Popsongs gegen Projektione


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JOCHEN DISTEL MEYER, einstiger

Blumfeld-Kopf und Dichterautorität des Andersseins, will mit seinem Soloalbum HEAVY neue Perspektiven schaffen und freut sich jetzt schon auf Kritik.

Distelmeyer ist ein freundlicher, ja sogar ein fröhlicher Typ, den zu mögen nicht schwer fällt. Heute strahlt er geradezu in seinem weißen Hemd, und man fragt sich, wann man das letzte Mal jemanden getroffen hat, der so jungenhaft und seriös zugleich wirkt. Professionelle Gespräche mit Distelmeyer sind allerdings in der Regel keine besonders flutschigc Angelegenheit. Er rückt nicht einfach so mit der Sprache raus. Distelmeyer, in seinen Songs stets ein Meister der Präzision, bleibt uneindeutig und beginnt Sätze gern mit „Vielleicht …“ und „Es könnte sein, dass …“ – nur vermeintliche Unklarheiten, die im Ringen um Genauigkeit entstehen. Oberflächlich scheint es, als scheute er keine Umständlichkeiten, um alles Konkrete zu umschiffen. Gleichzeitig fordert er sein Gegenüber und beobachtet genau, ob es sich lohnt, auf ein Thema näher einzugehen. Trifft man mal den Kern, wird man mit einem emphatischen „Genau!“ belohnt. Ist Distelmeyer erst einmal in Fahrt, vergewissert er sich immer wieder, ob man noch kapiert, worum es geht, oder ob seine Ausführungen noch von Interesse sind. Und wenn er hemdsärmelige Wörter wie „easy“ oder „abgefahren“ benutzt, ist das in etwa gleichzeitig so bizarr und nett wie ein Foucault-Seminar auf Kölsch. Manchmal fragt er, statt zu antworten, auch lieber zurück: Mit Jochen Distelmeyer ist es immer ein bisschen so wie mit dem Uni-Professor in der mündlichen Prüfung, der nicht so viel helfen darf, auch wenn er die Bemühungen seines Studenten erkennt. Aber womöglich ist dieser Vergleich schon wieder viel zu deutsch und akademisch. Wahrscheinlich mag der 42-Jähnge — wie andere große Texter von Paddy McAloon (Prefab Sprout) bis Bob Dylan – schlichtweg seine Arbeit nicht erklären. Es ist doch alles da, in meinen Songs, mag er denken. Vielleicht kann er auch einfach besser über seine Erkenntnisse schreiben und singen als reden. Und doch, wenn man seine scheinbar immer etwas diffusen Antworten wieder und wieder hört oder liest, versteht man besser, was den Distelmeyer des Jahres 2009, den „Heavy“-Distelmever, umtreibt.

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„Heavy“ ist sowohl sprachlich als auch musikalisch sehr eindeutig. So als ob du ganz genau gewusst hättest, was du tust. Hast du je mit dem Gedanken gespielt, etwas ganz Anderes zu machen? Nein. Mein Gefühl war, als ich die Platte gemacht habe, genauso eindeutig, wie sie nun für dich wirkt. Schon vorher, durch die Blumfeld-Auflösung, wurden mir einige Sachen klarer. Vielleicht hatte ich am Ende der „Verbotene Früchte“-Tour schon so eine Ahnung: dass ich mein Selbstverständnis als Musiker und Mensch in eine andere Phase eingeleitet habe.

In was für eine Phase?

(langes Nachdenken, keine Antwort) In eine selbstbewusstere Phase? Man meint zu hören, dass du dich mit dem, was du sagst und musikalisch ausdrückst, wohlfühlst. Ja? Das sehe ich durchaus ähnlich, (lange Pause) Schon mit Blumfeld war mein Anspruch, die Kunst nicht für das Leben und das Leben nicht für die Kunst zu opfern. Und herauszufinden, wie man das machen kann. Und Musik dabei entstehen zu lassen. Ich habe in meinem Bedürfnis, beides leben zu können, fühlen zu können und haben zu wollen, immer gedacht, dass ich mich der Aufgabe stellen will, beides hinzukriegen, weißt du? Das ist jetzt deutlich schwieriger als mit Anfang 20, als man zum ersten Mal diesen Widerspruch erahnt hat. Aus dieser Spannung entstehen auch Stücke. Aber auch aus dem Gelingen und dem Gefühl, dass das möglich ist. Aber ich bin da noch auf dem Weg.

Vieles dreht sich bei dir aktuell um Bekenntnisse: Du bringst erstmals eine Platte unter deinem Namen heraus. In mehreren Stücken wie „Er“ und „Murmel“ lieferst du ein Zwischenergebnis deiner Suche nach deiner Positionierung in der Welt. Genau. Auf der musikalischen Ebene kann ich sagen: Ich bin Sänger und Songwriter, und jetzt fühlt es sich endlich auch so an. Ich weiß jetzt, dass ich das kann, und mir macht es Spaß. Ich wollte einfach gerne Popsongs schreiben.

Was fühlt sich heute anders an als mit Blumfeld?

Mir ist letzt noch klarer als vorher, dass es für das, was ich machen möchte, für das, was mir wichtig ist, keine Role-Models gibt.

Dieses Zu-sich-Finden, von dem du sprichst, taucht auch im Song „Er“ auf. Darin sagt dein Spiegelbild: “ Ich hab ihn lang nicht mehr gesehen.“

Es gibt doch diese Momente, wo man sich nach längerer Zeit irgendwo ganz unvermittelt von außen betrachtet und sich fragt: Wo war ich denn bitte schön die ganze Zeit? Für mich ein sehr klärender Song.

Das mit der Eindeutigkeit ist bei Jochen Distelmeyer von jeher so eine Sache. Da ist die klare Sprache und die Liebe zu griffigen Popmelodien auf der einen Seite, auf der anderen Seite steht die komplexe, oft uneindeutige inhaltliche Ebene. Das Gute daran: Man kann sich den Distelmeyer-Werken auf verschiedenen Ebenen nähern. Auch bei HEAVY ist das wieder so. Das funktioniert dann ähnlich wie bei einem Wimmelbuch für Kinder: Man kann entweder einfach nur in den Einzelbildern versinken und sich die Figuren anschauen oder sie durchs ganze Buch begleiten und herausfinden, wie sie im Zusammenhang stehen. Oder aber man verfolgt das gesamte Schicksal der Figuren durch alle Wimmelbücher-Episoden hindurch. Beim Gesamtwerk von Jochen Distelmeyer allerdings, sieben Studioplatten, wäre der Vergleich mit der komplexen Architektur eines vielschichtigen Versepos wie Vergils „Aeneis“ wohl angebrachter. Distelmeyer selbst ist auch so ein Suchender, ein Mann mit einem wahnsinnig wachen Geist und einem großen Bedürfnis nach Sinn. Einer, der sich und die Welt extrem fühlt, im Großen wie im Kleinen, und der seine Position darin zu finden versucht.

Auf HKAVV finden sich einige klare Bekenntnisse. Das Bemerkenswerte aber ist, dass Distelmeyer seine komplexen Themen so entwaffnend eindeutig und treffend formuliert und in so großartige Popmelodien bettet, dass sie einem beim Mitsingen fast im Hals stecken bleiben. Unvorstellbar, dass jemand, der den Text des Beziehung-am- Abgrund-Songs „Bleiben oder gehen“ (schöne Anleihe beim Gitarrenintro von Prefab Sprouts „Bonny“) hört, nicht tief seufzen wird:

„Irgendwann hat es aufgehört / Hat das Schweigen nicht mehrgestört I Irgendwann waren wir zu wenig füreinander da/Wir haben gestritten und uns verletzt / Und mit jedem Mal wurde ein goldener Käfig, was einmal Liebe war/ Und jeder von uns fragt sich I Soll ich bleiben oder gehen / Ist es das wert, und was hält mich noch hier? „

Das sind nicht etwa Schlager-Plattitüden, sondern zutiefst einfühlsame Beschreibungen des großen schmerzhaften Dazwischen: vertraute Gefühle, Fragen und Erkenntnisse zwischen den Entscheidungen, zwischen Glück und Unglück, zwischen Wissen und Ahnungslosigkeit, zwischen Liebe und Hass, zwischen dem Anfang einer Beziehung und ihrem Ende.

Das Cover erklärt die Platte, oder? Vorn machst du eine riesige Kaugummiblase, auf der Rückseite zerplatzt sie dir mitten im Gesicht. Der kurze Moment des Glücks knallt dir zurück in die Fresse? Das sehe ich auch so. Ich mach‘ ja immer so Kaugummiblasen, also so: (macht eine Kaugummiblase). Und irgendwann dachte ich: Das ist ja heavy, das wird mein Cover.

Wann fühlst du dich so wie auf der Coverrückseite? Oft. Nicht immer. Aber für diese Platte fühle ich mich so.

Du gehst darauf viel ausdrücklicher auf private als auf politische Entwicklungen ein. Dennoch spürt man eine allgemeine Enttäuschung. Es könnte sein, dass es bei vielen Stücken eher um den Moment geht, der dazwischen ist, zwischen der Erwartung und der Enttäuschung.

Warum wolltest du diesen Moment näher betrachten?

Ich habe sowohl im größeren, gesellschaftspolitischen Zusammenhang als auch in kleinen privaten Beziehungen

geschnallt, was beim Erkennen von Projektionen passiert. Man wirft zu Anfang seine Projektionen, Bilder oder Muster auf die Dinge oder auf eine Person … ja? Man versieht das Unverstandene und Unbekannte mit seinen Bildern, damit es Sinn macht oder man das überhaupt leben oder ertragen kann … Weißt du? Ja? Diese Projektionen lösen sich aber in dem Moment, in dem man versteht und erkennt.

Ist man selbst schuld an enttäuschten Erwartungen?

Na ja, schon. Aber es ist ja auch okay so. Dann gibt es eben keine Flussgötter mehr, dann dreht sich nicht mehr die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne, dann gibt es nicht mehr den Menschen, den man geliebt hat, auf die Art, wie man dachte, dass er oder sie sei. Dann sind gedachte Wertpapiere nichts Anderes als Schuldscheine, dann ist eine Traumfabrik oder ein mit Hoffnung verknüpfter Kontinent oder ein Imperium, von dem eine Strahlkraft ausging, auch nur noch ein Land. In dem Moment, wo diese Projektion nicht mehr an den Dingen haften kann, merkt man, dass das Entwürfe gewesen sind, die aus einem selber kamen: Dämonen, Hoffnungen, Ängste, Hass, Liebe, Verzweiflung. Aber all das hat geholfen, um damit umzugehen, um es einordnen zu können. Das haben wir seit dem 11. September erlebt. Das erleben Menschen privat täglich.

Was passiert, wenn die Blase zerplatzt ist?

Dann geht es weiter. Denn die Losung, das nächste Mal realistischer zu sein, ist auch ein Trugschluss. Diese Vokabel, sich der Realität zu stellen, den Tatsachen ins Auge zu sehen, ist ja wieder etwas Projektives, das dem gebrochenen Bild entspricht. Wenn der Wirtschaftsteil ins Feuilleton übergewandert ist und dann die Metaphern durchdekliniert werden, ja? Wenn man versucht, des katastrophischen Zusammenbruchs einer Wirtschaftsordnung habhaft zu werden. Dann operieren sie wieder mit neuen Bildern. Deswegen heißt es bei „Lass uns Liebe sein“: „Ich träum‘ den Traum noch mal“. Aber eben anders. Nämlich im Bcwusstsein des Erwachtseins, im Bewusstsein der Enttäuschung, Desillusionierung, auch der Unhaltbarkeit. Ohne all das können wir nicht leben. Aber es ist schön und hilfreich, wenn man zu dieser Technik ein Bewusstsein hat. Sonst ist es nicht mehr als eine schlechte Droge.

Das Dazwischen also. Jochen Distelmeyer als präziser Beobachter des vielleicht Ungenauen, aber Alltäglichen. Des Zustands zwischen den Idealisierungen und Projektionen auf der einen und der großen Ernüchterung auf der anderen Seite. Ein Zustand, härter als Rock und heavier als Metal.

Wie kamst du auf den Titel?

Die Hälfte der Songs war fertig, da kam mir dieser Begriff unter. Ich dachte: abgefahren! Ich finde, der Titel passt zu den unterschiedlichen Arten von Songs auf der Platte. Das ist die perfekte Klammer. Nicht nur die harten Stücke, sondern auch die soften Stücke sind ja hart. Auch das Leichte an dem Wort „heavy“ mag ich, das hat was Himmlisches.

Klingt schon etwas komisch. „Heavy“ sagt außer Lindenberg kein Mensch mehr.

Ich finde das keck, (lacht) Die Songs auf HEAVV sind recht kompakt geraten. Selbst in Lovesongs wie „Lass uns Liebe sein“, „Nur mit Dir“ oder „Jenfeld Mädchen“ gibt es keine Geigenhimmel und Saxophoneinlagen wie bei „Graue Wolken“. Warum? Das hat sich durch die neue Besetzung so ergeben. Wir sind ja jetzt zu fünft. Klar haben wir an manchen Stellen gedacht, hier würden gut Streicher hinpassen. Aber dann war der Song schon durch eine Gitarre oder ein Keyboard oder einfach durch die Art, wie die das gespielt haben, so voll, dass man es so belassen konnte.

Und wie ist das für dich mit einer neuen Band? Spürst du da deutlich einen Neuanfang?

Wir sind eine super Truppe! Als Solokünstler das Glück zu haben, Musiker zu finden, mit denen ich auch all das habe, was ich mit Blumield hatte, aber nochmal andere Bereiche im Zusammenspiel erleben zu dürfen, macht mich froh. Ich habe echt Schwein gehabt.

In dem Song „Murmel“ beschreibst du namentlich Leute, die gängige Dinge tun — ins Kino gehen zum Beispiel. Du hast schon in Blumfeld-Songs deine Zerrissenheit thematisiert: dazu gehören oder außen vor sein? In „Jenseits von jedem“ warst du noch Beobachter. In „Murmel“ bist du mittendrin.

Ja! Ich möchte sehr gerne einer von diesen Leuten sein. Ich fühle mich auch dabei. In dem „Murmel“-Song verorte ich mich ]a nur scheinbar außen vor, im Refrain. Aber ich könnte auch ein Teil von jedem dieser Menschen sein. Das war mir wichtig zu zeigen. So wie ich jetzt mit meinem Namen dastehe, heißen die in dem Lied auch so, wie sie heißen. Es ist schwerer, so einen Song zu schreiben als einen kritischen, und zudem schwer, sich zu ihm zu bekennen.

Wie ist das bei dir mit Kritik? Hat dich die Kritik an „Verbotene Früchte“ und am „Apfelmann“ verletzt?

Ich war oft überrascht von der Vehemenz in der Boshaftigkeit von Kritiken. Aber am Ende verbinde ich Dankbarkeit damit. Ich veröffentliche ja Lieder, damit sie zur Kenntnis genommen werden. Das ist Kommunikation.

Wie ist das für dich, wenn bei jedem Distelmeyer-Release die Diskussionen beginnen? „Wie meint er das?“, „Wie kann der so was sagen?“ Toll! Bei „Verbotene Früchte“ gab es Titelvorschläge, schon bevor die Platte rauskam. Das ist eine total gute Mischung aus Achtung und der nötigen Respektlosigkeit. Die machen sich auch lustig, und dass das ein Teil von was Positivem sein kann, finde ich toll.

Hand aufs Herz: Wie persönlich bist du in deinen Texten?

Wenn man etwas in einem Anderen erkennt von sich, dann kann man über Andere schreiben. Hab ich auch schon gemacht. Aber nur über Andere zu schreiben, geht nicht, oder? … Hach, ich weiß nicht. Ich schreib‘ ja keine Romane. Am Ende sind es Songs.

Albumkritik S. 124 Lirekriltk ME 9/09 irivir.iucbemlislelmever.de