Neu – Vinyl Box


Grunzen im Paradies: Das Zentralwerk der Düsseldorfer Krautrockheroen auf Vinyl, dazu die erstmals offiziell veröffentlichten letzten Aufnahmen von 1986.

Mit der Beantwortung folgender Frage dürfte man sich zum Fanpost-Beauftragten des Musikexpress qualifizieren: Warum hat das 1986er-Album von Michael Rother und Klaus Dinger eigentlich ein Vierteljahrhundert auf Eis liegen müssen? Weil Musiker sich selten ihrer Eitelkeiten entledigen können. Weil Dinger und Rother keinen gemeinsamen Sound-Nenner mehr finden konnten. Weil zwei unterschiedliche Charaktere frontal aufeinander prallten: der troubled man Dinger und der Schöngeist Rother.

Es gibt noch viel mehr Antworten und ein paar Fakten: Mitte der 1980er war das Interesse an diesem kleinen Nachbeben des Krautrock gering. Dinger und Rother selbst bezeichneten die Aufnahmen als unvollendet, sie vertagten die Arbeit und kamen nie wieder richtig zusammen, weil sich ihr Verhältnis zunehmend komplizierter gestaltete. Bis Herbert Grönemeyer sie im Jahr 2000 überreden konnte, wenigstens die drei klassischen Neu!-Alben aus den Siebzigern noch einmal fürs CD-Publikum auflegen zu lassen. Und wer weiß, was passiert wäre, wenn Klaus Dinger (Jahrgang 1946) nicht im März 2008 überraschend an Herzversagen gestorben wäre? Dinger und Rother würden einsam ihre Kreise auf den ihnen zugetanen Special-Interest-Märkten ziehen und säuberlich voneinander getrennt Interviews geben.

Der Tod des Krautrockpioniers und Erfinders der „langen Geraden“ in der U-Musik hat dem Projekt Neu! ironischerweise wieder Leben eingehaucht. Michael Rother (Jahrgang 1950) überarbeitete die Masterbänder der Aufnahmen aus der Studio-Reunion 1985/1986, er suchte nach den letzten „Visionen“ einer Sound-Ehe, die damals schon wie ein oddcouple funktioniert haben muss.

Keine Frage, das Zentralwerk gehörte noch einmal auf Vinyl veröffentlicht. Nach NEU!, NEU! 2 und NEU! 75 erscheint damit erstmalig offiziell auch NEU! ’86: Das rätselhafte vierte Album mit einer Spielzeit von knapp über 44 Minuten und vier bislang unveröffentlichten Tracks. Ein zwischen den Zeiten pendelndes Stück Musik, mit deutlichen Seventies-Reminiszenzen, hymnischen Elementen, neudeutsch gewellten Melodien und einer kruden Collage namens „KD“ (sie!), in der Klaus Dinger sich mit der Echobox verkabelt und in „La Bomba“ Ritchie Valens‘ „La Bamba“ vokal zersägt. So etwas hätte es früher bei Neu! genauso wenig gegeben wie die semi-ironische Disco („Dänzing“). Halb Hommage, halb Parodie. Das könnte glatt Dieter Meier von Yello sein, der da im schönsten Amtsstubendeutsch „Bewegung ist gesund“ in den Track streut, aber es ist Kiaus Dinger, der im anglodeutschen MiniName: Neu! Genre: Krautrock, Elektronika Aktwvon: 1971-1975,198S-1986 Bandmitglieder: Klaus Dinger, Michael Rother Labels: Brin, Grönland Inspiration für: David Bov.-ie, Brian Eno, P1L, U2, PrimalScream, Sonic Youth, Stereoiah, Placebo, Radiohead, Kreidler mal-Refrain den Vogel abschießt: „Dänzing wiss mei bäääbi“. Neu! hielten ein Stück Zeitgeschichte fest, so spielte die Disco in unseren Köpfen, wenn Bäääbi um 22 Uhr weg musste, weil Papa mit dem VW vor dem Tanzschuppen wartete.

Rother schwelgt im Projekt „Melodien für Millionen“, das er seit FLAMMENDE HERZEN (1977) mit Feuereifer betreibt, bei „Wave Mother“ und „Euphoria“ ist seine Handschrift in den singenden Gitarrenlinien erkennbar. Dinger daddelt lieber Beats über Mittelstrecken, er bringt „Crazy“ auf klassischen Neu!-Kurs und spielt „Drive“, als dürfte er für die Dauer eines Tracks bei den Kollegen von Can Jaki Liebezeit sein. Den „Paradise Walk“ ballert er mit Grunz- und Dröhnlauten zu, bevor Rother überhaupt zu schwelgen beginnt. Auf „La Bomba (Stop Apartheid World-Wide!)“ finden Rother und Dinger zu einem Crossover aus Worldmusic und Krautrock zusammen, im Dollhaus der Soundmanipulation.

Der Krautrock-Revolution der frühen Siebziger haben Neu! zentrale zukunftsweisende Verkehrswege eröffnet. Ihre Space-Autobahn löste die alte Songeinbahnstraße ab, Dinger und Rother begrüßten die Welt mit einem zchnminütigen „Hallogallo“, das einfach immer weiter wegfuhr. „Keine Melodie. Kein Gesang. Es gibt nichts, das dir sagt, wo du dich in diesem endlosen Korridor befindest“, lesen wir in der Bibel für solche Fälle, Julian Copes Standardwerk „Krautrocksampler“. „Lieber Honig“ gegen Ende des Debütalbums klingt heute schon wieder wie eine Blaupause für Freak-Folk (japanisches Banjo!) und nicht wie ein Durchhänger aus der Dreitage-Session in Düsseldorf. Nach zwei weiteren Alben, dem Remix-Wunder NEU! 2 und NEU!75 (mit Thomas Dinger und Hans Lampe als Schlagzeuger), war die Luft aus dem Projekt Neu! raus. Die beiden Dingers gründeten La Düsseldorf, Rother folgte Moebius und Roedelius in die mehr introspektiven Sphären von Harmonia. Die Siebziger taten sich auf den letzten Metern schwer, Fehlfarben sängen „Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei“. Die Rockmusik fiel wieder in die Hände restaurativer Kräfte.

Heute wird der Revolution aus der Tiefe des Merchandising gedacht: Ein Neu!-T-Shirt und eine Sprühschablone des Neu!-Logos liegen den Schallplatten in der Box bei. Eine aus Probeaufnahmen collagierte 17-minütige Maxi-Single („Non- Public Test“, 1972), ein Downloadcode zur digitalen Absicherung der ganzen Geschichte. Im August erst erscheint dann NEU! 86 auf CD.

Vö: 68 www.eroenland.com