Mutterseelenallein


37 Jahre ist sie inzwischen, doch ihre dünne Haut ist noch immer nicht dicker. Erstmals ohne Partner Dave Stewart, stolpert Annie Lennox nur zögerlich zurück ins Rampenlicht. ME/Sounds-Mitarbeiter Steve Lake gestand sie ihre Qualen.

Auftritt Annie Lennox beim San Remo-Festival. einem alljährlich über Italien hereinbrechenden SchJagerereignis. Hier kann Annie ihre Qualitäten als Live-Performer nicht ausspielen — Playback ist die Parole: Sie bewegt die Lippen zu ,.Why?“. einem Song ihres Solo-Albums DIVA. Als das Stück seinen Höhepunkt erreicht, schwebt eine wächsern lächelnde Schönheitskönigin im Badeanzug aus den Kulissen. „Ich dachte mir: Bin ich aufAcid, oder was?“

Die leichtbekleidete Schönheit drückt ihr ein riesiges Bouquet in die Arme, und während Annie noch mit den Blumen kämpft, eilt der aalglatte Moderator der Show mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Annie, leicht perplex, tut es ihm nach. Händeschütteln. okay. Eine nette Geste. Doch der mediterrane Süßholzraspler hat andere Absichten, reißt ihre Hand gegen seine gespitzten Lippen.

Unglücklicherweise ist Annie immer noch nicht auf Handkuß eingestellt, und so passiert es: In ihrer Verwirrung steckt sie ihm die Finger in den Mund. Der ölige Showmaster stolpert gurgelnd zurück, gefolgt von einer völlig entsetzten Annie, die sein Zahnfleisch immer noch fest im Griff hat. Und all dies unter den Augen von Millionen Fernsehzuschauern!

Der nächste Tag ist kaum weniger surreal. Annie gibt Interviews in der Präsidenten-Suite des Kölner Hyatt Regency Hotel. Man könnte sämtliche Präsidenten der Welt hier hineinstecken, und sie würden sich nicht auf die Füße treten. Die Räume sind riesig; ein Flügel, der in der Ecke steht, wirkt wie ein Kleinmöbel. „Das ist das zweite Mal, daß ich hier bin“, sagt Annie. „und ich fühle mich wie eine kleine Erbse, die in einer riesigen Schachtel henimkullert. Um ehrlich zu sein: Es ist furchtbar. Vielleicht klingt das wie Heuchelei, aber Fünf-Sterne-Hotels sind zum Kotzen. Das hier ist die Endstation, wenn du es ganz nach oben geschafft hast. „

„Ich war nie scharf darauf, berühmt zu sein“, fährt sie fort, „aber ich wollte unbedingt Musik machen, über Musik kommunizieren. Und es ist nun einmal leider so, daß Hits dir die Möglichkeit zum Weitermachen geben. Aber wenn dann der ganz grofle Erfolg kommt, passiert etwas Seltsames in deinem Kopf. Du rast durch die Welt, dein Gesicht ist allgegenwärtig, alle meinen, dich zu kennen — aber du selbst kennst niemanden. Nach einer Weile wünschst du dir, du könntest die frühere Anonymität zurückkaufen. Es ist absurd, dein Produkt anzupreisen und gleichzeitig zu sagen: ,kh möchte allein sein‘, aber das ist genau, was du willst.“

Für Annie bestand der Ausweg aus diesem Dilemma vorübergehend darin, sich hinter ihrem öffentlichen Ich zu verstecken. „Es ist wie ein Zaubertrick, du erfindest einfach einen Charakter, ein Symbol, das dich repräsentiert. Mein gestörtes Verhältnis zu den Medien beruhte darauf, daß die Presse ständig versuchte, hinter diesen Trick zu kommen.“

Und hinler der scheinbar so selbstbewußten, fast arroganten Annie Lennox aus den Videos ging die eigentliche Annie allmählich vor die Hunde. Ihre privaten Probleme sind so ausführlich dokumentiert worden, daß man sie hier nicht noch einmal groß durchkauen muß. Es gab Ausflüge in fernöstlichen Mystizismus und eine katastrophale Ehe mit Hare-Krishna-Jünger Radha Raman. „Diese Zeit war sehr schmerzhaft, aber sie hat mir ein paar gute Songs eingebracht“, lautet Annies trockener Kommentar. Die zweite Ehe mit dem israelischen Filmemacher Uri Fruchtmann gab ihrem Leben wieder Halt, und durch ihre Schwangerschaft konnte sie dem Scheinwerferlicht für eine Weile entkommen. Einzige Unterbrechung des zweijährigen Mutterschaftsurlaubs war die Promotion-Tour für das Eurythmics-Album“.Greatest Hits“.

Wie sich wenig später herausstellte, war es auch das letzte Kapitel der Bandgeschichte. Nach 14 Jahren Zusammenarbeit einigten sich Lennox und Dave Stewart darauf, künftig eigene Wege zu gehen. „Ich spielte mit dem Gedanken, nie wieder aufzutreten. Aber der kreative Drang verläßt einen nicht so einfach, und ich besaß immer noch ein Klavier, also …“

Sie begann, wieder Songs zu schreiben. „Ich wollte nur sehen, ob ich es kann. Die Euryihmics waren immer ein Gemeinschaftsprojekt gewesen. Da-e und ich schrieben alles zusammen, und dann schnappte er sich das Material und machte Alben daraus. Er war der Produzent. Ohne ihn fühlte ich mich zuerst wie ein absoluter Amateur.“

Das klingt ein bißchen nach Koketterie, denn Annies Talente reichen weit über die der meisten Popstars hinaus. Mit sieben Jahren begann sie. Klavier

zu spielen, vier Jahre später kam die Flöte dazu, als Teenager spielte sie in Orchestern und Kammer-Ensembles und studierte später Cembalo an der Royal Academy. Wenn sie während ihres „Ruhestands“ die Muse küßte — nach dem Wechseln der Windeln zum Beispiel — konnte sie einfach zum Notenpapier greifen.

Was natürlich nicht heißen soll, daß von der Idee bis zur Ausführung nicht noch ein langer Weg zurückzulegen ist.

„Stephen Lipson, der Produzent von DIVA, wur eine große Hilfe fiir mich. Er brachte mich mit den richtigen Musikern zusammen. „

Annie kann sich an ihre Namen nicht erinnern: „Da war ein Bassist aus Tackhead, der jetzt bei dieser schwarzen Rockband spielt. Wie heißen die noch? Living Colour, genau. Und, äh, Marius de Vries, ein großartiger Kevboarder, und… oh je…“ Sie fährt sich durch das mittlerweile wieder naturbraune Haar. „Ich werde meiner Assistentin sagen, daß sie dir eine Liste schicken soll.“

Auf der Liste stehen, wie sich herausstellt, unter anderem Schlagzeuger Steve Jansen, früher bei Japan und Rain Tree Crow. Multi-Instrumentalist Peter-John Vetesse, der mal bei Jethro Tüll spielte, und der bekannte englische Jazz-Trompeter Dave Defries.

„Besonders Steve Lipson und Marius waren in der Lage, meine Einfalle in Klänge zu verwandeln. “ Manche dieser Einfälle lagen etwas abseits ausgetretener Pop-Pfade. Auf „Primitive“ zum Beispiel sollte, so stellte Annie sich das vor, die Gegenmelodie „so klingen wie Radio Kairo“. Was fehlt, ist der stürmische Rock, der so charakteristisch für die Spätphase der Eurythmics war. „Na ja, um Rock zu spielen, braucht man eine Band — und ich habe keine. Aber ich spüre, daß ich ganz von selbst in die Rhythm ’n Blues-Ecke tendiere. Vielleicht ist es das Alter.“ (Sie ist 37.) „Vielleicht muß man irgendwann Schluß machen mit Rock. „

Die größte Merkwürdigkeit ist die einzige Cover-Version des Albums, „Keep Young And Beautiful“, in den dreißiger Jahren ein Hit für Harry Roy und sein Orchester. Weiter als in diesem Song kann man sich von dem emanzipatorischen Feuer auf „Sisters Are Doing It For Themselves“ nicht mehr entfernen. Hier ein Beispiel:

„V/hat’s cute abouta little cutie?/Jt’sher beauty, not brainsllfyou’re wiseexercise all the fat off..JDon’t fall to do your stuff. with some powder and a puff…“ „Ich sang das Lied eines Morgens unter der Dusche und wunderte mich, daß ein Mann es sich damals erlauben konnte, so was zu singen. Wenn man das Original hört, merkt man, daß darin gar nichts Herablassendes steckt. Dem Sänger ist es ganz ernst, er bietet dir seinen gutgemeinten Rat an. Daran kannst du sehen, was für Fortschritte wir gemacht haben. Heute würden sie den Typ an der nächsten Straßenlaterne aufknüpfen!“