Out Of The Blue


Vor elf Jahren änderten Nirvana für immer die Spielregeln im Rock. Zweieinhalb Jahre später war Kurt Cobain tot, bis heute wird seinem Mythos nachgespürt. Nach einer "Best Of" und einer Biographie erscheinen nun Ende November seine Tagebücher.

In der Vorbemerkung seiner im Herbst auf Deutsch erschienenen Kurt-Cobain-Biographie „Heavier Than Heaven“ („Der Himmel über Nirvana„) erzählt Charles R. Crossvon der „Euphorie“, die ihn umwogte, als er im Zuge seiner ansonsten eher zermürbenden Recherchen erstmals den sagenumwobenen letzten Nirvana-Song „You Know You’re Right“ zu hören bekam. Eine etwas feierliche Stimmung überkam auch den Autor dieses Artikels, als der Kollege mit dem freigeschalteten Real Player-Zugang das Lied vor ein paar Wochen zum ersten Mal in seine Aktivboxen streamte – feierlich und morbide, weil man weiß, wie viel Zeit Cobain sich noch auf dieser Welt zumutete zwischen diesen Textzeilen, die wirken wie eine Abschiedsbotschaft, jenen markerschütternden „pain“-Schreien und dem Tag, an dem dieser seiner Pein für immer ein Ende setzte.

Als Kurt Cobain am 30. Januar 1994 ins Robert Lang Studio in Seattle kam, wo Nirvana sich für ihre erste Studiosession nach fast einem Jahr eingebucht hatten, wo seine beiden Kollegen Krist Novoselic und Dave Grohl schon zwei Tage vergeblich auf ihn gewartet hatten und wo an diesem Tag „You Know You’re Right“ entstand, war er psychisch und physisch an der Kante. Gequält von den rätselhaften, infernalen Magenschmerzen, die keiner der vielen Ärzte, die in den letzten Jahren konsultiert hatte, diagnostizieren geschweige denn behandeln konnte; ausgelaugt vom Heroin, seiner großen Hassliebe, von der er nicht loskam; geschüttelt von Depressionen -und dann lag auch noch seine geliebte Großmutter Iris im Sterben, eine der wenigen Fixpunkte in seiner zerrütteten Familie, der Wurzel aller Verkorkstheit in Cobains Leben. Knapp zweieinviertel Jahre waren vergangen, seit Nirvanas zweites Album „Nevermind“ die Charts der halben Weit durchgepflügt und das Gesicht des Rock’n’Roll für immer verändert hatte. Zweieinviertel Jahre, in denen der schmächtige, kinder- und tierliebe junge Punkfan aus Aberdeen/Washington, der sich gerade eben noch mit Hausmeister-Jobs über Wassergehalten hatte, zum größten Rockstar seiner Zeit aufgestiegen war – eine Rolle, von der er als Jugendlicher geträumt und seinen Schulkameraden gegenüber phantasiert hatte, die ihm aber jetzt schier unbeschreibliche Angst einjagte. Und knappe zweieinhalb Monate, bevor ein Elektriker, der auf dem Anwesen von Cobain und seiner Frau Courtney Love eine Alarmanlage installieren sollte, in einem Gewächshaus eine Leiche fand: Cobain, zu diesem Zeitpunkt nach seiner Flucht aus einer Entzugsklinik in Los Angeles seit mehreren Tagen verschollen, hatte sich erschossen, in den Adern, wie sich herausstellte, eine Heroinkonzentration, die ihn, der sich in den letzten Jahren immer wieder wie mutwillig Überdosen gesetzt hatte, allein schon umgebracht hätte. Er hatte ganz sicher gehen wollen.

Der Schock traf hart. Dass ihr engelsgesichtiger Messias, den sie sich so schön zurechtverehrt hatten, der mit dieser Verehrung aber nichts anfangen konnte, weil sie ihm Angst machte, sich ihnen auf so gewalttätige Weise entzog, dass der Rock’n’Roll sein Heilsversprechen – Rock’n’Roll saves your soul! – so offensichtlich nicht einlöste, traf die diffuse „Generation X“ wie ein Hammerschlag und traumatisierte die Szene. Während die Fanschart bald in eine Art Rockheiligen-Kult á la Lennon/ Morrison einschwenkte, klafften die Wunden im engsten Kreis um Cobain verständlicherweise am tiefsten. Die gesamten 90er Jahre hindurch lagen die verbliebenen Bandmitglieder Krist Novoselic und Dave Grohl mit Cobains Witwe Courtney Love in einem rechtlichen Ringkampf um die Veröffentlichung des Inhaltes von 10g Tapes voller Songskizzen, Demos, Jams sowie besagtem „You Know You’re Right“, die in Cobains Keller aufgetaucht waren. Ein für Ende 2001 geplantes Box-Set, das unter anderem ein Destillat dieser Tapes enthalten sollte, wurde von Love in letzter Minute gestoppt, seitdem herrschte Eiszeit zwischen den Parteien. Diesen September plötzlich ist man – wohl eher aus Pragmatismus – ein wenig aufeinander zugegangen: Die Box liegt weiterhin auf Halde, dafür wurde Ende Oktober im Rahmen der Compilation „Nirvana“ zumindest „You Know You’re Right“ veröffentlicht. In die zahlreichen Bemühungen, dem Mythos Cobain näher zu kommen, reihen sich die hierzulande parallel zur CD erschienene Biographie von Charles R. Cross sowie „Tagebücher“ ein, ein Band mit Auszügen aus Cobains Notizbüchern, aus dem wir hier einige exemplarische Passagen vorab drucken.

Wenn die englische Musikmagazin-Bibel Q Nirvana im Herbst 2002 als „The most important band in the world“ bezeichnete, dann ist das kein abwegiger Hype-Nachtarock. Durch die Tür, die Cobain und Co. aufstießen an jenem 28. Dezemberi99i, als „Nevermind“ symbolträchtigerweise Michael Jacksons „Dangerous“ von Platz eins der US-Billboard-Charts kickte, strömen bis heute ganze Legionen von Bands herein, sie ist lange der Haupteingang, und darüber steht „Alternative Rock“. Dass dieser Terminus von Anfang an absurd war und speziell ist in den Zeiten, da Platzhirsche wie Nickelback und Creed mit ihrem Konventions-Gehaue die Stadien rocken und sich junge Fans ihre Rock-Alternativen bei Leuten wie Iron Maiden oder Ozzy Osbourne holen, ist die eine Seite. Dass das große Nirvana-Seattle-Grunge-Erdbeben eine ganz andere Kultur, eine ganz andere Haltung zu Rockmusik etablierte, „independent“ Rock seit den 90ern kein milde belächeltes Nerd-Thema mehr ist, ist die andere. Man muss es nicht verklären, sich aber andererseits vor Augen führen, dass wir auch in einer Welt leben könnten, in der das neue Album von Dan Reed Network das Maß aller Dinge ist, Metallica immer noch lange Haare haben und die Strokes und Vines und Libertines an der Tanke Scheiben putzen. Mal überspitzt formuliert. Insofern – und jetzt bitte gaaanz vorsichtig – ist das mit dem Messias vielleicht gar kein komplett abwegiger Vergleich. Josef Winkler

„Oh, der Erfolg! Die Schuldgefühle!“

Kurt Cobains „Tagebücher“ sind ein Kaleidoskop einer zersplitterten Persönlichkeit, ein Sammelsurium zwischen Halbwahrheiten, Selbstinszenierung und Aufrichtigkeit. Hier einige ausgewählte Auszüge.

Sein Entwurf für einen Promo-Text für die frühen Nirvana (ca. 1989) offenbart ein paar von Cobains musikalischen Vorlieben sowie seinen Hang zum Sarkasmus:

Hallo. NIRVANA ist ein Trio aus den Niederungen einer Hinterwäldler-Holzfäller-Stadt namens Aberdeen WA und einer Hippie-Kommune auf Bainbridge Island. (…) Ihr Schweiß in Flaschen und Locken von ihren Haaren haben sich als ihre bislang einträglichsten Verkaufschlager erwiesen, aber für die Zukunft sind Puppen, Sammelkarten, Lunchboxes und Bettwäsche in Planung. […] NIRVANA klingt wie: Black Sabbath, die The Knack spielen, Black Flag, Led Zep. die Stooges und ein Hauch Bay City Rollers. Zu ihren musikalischen Einflüssen zählen-, H.R. Puffnstuff. Marine Boy, Ehescheidungen, Drogen, Soundeffekt-Platten, die Beatles, Young Marble Giants, Slayer, Leadbelly und Iggy.

NIRVANA erkennt, dass die Underground-Musik-Szene (…) für die kommerziellen Interessen der Major Labels empfänglicher wird. Verspürt NIRVANA die moralische Pflicht, etwas gegen dieses Krebsgeschwür zu unternehmen? Auf keinen Fall! Wir wollen mit abkassieren und den Bossen in den Arsch kriechen, in der Hoffnung, auch HIGH zu werden und zu FICKEN. HIGH WERDEN UND FICKEN. (…) Es wird nicht lange dauern, und wir werden mit unseren Promifreunden auf Benefizkonzerten als Zugabe Gloria und Louie Louie spielen.

In einem kontemplativen Eintrag ringt Cobain mit Klischees und einer Selbsteinordnung als Songwriter:

Meine Texte sind ein riesiger Haufen von Widersprüchen. Auf der einen Seite sehr aufrichtige Ansichten und Gefühle, die ich habe, und auf der anderen sarkastische und hoffentlich humorvolle Abrechnungen mit klischeehaften Boheme-Idealen, die seit Jahren überstrapaziert werden. Mir scheint, es gibt nur zwei Möglichkeiten für einen Songwriter, entweder ist er ein trauriger, tragischer Visionär wie Morrissey oder Michael Stipe oder Robert Smith, oder er ist der typische alternde weiße Junge, ein Hey-let’s-party-und-machen-wir-uns-keinen-Kopf-Typ wie Van Haien oder der ganze andere Heavy-Metal-Scheiß. Ich meine, ich bin ja gern leidenschaftlich und aufrichtig, aber ich hab genauso gern meinen Spaß und mache mich zum Affen.

Dass Kurt schon früh bemüht war, am Image und der Legende seiner Band zu feilen, beweist diese von ihm verfasste Kritik eines frühen Nirvana-Auftrittes:

Sie waren nicht so krass wie G.G. Allin, aber sie konnten sich behaupten (…) Fünf befreundete Roadies mussten sich mit verschränkten Armen hinter der P.A. aufbauen (…) Kurdt, der Sänger und Gitarrist, hatte gerade den Schluss des zweiten Songs rausgebrüllt, als ihm die Menge – zack – das Mikro in den Mund knallte. Blut lief ihm von der Lippe, aber sie begannen sofort mit“.Floyd The Barber“. Nachdem er Kurdt das Gesicht sauber gewischt hatte, stieß ihm Chris, der Bassist, versehentlich den Hals seiner Bassgitarre ins Auge. Der Schnitt war zuerst nicht tief, aber dann rammte Kurdt aus Protest seinen (…) Kopf gegen die Wand. Da wurde er größer. Dann nahm Kurdt seine Gitarre und schlug sie Chris auf den Mund, wodurch dessen Lippe aufplatzte. (…) Es war unverkennbar, dass ihnen schwindlig war und dass sie Schmerzen hatten. Aber sie spielten weiter…

Einige Einträge ähneln im Stil Lebensläufen. Hier gibt Cobain Einblick in seine musikalische Sozialisation:

Hi, ich bin 24, weiß, männlich, untere Mittelschicht!…) Meine Eltern besaßen eine Stereo-Kompaktanlage (…) und ein Box-Set mit aktuellen Mainstream-Radio-Hits der Siebziger, „Good Vibrations“ auf Ronco. Da waren solche Hits drauf wie „Tie A Yellow Ribbon“ von Tony Orlando & Dawn oder Jim Croces „Time In A Bottle“. (…) Meine Mutter konnte ein Stück von Chicago auf dem Klavier spielen, (…) die Melodie vergesse ich nie. Meine Tante schenkte mir eine blaue hawaiianische Slide-Guitar und einen Verstärker zum siebten Geburtstag. In diesen ersten prägenden Jahren hatte sie mir auch die ersten drei Beatles-LPs geschenkt, wofür ich ewig dankbar bin, weil ich weiß, dass meine musikalische Entwicklung wahrscheinlich zum Stillstand gekommen wäre, wenn mir noch ein weiteres Jahr die Carpenters und Olivia Newton-John eingetrichtert worden wären. 1976 kam ich dahinter, dass die Beatles sich schon ’71 getrennt hatten. Meine Eltern ließen sich scheiden, und ich zog mit meinem Dad in einen Trailer Park (…) Seine Freunde überredeten Dad, dem Columbia Record Club beizutreten, und ab da trafen beinahe wöchentlich Platten an meinem Trailer ein. Hatte bis 22 eine ganz schöne Sammlung angelegt.

Weite Teile der Presse betrachtete Cobain als Feind. Aus dieser Tirade, die über ihn verbreitete Klischees aufs Korn nimmt, spricht aber auch Sarkasmus sich und seiner Band gegenüber: […] Ich habe so viele irrsinnig übertriebene gut unterrichtete Stories […], so viele lächerliche Freud-für-Arme-Einschätzungen meiner Persönlichkeit (…) anhand unserer Interviews gelesen, und dass ich ein […] fertiger Heroinsüchtiger und Alkoholiker bin, ein selbstzerstörerischer, dabei jedoch übersensibler, (…) narkoleptischer, neurotischer kleiner Wichtigtuer, der sich irgendwann eine Überdosis verpassen, vom Dach springen und überschnappen und den Kopf wegschießen wird, oder alles drei zusammen, weil ICH MIT DEM ERFOLG NICHT KLARKOMME! OH, DER ERFOLG! DIESCHULDGEFÜHLE! OH. ICH FÜHLE MICH JA SO SCHRECKLICH SCHULDIG! SCHULDIG, weil ich unsere wahren Weggenossen im Stich gelassen habe. (…) Die, die in zehn Jahren (wenn wir im Bewusstsein der Öffentlichkeit so präsent wie Kajagoogoo sein dürften) immer noch in Freizeitparks pilgern werden, wo NIRVANA-Reunion-Gigs stattfinden, gesponsort von Inkontinenzwindeln, kahl, fett und immer noch krampfhaft am Rocken, samstags Puppentheater, Achterbahn & NIRVANA.

Oft finden sich Einträge wie dieser, in denen Cobain in delirierender Metaphorik Befindlichkeiten notiert:

Ich habe so grausam gekotzt, dass sich mein Mageninnerstes nach außen stülpte, um euch die haarfeinen Nerven zu zeigen, die ich wie meine Kinder ernährt und großgezogen habe, indem ich jeden Einzelnen garnierte und marinierte, als hätte Gott mich getickt, diese kostbaren kleinen Eier in mich eingepflanzt. Und ich paradiere in pfauenhaftem Triumph und mütterlichem Stolz damit wie eine Hure, die von den Pflichten wiederholter Vergewaltigung und Folter befreit und auf den etwas würdevolleren Posten schlichter, guter, alter alltäglicher, gesunder Prostitution befördert wurde.

Seine rätselhaften Magenbeschwerden bereiteten Cobain Höllenqual und Depression, ober auch morbide Faszination. Er sammelte Puppen und Anatomiemodelle (siehe das Cover von „In Utero“) und besaß sein eigenes bei einem Trödler erstandenes Endoskop:

Ich leide seit drei Jahren an ziemlich unspezifischen und belastenden Magenbeschwerden. Die übrigens nicht mit Stress zusammenhängen (…) es gibt kein Muster. (…) Es ist wie russisches Roulette, ich kann nie voraussehen, wann es auftreten wird, ich kann in relaxtester Atmosphäre zu Hause sitzen, (…) kein Stress, keine Hektik, und dann, peng! wie ein Bauchschuss: Der Magen rebelliert wieder. (…) Die Ärzte sind ratlos, bis auf das Übliche: Hier. Kurt, versuch’s nochmal mit dieser Pille (…). und dann rammen wir dir doch zum dritten Mal diesen Faseroptik-Schlauch mit Videokamera vorne dran in den Hals [den nennt man Endoskop), um nachzusehen, was da los ist. (…) Oh bitte, lieber Gott! Zum Teufel mit den Hit-Alben, ich bitte dich nur um eins, meine eigene (…), nach mir benannte Magenkrankheit. Unser nächstes Konzept-Doppelalbum könnten wir „Cobain’s Disease“ nennen. Eine Rock-Oper (…) über Galle kotzen und wie es ist, ein magersüchtiger Borderline-Auschwitz-Grunge-Boy zu sein. Und als Begleitprodukt (…) ein Endoskop-Home-Video .