Mut zur Maschine


Sehen so die Popstars der Zukunft aus? J.J. Jeczalik, Anne Dudley und Gary Langan (v.l.), auch unter dem Namen ART OF N O I S E bekannt, schikken schamlos die Mikrochips und Disketten an die Front. Michael Reinboth besuchte Mastermind Gary Langan in seinem Maschinenpark.

Heroisch hält eine Hand einen Mikrochip. Art Of Noise benutzen das Kernstück der Digitaltechnologie als musikalisches Aushängeschild. „Viel öfters als man denkt, wird heute die Musik aus den Computerzellen abgerufen“, sagt Gary Langan. einer der drei Techno-Cracks von Art Of Noise.

Zwar führen uns Videos noch Popstars vor, doch die sind oft genug nur noch Statisten, mit einem phantastisch funktionierenden technischen Equipment im Rücken. Daß irgendwann selbst die „natürlichen“ Stars verdrängt werden, scheint nur eine Frage der Zeit. In Deutschland nahm man einen Affen als Moderator, die Engländer sind da einfallsreicher: Programm-Produzent Peter Wagg schuf Max Headroom. eine elektronisch gesteuerte Maske. Max moderiert eine Musikshow, macht Interviews und obendrein Werbung für Coca Cola. Seit „Paranoimia“, seinem Vinyl-Debüt für Art Of Noise, ist er auch auf dem Platten-Sektor ein Star.

„Es war für beide Seiten ein Privileg zusammenzuarbeiten“, sagt Gary Langan über die Puppe, „er bewahrt unsere Anonymität. Außerdem ist dieser designte Mensch für das Styling unserer Videos wie geschaffen. „

Ohne den technischen Fortschritt läuft heute keine Extravaganz. Langan verweist auf Videos wie Gabriels „Sledgehammer“ oder Queens „A Kind Of Magic“, alles sauteure Produktionen, aber sicherlich auch die besten, weil sie technisch brillant sind. Und sie strafen diejenigen Lügen, die behaupten, technische Perfektion gehe auf Kosten der Kreativität.

Art Ot Noise liefert das Paradebeispiel. Der angemessenste Ort. diese Gruppe zu sprechen, ist ein Tonstudio. Gary Langan liebt die Abgeschiedenheit dieser Räume. Der Produzent und Toningenieur von A.O.N. zeigt mir mit leuchtenden Augen das High-Tech-Ambiente des Terminals, an dem er heute Nacht noch an einem neuen Mix von „Paranoimia“ basteln will.

Dazu benötigt er die anderen beiden. Anne Dudley und Jonathan (J. J.) Jeczalik, nicht. „Das ist das Interessante an Art Of Noise; es funktioniert und arbeitet auch dann, wenn wir nicht zusammen sind“, erklärt er, „wir schreiben ja keine Songs. A.O.N. leistet keine Bandarbeit mehr. Unsere Inspiration sind Sounds, die wir aus unseren Fremd-Produktionen erhalten. Meistens nehmen wir die ungenutzte Software, manchmal ganze Programme aus den Studiocomputern. „

Jonathan Jeczalik, der mittlerweile für Kate Bush, Stephen „Tin Tin“ Duffy, Pet Shop Boys, McCartney, Frankie, ABC, Nik Kershaw u.a. arbeitete, begann als Fairlight-Programmierer bei Trevor Horn, nachdem er als Roadie für den damaligen Yes-Keyboarder jede freie Minute genutzt hatte, an dem legendären Gerät herumzuspielen.

An einem Abend, als Yes sich verpißt hatten, kam Gary, der für Trevor Horn seit etlichen Monaten an diesem Yes-Album mischte, spontan die Idee, einen Drumtrack von Yes durch den Fairlight zu jagen. J. J. probierte es, und heraus kam „Close To The Edit“.

Es fehlte lediglich etwas Melodiöses, etwas Weibliches. Anne Dudleys Part. Sie war nach einer klassischen Ausbildung längst in das Lager der Jazz- und Popmusik gewechselt und arrangierte bereits Songs. Gary: „Ich wunderte mich, daß Martin Frey bei der LEX-iC0N OF LOVE-Produktion ihr die wichtigsten Arrangements überließ, aber Anne war und ist ein Profi.“

Der Kreis um Trevor Horn schloß sich. Anne Dudley arrangierte für alle Bands von Horns ZZT-Label und war für Blancmange, Wham!, Lloyd Cole, Five Star oder Helen Terry tätig. Gary mixte und produzierte unermüdlich, von The The über McCartney zu McLaren, ABC, Divinyls… er weiß es nicht mehr. Das Naheliegendste —- die kommende Spandau Ballet-LP.

Summiert man all die Tätigkeiten, erklärt sich auch das riesige Sound-Archiv, aus dem Art Of Noise schöpft. Diskette neben Diskette. Gary Langan sagt unverfroren, aber ehrlich:

„Ich bin faul. Die Effizienz eines Musikcomputers ist heute so hoch, daß ich kaum kompositionstechnisch, geschweige denn über Noten Bescheid wissen muß. Unsere Inspiration sind fremde Sounds, die wir per SoundSampling-Sequenzer beliebig steuern können. „

In kürzester Zeit kann jeder mechanisch erzeugte Klang, wenn er in den Computer gegeben wird, synthetisiert oder dynamisiert werden, so daß er in jeder gewünschten Klangfarbe abrufbar ist. Er kann jede Instrumentalklangfarbe aus jeder Oktave täuschend echt reproduzieren. Will man ihn gezupft, mit Echo, gestrichen oder staccato, braucht man nur einen Knopf zu drücken. Je größer die Software, um so größer das Klangarchiv. Dabei lassen sich ganze Schallplattenwerke auf Floppy-Disc speichern und per Knopfdruck verändern.

Gary Langan behauptet sogar, daß jedes Stück ihrer LP INVISIBLE SILENCE mittels dieser Sample-Technik so bearbeitet werden kann, daß es zur Hitsingle wird. Alles eine Frage der Hardware.

Bei aller Effizienz und Einsparung von Studiomusikern, die in England gewerkschaftlich organisiert gegen diese neue Dimension der Musikreproduktion vorgehen, läßt sich doch äußerst kreativ auf hohem Niveau arbeiten. Gerade Art Of Noise haben mit ihrer wunderschönen synthetischen Ballade „Moments In Love“ gezeigt, daß da irgendwo Fleisch und Blut dahintersteckt. „Wir werden diese Methode auch weiterverfolgen und Gäste ins Studio einladen, wie wir es mit Duane Eddy bei ,Peter Gunn‘ gemacht haben. „

Auch das Live-Problem, das jede Formation hat. die ausschließlich mit programmierter Musik arbeitet, wird gelöst. „Sicherlich werden die Leute mit der Erwartung kommen, eine Band im herkömmlichen Sinne zu sehen. Darin liegt gerade der Reiz, sie mit einer Show zu verblüffen, die von dem gewohnten Popstar-Schauerspiel wegführt. Wir werden live mehr ein Musical zelebrieren und abnorme Dinge benutzen. Die Tournee startet in einigen Wochen in den USA.“

Für die Vorbereitungen treffen sie sich in Annes eigenem kleinen Studio. Hierher bringen J. J. und Gary Langan ihr Rohmaterial, ihre Floppy-Discs. mit denen als Basis gearbeitet wird. Anfangs gingen sie noch eigenhändig auf Geräuschesuche (so stammen ihre typischen Elemente wie Türknallen. Anlassen, Anfahren von Annes Auto), mittlerweile bietet der Software-Hersteller ein so reichhaltiges Angebot, daß sich das erübrigt.

Gary Langan lehnt sich in seinen Designer-Klamotten zurück und sagt, worauf ihm ein beherzter Drummer wahrscheinlich eine scheuern würde:

„Ich bin nicht rausgegangen, um einen Schlagzeugsound zu finden. Er fand mich, hä, hä, hä. „