Reflektor

Wie Jochen Distelmeyer es immer wieder schafft, Menschen zu emotionalisieren


Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Hier die 20. Folge seiner Kolumne, in der er erklärt, warum er seine erste Begegnung mit Blumfeld mit Hundescheiße verbindet.

Anlässlich von GEFÜHLTE WAHRHEITEN, dem neuen Album von Jochen Distelmeyer, denke ich viel an meine erste Begegnung mit Jochen und an das Zusammentreffen unserer Bands Blumfeld und Tocotronic zurück. Die verschiedenen Anzug- und Jackett-Träger der Hamburger Musikbohème, von Ted Gaier über Bernd Begemann und Tilman Rossmy bis zu Klaus Ramcke, hatten wir bereits in den Kneipen, in die wir nun gingen, kennengelernt. Glücklicherweise waren sie allesamt sehr aufgeschlossen und freundlich zu uns. Und das, obwohl es doch gewisse Gräben zwischen uns gab, in Bezug auf Kleidung, Gitarren-Verzerrer sowie auch eine unterschiedliche Wahrnehmung der eigenen Bedeutung oder Wichtigkeit.

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Manche von ihnen, so hatte ich den Eindruck, hielten sich durchaus für eine Avantgarde auf kulturell-politischem Felde. Dieses Selbstbewusstsein fand ich zwar interessant, es verunsicherte mich jedoch auch ein wenig. Hatte ich es doch gerade gewagt, mich aus der austrocknenden und freudlos gewordenen Punk-Szene hinauszubegeben, um mich in die angenehme Hängematte des Slackertums hineinzulegen. Jochen Distelmeyer umgab zusätzlich eine sehr besondere Aura. Allein schon optisch: In seinem Blick glaubte ich Anteile aus Marlene Dietrich und Thomas Mann zu erkennen. Die Texte der Blumfeld-Alben ICH-MASCHINE (1992) und L’ÉTAT ET MOI (1994) erschlugen mich geradezu, „Zeittotschläger“, „Von der Unmöglichkeit ‚Nein‘ zu sagen, ohne sich umzubringen“ und „Superstarfighter“.

„Das stinkt nach Scheiße“

Trotz der unzweifelhaft unzähligen Zitate in Musik und Text klang das alles sehr eigen. Ich war beeindruckt. Was unsere eigene Musik betraf, war ich damals noch eher damit beschäftigt, mir darüber klar zu werden, welcher Ton sich an welcher Stelle meines Instruments befand. Und so empfanden wir es als sehr aufregend, als wir Blumfeld 1994 für neun Shows in Deutschland und Österreich supporten durften. Unser erstes Aufeinandertreffen fand in Berlin statt. Aufgeregt enterten wir die Bühne für den Soundcheck. Wir störten dabei vermutlich die noch am Sound feilenden Blumfeld. In diesen Jahren waren sie gemeinsam mit Tobias Levin von der Band Cpt. Kirk & unterwegs, wie ein nervöser Geist erschien er bei den Konzerten plötzlich bei den letzten Songs auf der Bühne und malträtierte auf einzigartige Weise seine Gitarre. In Sachen Style und Inszenierung konnte man von Blumfeld einiges lernen.

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Zurück zum Soundcheck, wir schlurften also mit unserem Equipment-Gerümpel auf die Bühne und wurden durchaus freundlich begrüßt. Kurze Zeit später jedoch sagte Bassist Eike Bohlken: „Hier stinkt es irgendwie.“ Jochen: „Das stinkt nach Scheiße.“ Tobias Levin: „Ganz klar, das ist mutmaßlich Hundescheiße.“. Drummer André Rattay: „Nicht von uns, der Geruch war bis eben noch nicht da.“ Jochen meldete sich wieder zu Wort: „Das ist wirklich der Geruch von Scheiße, von Hundescheiße. Mit Gewissheit.“ So funktioniert also Diskurs-Rock, dachte ich. Nun wandte sich Jochen an uns: „Vermutlich hat das jemand von euch unter dem Schuh.“ Nervös kontrollierten wir unsere Sohlen, ohne jedoch etwas Auffälliges feststellen zu können. Bis heute haben wir nicht rausbekommen, ob der Gestank wirklich von uns eingeschleppt worden war. Irgendwann verflog der Geruch, und wir waren nun zum ersten Mal in einem wirklichen Tourleben angekommen.

Jedes Blumfeld-Album wusste zu überraschen

Bis heute bin ich vom Klangkörper Blumfeld beeindruckt. Ich habe keine Ahnung, was Eike da am Bass spielte, aber es war wirklich einzigartig. Als später die Besetzung wechselte, waren Blumfeld eine neue Band. Eike Bohlken ging, Michael Mühlhaus und Peter Thiessen von der Band Kante kamen hinzu. Die gesamte Hamburger Musikszene staunte über das monolithische Album OLD NOBODY (1999), auch im Anschluss wusste jedes Blumfeld-Album zu überraschen. Später wunderte ich mich, auf welche Empörung der Song „Apfelmann“ vom finalen Blumfeld-Album VERBOTENE FRÜCHTE (2006) bei Teilen des Publikums stieß.

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Für Jochen war dieses Lied vermutlich ein Versuch, seine Funktion als Lehrmeister für einen Teil seines Publikums ironisch zu reflektieren. Die Empörten hingegen hatten nun Gelegenheit, ihren Narzissmus der kleinen Differenzen auszuleben. Genau das tun einige auch heute noch anhand von Jochen Distelmeyers Musik. Andererseits ist es ja auch eine der magischsten Eigenschaften von Popmusik, dass sie es schafft, Menschen im Positiven wie im Negativen derart zu emotionalisieren. GEFÜHLTE WAHRHEITEN enthält großartige Songs wie „Komm“, „Nur der Mond“ und „Nicht einsam genug“. Zwar begeistert mich nicht jeder Titel des Albums gleichermaßen, doch bin ich froh, dass Jochen Distelmeyer uns ein neues Album geschenkt hat, und ich hoffe, dass seine Stimme noch lange nicht verstummen wird.

Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.viertausendhertz.de/reflektor

Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 10/2022.