Nick Cave über Gut und Böse


Eigentlich interessieren ihn solche Kategorisierungen gar nicht. Doch wenn die Grenzen zwischen Gut und Böse schwinden, merkt Nick Cave auf. Da kommt es zu Kämpfen, da wird die Bibel politisch, und wir schlagen uns plötzlich auf die Seite des Schurken.

Auf deinem neuen Album Dig, Lazarus, dig! erzählst du Geschichten von Frevlern und Märtyrern. Du scheinst von dieser Ambivalenz besessen zu sein… Das begann ja nicht erst jetzt, sondern schon in dem Film „The Proposition“ (Cave schrieb das Drehbuch -Anm. d. Red.) und auf dem Album mit Grinderman. Auch der Film „Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford“, an dem du beteiligt warst, gehört in diese Reihe… Meine Texte sind immer dann am besten, wenn ich narrative Storys schreibe. Ich musste aus meinem Leben heraustreten und Figuren erfinden, die mich bewegen. Eine Story braucht immer einen Konflikt, sonst kann sie nicht existieren. Meine Geschichten beschreiben Machtkämpfe zwischen Individuum und Gesellschaft, Mann und Frau oder anderen menschlichen Konstellationen. Woher diese Geschichten kommen, kann ich nicht sagen. Für mich beschreiben sie die kürzeste Verbindung zwischen dem Neuen Testament und Raymond Chandler (US Schriftsteller, „hardboiled novels“-Pionier – Anm. d. Red.). Gerade dein Titelheld Lazarus ist ein gutes Beispiel dafür, dass in deinen Geschichten die Rollenverteilung zwischen Täter und Opfer meist aufgehoben ist. Lazarus war bestenfalls ein Opfer seiner selbst. Oder vielleicht der Umstände. Er war ein Lügner. Er gab vor, tot zu sein. Jesus kam und glaubte, ihn erweckt zu haben. Mich hat diese Geschichte schon als Kind beschäftigt. Ich habe mich immer gefragt, wie er sich wohl gefühlt haben muss, nachdem er gestorben und dann neu geboren worden war. Das hat mich geradezu traumatisiert, denn für mich war er ein Zombie. Auf dem Album wird er zu einem distanzierten Führer durch die Unterwelt. Meine Songs sind sehr politisch, weil sie Kämpfe beschreiben. Menschliche Konflikte, die sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen abspielen.

Um nichts anderes, letztlich um Politik, geht es ja auch in der Bibel. Geschichten über Helden und Märtyrer auf der einen, Tyrannen und Banditen auf der anderen Seite sind ja umso glaubwürdiger, wenn Gut und Böse nicht ohne Weiteres zu trennen sind. Kategorisierungen wie Gut und Böse interessieren mich nicht so sehr. Mich interessieren vielmehr die Spannungen und Kräfteverhältnisse auf den Ebenen dazwischen. Das Böse an sich interessiert mich gar nicht. Ich finde das Böse, so wie es meist dargestellt wird, öde und banal. Was soll daran interessant sein? Viel spannender finde ich es, wenn das Gute ins Böse abgleitet und sich das Böse im Guten manifestiert.

In deinem Drehbuch zu „The Proposition“ werden aus Killern Märtyrer …

In „The Proposition“ habe ich diesen Vorgang ziemlich genau ausgearbeitet, aber auch der Jesse-James-Film lebt von dieser Ambivalenz. Man modelliert eine Figur, die zunächst im Ruch des Bösen steht oder zumindest auf irgendeine Weise ein moralisches Vakuum verkörpert. Dann verleiht man dieser Figur menschliche Züge, macht ihre Handlungen und Entscheidungen zunächst verständlich, bis die Figur irgendwann sogar attraktiv wird. Der Krimiautor Jim Thompson beherrschte diese Kunst vortrefflich. Er schuf unbeschreiblich böse Figuren, die unverzeihliche Taten begehen. Aber er machte sie zum Erzähler der Geschichte, und ehe wir uns versehen, sind wir auf ihrer Seite und unterstützen sie sogar. Warum brauchen wir diese Figuren? Die öffentliche Meinung wird heute von der Yellow Press bestimmt. Zeitungen und Magazine, die ausschließlich auf den Schwarz-Weiß-Kontrast setzen. Ich finde das ermüdend. Es gibt die Guten und die Bösen, und am besten finden es diese Blätter, wenn sie die Guten bezichtigen können, zu den Bösen überzulaufen. Aber das Leben ist anders. In jedem von uns steckt das Potenzial zu grandioser Güte und fataler Bösartigkeit. Es sind die jeweiligen Lebensumstände, die die eine oder andere Seite begünstigen. Und was für den einen gut oder böse ist, muss es für den anderen noch lange nicht sein.

Werden Heilige und Frevler nicht deshalb zu solchen deklariert, um einfache Lösungen zu finden, wo es keine gibt? Vielleicht. Diese Kategorien sind ja reine Projektionen. Sowie man die Grenzen ein wenig verwischt, lösen sie sich auf. Ich habe mich mit ein paar Leuten über den Jesse-James-Film unterhalten. Für die einen war Robert Ford eine bemitleidenswerte Kreatur, für die anderen ein Schurke, der noch viel schlimmer war als Jesse James selbst. Wenn diese moralischen Bewertungen nicht mehr möglich sind, fängt es für mich an, interessant zu werden. Gehören diese Figuren jeweils in eine bestimmte Zeit oder sind sie universal? Lazarus ist eine Figur aus der Bibel, die ich ins New York City von heute versetzt habe. Gerade aus diesem Widerspruch bezieht der Song seine Spannung. Diese Figuren haben ja nicht die Funktion realer Personen. Sie sind Kreaturen, geschaffen, um uns ein wenig Klarheit über uns selbst zu geben. Es sind menschliche Archetypen, die ich mit bestimmten Verhaltensweisen ausstatte. Sie verhalten sich anders, als wir es im realen Leben von ihnen erwarten würden. Ich habe die Freiheit, für jeden Song einen neuen Kontext zu erfinden. Inwiefern diese Bezugsgeflechte für den einen oder anderen Hörer anwendbar sind, muss jeder selbst für sich entscheiden. Ich selbst versuche mich jeder Moral zu enthalten. Brauchen wir heute noch Heilige oder Märtyrer? Ich glaube, wir brauchen Menschen, die den Heldenmythos aufrechterhalten. Jemand, der sich in die Dunkelheit begibt und uns irgendeine Art von Botschaft zurückbringt. Das war schon immer die Funktion des Helden, und das wird sie wohl immer bleiben. Brauchen wir auch jemanden, der den Schmerz von uns nimmt, wie die frühchristlichen Märtyrer? Ich erhalte oft Briefe von Menschen, die mir erzählen, meine Songs hätten ihnen über harte Zeiten hinweggeholfen. Mir selbst ist es nie so gegangen. Sicher hat Musik mich dramatisch verändert. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass jemand denselben Schmerz wie ich durchgemacht hätte und deshalb in einer bestimmten Nähe zu mir stünde. Vielleicht tendieren Frauen eher zu dieser Haltung als Männer. Die meisten Briefe dieser Art erhalte ich von Frauen. Aber erfüllen nicht gerade Rockmusiker oft die Funktion moderner Märtyrer, die das Elend ihrer Hörer lindern und auf sich nehmen? Es gibt die Theorie, dass bestimmte Rockstars die Fantasien ihrer Hörer ausleben, die selbst nicht dazu in der Lage sind. Sie powern sich aus und sterben, damit der Rest der Menschheit das nicht durchmachen muss. Für mich klingt das wie ein Haufen Scheiße. Es sind ja nicht nur Rockstars, die mit ihrem Leben Schindluder treiben. Rockstars sind Ikonen unserer Zeit, deren Leben oftmals öffentlich ausgetragen wird. Ich wuchs in anderen Zeiten in einer australischen Kleinstadt auf. Es war für mich nicht leicht, ein Album von Leonard Cohen zu kriegen. Ich kannte nur ein paar Songs. Alles andere war meiner Imagination überlassen. Diese gottesähnlichen Figuren, die man anbeten konnte, waren ein wichtiger Bestandteil meiner Jugend. Etwas in mir wusste, dass es nur ein einfacher Typ mit einer Gitarre war, aber etwas anderes in mir wollte in ihm einen Gott sehen. Das ist heute vorbei, weil wir einfach zu viel wissen. Es gibt kein Mysterium mehr. Alles bloggt. Das Internet ist mit für die egalitäre Einstellung verantwortlich, die die Ikonen mit der Masse gleichsetzt. Jeder kann ein Rockstar sein, er muss nur ein bisschen Musik ins Internet stellen. Eine ungute Entwicklung. Vielleicht sind Sportler aus diesem Grund heute wichtiger als Musiker, denn jeder kann ein Rockstar sein, aber niemand kann ohne Weiteres ein guter Fußballer werden.

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