Oasis: Dig Out Your Soul


Gitarrenwände höher als das Empire-State-Building, psychedelische Grandezza und die Neugeburt des Liam Gallagher - ME-Leser Kai Wichelmann sieht im neuen Album DIG OUT YOUR SOUL die musikalisch offenste Platte, die Oasis je aufgenommen haben.

Wenn man als langjähriger Oasisfan die neue Platte DIG OUT YOUR SOUL auflegt, dann ist es dieses Kribbeln im Magen, welches zunächst für Spannung sorgt. Man weiß, dass es noch Zeit braucht, bis die Einordnung im Gesamtwerk erfolgen kann, doch hofft man schon nach den ersten Anhörungen, dass sich da sofort ein wenig Mornig-Glory-Magie einstellt. Was zunächst memorabel bleibt, ist die offenkundige Neugeburt des Liam Gallagher. Er und sein Gesang bilden wieder eine Einheit, das kratzig-verstaubte Röcheln, das so manchen der an sich guten Songs von DON’T BELIEVE THE TRUTH neutralisierte, ist verschwunden. Stattdessen ist Liams stärkste Waffe kunstvoll eingewebt in den Gesamtsound.Was wurde im Vorfeld spekuliert, wie anders dieses Oasisalbum wohl klingen mag. Noel Gallagher, ohnehin jemand, der genau weiß, wann er seine verbalen Duftmarken setzen muss, um im Gespräch zu bleiben, lehnte sich weit aus Fenster: „I wanted to try something really different. I orientated more around the grooves this time.“ Um die Spekulationen weiter anzuheizen, fügte Liam an: „This album is psychedelic and trancy.” Nun ja. Dies sind lediglich Halbwahrheiten. Ein Oasisalbum bleibt immer durch und durch Oasis. Trotzdem, und das ist reichlich respektabel, ist DIG OUT YOUR SOUL die musikalisch offenste Platte, die Oasis je aufgenommen haben. Überhaupt ist DIG OUT YOUR SOUL jetzt schon das dritte Album in gleicher Besetzung (vom ersetzten Drummer Alan White abgesehen), ein Novum im Dunstkreis der Gallaghers und gleichzeitig ein Vorteil, so wirkt DIG OUT YOUR SOUL wie ein Statement einer Band, die sich neu emanzipiert hat und durchaus noch in der Lage ist, Impulse zu setzen. Und so kraftvoll und dynamisch klangen Oasis auch schon ewig nicht mehr.„Bag It Up“ eröffnet die Platte wie ein Versprechen. Es bluesrumpelt. Kurz-effektive Noel-Licks, ein polternder Rhythmus und Gitarrenwände höher als das Empire-State-Building symbolisieren den Heilungsprozess, den wohl niemand, seien wir ehrlich, noch, und dann dieser Form, erwartet hätte. Und wirklich. Dieser druckvolle Opener transferiert schon mehr Magie als sehr vieles auf dem Vorgänger. Nach diesem vertonten Ausrufezeichen geht es weiter, durch die beste erste Albumhälfte seit MORNING GLORY. „The Turning“ ist um eine tanzbare Pianomelodie aufgebaut und liebäugelt gegen Ende mehr als eindeutig mit „Dear Prudence“. Kraftvoll und rumpelnd geht es weiter. „Waiting For The Rapture“ pocht nach vorne und zeigt eine gewisse soundästhetische Amerikanisierung im Oasiskosmos. Das wohlbekannte „The Shock Of The Lightning“ glimmt und flirrt und die transferiert deutlich die widererstarkte und auf dem Weg zwischenzeitlich verloren gegangene Dynamik Ab der wunderschönen Lennon-Hommage „I’m Outta Time“ beginnt die Platte zu atmen. „Outta Time“ ist ein sensibler Liam- Schmachtfetzen mit fast schon selbstreflexiven Anwandlungen: „If I’m to fall, would you be there to applaud, or would you hide behind the law, because if I am to go in my heart you grow, and that’s where you belong.” Wunderschön und auch die endgültige Songwriter-Emazipation des Liam G.„Get Off Your High Horse Lady“ ist dann mal was wirklich Neues. Ein psychedelischer Bluesstomper, mit einer verzerrten Noelstimme aus weiter Ferne. Liam hat sein „Outta Time“, Noel hat „Falling Down“. Das Stück, welches am wahrscheinlichsten diese Platte überstrahlen wird. Mit abermals psychedelischer Grandezza schwingt sich das Stück zur großen Hymne auf. In den Lyrics finden sich, wie an mancher Stelle auf DIG OUT YOUR SOUL, spirituelle Einflüsse wieder. „I try to talk to god but no avail“, singt Noel fast wehklagend. Schon nach diesem, erst siebten Song, steht fest, dass Oasis die Erwartungen schon an dieser Stelle weit übertroffen haben. Man braucht einige Durchläufe, um zu begreifen, dass das hier sehr vielem aus Oasis’ Frühphase in nichts nachsteht. Den Fan rührt das sogar fast, da er doch zwischenzeitlich glauben musste, er habe aufs falsche Pferd gesetzt.Im Schlussteil passiert dann nicht mehr allzu viel, den letztendlich sehr guten Gesamteindruck können aber, weder das überflüssige „Ain’t Got Nothing“ noch das etwas uninspirierte „Nature Of Reality“ trüben. Unverständlich bleibt lediglich, weshalb das geniale schuffle Intermezzo „I Believe In All“ und das großartig hymnische „The Boy With The Blues“ lediglich auf der Bonus Disc enthalten sind. Aber vielleicht zeigt genau dies, dass Oasis wieder Oberwasser haben.

Kai Wichelmann – 13.10.2008