Mit der Trambahn nach New York


Vom Münchner Hauptbahnhof in einer halben Stunde bis in die Bronx - und das mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Sportfreunde Stiller machen's möglich, als siebter deutscher Ad in "MTV Unplugged" - der ME war an drei Tagen vor und hinler den Kulissen dabei.

FREITAG, 16.01.2009, 18:00 UHR, BAVARIA FILMSTADT, GEBÄUDE 42 / STUNT-CENTER

Bequem geht anders. Aber wer will das hier schon? Schließlich sind die 500 Gäste, die heute zur Generalprobe hinaus an‘ den Geiselgasteig gepilgert sind und nun fünf Stunden lang auf Holzbänken Sitzfleisch beweisen müssen, fast ausschließlich Medienvertreter und Freunde der Band. Letztere sind laut Rüdiger Linhof „die beschissensten Konzertbesucher, die man sich vorstellen kann. Da hockt jeder da, als hätte er ’ne Magen-Darm-Erkrankung. Bitter enttäuscht, dass es kein Freibier gibt. ,Soll ich jetzt für dieses Lied, das ich schon 30-mal live gesehen habe, klatschen?'“

Dennoch ist in der Wellblechhalle ein gewisses Hochgefühl, ein Bewusstsein, an einem besonderen Ereignis teilhaben zu dürfen, auszumachen. Schuld daran trägt unter anderem Peter, der vor dem Startschuss ein paar um Geduld und mangelnde Strenge bittende Worte ans Publikum richtet. Das emsige Gewuscl der Kameraleute, der Kabelhalter und Tontechniker, der Stagehands und Securitys tut sen Übriges. Hinzu kommt die eindrucksvolle Kulisse, in der sich die Sportfreunde namentlich verewigt haben: Flo ist eine Werbetafel der Fluglinie „Aeroflo“ gewidmet, Rüde hat sich mit „Ru(e)de Records“ seinen eigenen Plattenladen hinstellen lassen, Peter ist mit „Ladd’s Pitstop“ vertreten. Und dann wäre da noch Anheizer Sven, der mit seinem erprobt volkstauglichen Humor die Dos And Don’ts für den Abend klarmacht. Dos: Sichtund vor allem hörbar Spaß haben, immer wieder Spaß haben (sollten Songs wiederholt werden müssen), sich auf einen langen Abend einstellen, mit dem verglichen „Herr der Ringe“ ein Kurzfilm sei. Don’ts: Aufstehen, eingeschaltete Handys, Fotografieren, Filmen, Mitschneiden. Sven wörtlich: “ Da behalten wir uns sämtliche Maßnahmen vor, wir beleidigen sogar das Gerät!“

Dann kommt endlich das „Go!“ von Regisseur Uwe Flade. Am rechten Ende der Häuserzeile, direkt vor dem ersten der drei hergerichteten Sets, in denen die Sportis ihre umarrangierten Lieder in Szene setzen, wird ein Gully-Deckel weggeschoben. Aus dem Loch im Boden klettern Peter, Flo und Rüde. Flo wird sich später noch lebhaft an den Moment des Auftritts erinnern: „Zum Gully führt ein kleiner, enger Gang, drei Meter lang — da kriegst scho Platzangst. Da sind wir drin g’hockt, hinter uns der Produktionsleiter. Der wollte uns ein Zeichen geben. Wie wir wie damals bei ,Gesprengte Ketten‘ bei der Tunnelflucht da drin hocken … Erst sechs Monate lang geprobt, so richtig geil vorbereitet, und jetzt hier unten im Tunnel, auf der Flucht vor irgendetwas, total angespannt. Wir zum Produktionsleiter: Ja, was is’n? Diirf mer raus? Lass uns raus! Wir wollen!‘ Er: ,Wart‘ nur, wart‘ nur!‘ Es war ganz seltsam, ich hab echt Gänsehaut g’habt. Und dann: Jetzt los! Bitte raus!‘ Das muss ausgeschaut haben, als wir aus dem Gully rauskamen. Kanalratten!‘ Rein äußerlich machen die Sportfreunde in ihren elegantlockeren 70s-Outfits allerdings nicht den Eindruck von dreckigen Dränagenbewohnern. Und auch die 26 dargebotenen Songs erstrahlen in klarem, vornehmlich umarrangiertem Soundgewand. Für ganze 20 Titel suchte das Trio Infernale zusammen mit Pianist Dave Anderson und Gitarrist und Monta-Mastermind Tobias Kuhn neue Hcrangehensweisen und testete dafür ausgiebigst jedes erdenkliche Tonwerkzeug. Flo : Ich war in einem absoluten Wahn gefangen, möglichst viele Neuartigkeiten heranzuschaffen. Rüde: Flo war in einem Jagdgeschäft. Flo: Ich hab Vogelpfeifen besorgt. Rüde: Er kam auch mit Schrotflinten an. Flo: Das war dann doch zu laut, das hat dem Tobi wieder nicht gepasst. Zum Einsatz kommen u.a. Streicher („Ein Kompliment“), Bläser („7 Tage, 7 Nächte“), Gießkannen und Bierflaschen („Erste Wahl“), das chinesische Streichinstrument Erhu („Tischtennis“), Säge („(Tu nur das) Was dein Herz dir sagt“), Drehorgel („’54, 74, ’90, 2010“), ein Highschool-Chor (bestehend aus zwei Emil Bulls, Sänger Christoph von Freydorf und DJ Zamzoe aka Paul Rzyttka, Roman Fischer und die Sängerinnen Julia Viechtl, ihres Zeichens Bassistin der Münchner Band Fertig Los!, Ute Kurz und Kja Lodge) und ein A-cappella-Intro: „Alles Roger“ lassen die drei Fußballfans mit der Verwurstung der Namen zweier Hoffenheim-Stürmer (Demba Ba und Chinedu Ogbuke Obasi) beginnen („Si-dem-baba-o-ba/ Si-dem-ba-ba-o-ba“). Zwei Coverversionen streuen sie auch ein: „Rock & Roll Queen“ von und mit The Subways, die in Cowboy-Kluft antreten. Ein Song mit Big-Apple-Bezug darf natürlich auch nicht fehlen: „Ich war noch niemals in New York“ von und irgendwie auch mit Udo Jürgens. Die drei neuen Songs im Programm („Hallo Du“, „Lass mich nie mehr los“ und „Supersonnig“) sollen wohl vor allem eines sein: breitenwirksam. Mindestens so viel wie in den musikalischen Vorträgen passiert jedoch im Dazwischen. So bricht sich ständig jene bestimmte Art von Albernheit Bahn, die nur in einer eingeschworenen Gang gedeihen und diese unaufhaltsame Eigendynamik entwickeln kann. Auch an Malheuren mangelt es nicht: So bricht zwischen „Frühling“ und „Wie lange sollen wir noch warten“ die Klinke in der Buchse von Rüdes Kontrabass ab, was die in Peter und Flo schlummernden Entertainer-Qualitäten zu Tage fördert. Als sich nach und nach vier Stagehands berufen fühlen, die Lage am Kontrabass in Augenschein zu nehmen, vergleicht Peter die Situation mit dem Herumschrauben an einer offenen Motorhaube, bei dem die drei danebenstehenden Besserwisser nichts anderes wollen als zuschauen und neunmalkluge Kommentare à la „Du, Manni, da is‘ der Hubraum ausg’laufen!“ von sich geben. Nach einer gefühlten dreiviertel Stunde hat Cheftechniker „Holy Harry“ (Flo: „Der heilige Harald hat uns während unserer Laufbahn schon einiges gerettet, der kann wirklich alles reparieren: jedes Musikinstrument, Fernseher, Bus, Keilriemen, alles!‘) endlich den abgebrochenen Klinkenstecker aus der Buchse gefriemelt, und die Show kann weitergehen. Durch Verzögerungen wie diese brauchen die Sportfreunde Stiller geschlagene fünf Stunden, bis sie die Schlussnummer „Ich, Roque“ über die Bühne gebracht haben und die Freitagabend-Gäste um 23 Uhr in die Nacht entlassen.

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SAMSTAG, 17.01.2009, 18:00 UHR, BAVARIA FILMSTADT, GEBÄUDE 42/STUNT-CENTER

Die Begeisterung ist groß – bei den über die Sportfreunde-Website, Radiosender und MTV rekrutierten Fans durchaus, der Mann vom ME hingegen fragt sich, ob das wirklich sein muss: Noch mal voraussichtliche fünf Stunden auf diesen Pritschen ausharren, nur um 26 Songs zu hören und zu sehen, deren Darbietung er am vorherigen Tag in genau der gleichen Reihenfolge schon einmal beiwohnen durfte? Schon der Auftakt gestaltet sich spektakulärer, wird doch der inszenierte Kanahsations^ gang des flotten Dreiers von Propeller-Geräuschen, Crash-Klängen, Autotüren-Schlagen und Durch-Pfützen-Stapfen begleitet. Die Hoffenhcim-Anspielungen wurden über Nacht noch ausgebaut, der beträchtlichste Unterschied zum Vorabend ist aber die ungleich größere Aufgeschlossenheit des Auditoriums. Nahezu alle umgestalteten Lieder werden binnen Sekunden erkannt, „Whoos!“ und „Yeahs!“ branden dabei auf, die Ovationen sind meist ohrenbetäubend. Ein paar Mal trampeln die Sportfreunde-Gefolgsleute so wild vor Begeisterung mit ihren Füßen auf die Tribüne, dass man befürchtet, sie stürzt ein. Regisseur Uwe weiß diese Bereitschaft zum Mitgehen zu nutzen und lässt zwischendurch eine Handvoll Publikumsshots drehen, da er während der Songs nicht dazu kommt-aufder Bühne passiert einfach zu viel. Entgegen der landläufigen Meinung, dass der Zuschauer in der ersten Reihe am nächsten am Bühnengeschehen dran ist, hat Uwe die beste Sicht. Denn auf dem Regiebildschirm laufen elf Kamerabilder zusammen, durch die man ganz andere Perspektiven auf die Musiker hat. Eine Kamera filmt zum Beispiel über die aufgereihten Geigen hinweg, eine andere fing Flo am Schlagzeug ein. Diese Konzentration auf einzelne Akteure und die auf dem Bildschirm viel intensiver leuchtenden Farben verschaffen sofort einen Eindruck, wie das Endprodukt im Fernsehen oder auf DVD aussehen wird.

Auf der DVD landet hoffentlich auch eine der wohl unterhaltsamsten Pannen der zwei Abende. Billy Lunn, Sänger der Subways, verpatzt zwei Mal die in Deutsch gehaltene zweite Strophe von „Rock & Roll Queen“ („Du bist die Sonne/ du bist die Einzige“), was wiederum Peters Sprachzentrum so sehr durcheinanderwirbelt, dass er beim dritten Anlauf plötzlich auf Deutsch singt. Gottlob glückt die nächste Anstrengung, die prompt mit einem Pyro-Effekt belohnt wird.

MONTAG, 02.02.2009, SCHWABING, CAFE RINGELNATZ

Flo und Rüde trudeln ausgeruht im Lokal ein. Die Abhörsitzungen wurden gerade abgeschlossen. Man hat sich für jeweils eine der zwei bis vier Versionen dev aufgezeichneten Songs entschieden, nun geht’s ans Mischen. Wann kam MTV eigentlich mit der Idee für das „Unplugged“ auf euch zu? Rüde: Vor zwei Jahren. Flo: Das war ein Ritterschlag, der weh getan hat am Anfang. Wie gesagt, die Ehre war groß, aber wir dachten: ,Wir und Unplugged – wie passt das zusammen?‘ Im nächsten Moment dachten wir aber schon: ,Wer, wenn nicht wir, die so viele Ideen haben.‘ Und warum ausgerechnet New York? FLo: Da gab’s Billig-Flüge von der Aerof lo. Nein, wir haben ganz lange nach einer Location gesucht. Wenn ich 25 sage, liege ich nicht einmal falsch. Wir haben alles mögliche angeschaut. Vom Kesselwerk über ein Elektrizitätswerk, ein Donauschiff bis hin zu einem alten Schwimmbad. Rüde: Und New York ist eine Stadt, die für verschiedenste Einflüsse aus aller Welt steht. Das bringt natürlich viele Ideen und Freiheiten mit, die man beim Umarrangieren der Lieder brauchen kann. So benutzt man dann ein fernöstliches Instrument wie eine Erhu oder eine Harfe oder ein Grammophon. Wie lief denn die Integration von Udo Jürgens? Rüde: Wir hätten gern mit ihm zur selben Zeit auf der Bühne gestanden. Er hatte Lust, wir hatten Lust, bloß hatte er keine Zeit, weil er au f Tou r war. A ls er mal zwei Tage in München auf Urlaub war, haben wir ihn im Hotel vor einem Green Screen gefilmt, während er mit Peter im Duett singt… Flo: Er musste es ja noch mal neu einsingen, weil wir das Lied in einer anderen Tonart gespielt haben. Rüde: Wir haben seine Stimme an ein Metronom angelegt, haben seine Einsätze so ausgezählt, dass er genau an den richtigen Stellen einsetzt. Und den vor dem Green Screen aufgenommenen Udo haben wir dann in ein Foto vom Münchner Plattenladen .Optimal‘ reingestamptt. Das Ganze wiederum haben wir dann in Rüdes Recordstore reingestampft. Im Nachhinein find ich es fast besser, dass er es nicht live mit uns gesungen hat, weil es so was Skurriles hat, wie er da im Plattenladen auftaucht und stehen bleibt. Habt ihr unter den MTV-Unplugged-Konzerten einen Favoriten? Flo: Nirvana. Auch wenn das vielleicht nicht unbedingt das innovativste war, aber das war für mich am stimmungsvollsten. Von den Deutschen hat es besonders eine Band geschafft, das Ganze als Thematik zu sehen und nicht nur als: „Wir spielen unsere Lieder halt akustisch.“ Das waren Die Ärzte. Rüde: Wenn ich an die früheren Unpluggeds denke, denke ich nicht an die Lieder, ich denke an die Location. Bei den Fantas denke ich an die Höhle und nicht daran, wie sie ,Tag am Meer‘ spielen. Bei den Ärzten denke ich an die Rock’n’Roll-Realschule.

Album-VÖ: 22.5.

www.sportfreumlestiller.de