sie größer als die eigene Geschichte, da sie spätestens seit „21st Century Blues“ nicht mehr auf die Erfolge der Vergangenheit reduziert ist. Sie singt zwar immer noch Lieder aus der Zeit der Blumenkinder, stellt aber Roger Waters‘ bittere Absage an diese Epoche, „Incarceration Of A Flower Child“, direkt daneben. Unbeachtet des Inhalts löst beides im Publikum Verklärung aus: Nostalgie war für die meisten heute Abend der Grund des Kommens, nicht das Bedürfnis nach Aufarbeitung. Doch wer nur hier ist wegen des ersten, des historischen Hits der Faithfull, muß bis zum Schluß ausharren. „As Tears Go By“ schickt die Menschen nach Hause, zurück in die Dunkelheit der Reihenhäuser.