Colin Stetson

SorroW: A Reimagining Of Górecki’s 3rd Symphony

52Hz/Kartel/Indigo

Der Saxofonstar spielt Góreckis dunklem sinfonischen Hit intensive instrumentale Erweiterungen zu.

Diese Aufnahme berichtet eigentlich von Zeit und ihrer Überwindung in den meta­physischen Schleifen von Musik. Und diese Geschichte beginnt im Jahr 1977, in den Geschichtsbüchern Zeitmarke für den Deutschen Herbst, die Schleyer-Entführung, Mogadischu, den Tod der Stammheimer RAF-Gefangenen. Bundeskanzler Helmut Schmidt besucht Polen, ein politischer Akt der Versöhnung im Gedenken an Holocaust und Zweiten Weltkrieg. 1977 ist auch das Jahr, in dem Henryk Mikołaj Góreckis 3. Sinfonie, Opus 36 (im polnischen Original: „Symfonia pieśni żałosnych“), uraufgeführt wird, eine Vertonung von Gebetstexten aus dem 15. Jahrhundert und Inschriften aus einer Gestapo-Zelle in Zakopane, rund 90 Kilometer südlich von Krakau gelegen.

15 Jahre später stürmt das Werk für Orchester und Sopran des in der Nähe von Au­schwitz aufgewachsenen Komponisten in vielen Ländern die Pop-Charts, eine schwer tragende, langsame und so gar nicht neu tönende Musik, die im Lamento die unfassbare Hässlichkeit des Krieges zu verarbeiten und überwinden sucht. 1977: Das Geburtsjahr des Saxofonisten Colin Stetson, der inzwischen den Status star in his own right erworben hat und mit seinen archaischen Basssounds die Aufnahmen von Arcade Fire, Bon Iver, Feist und zuletzt Animal Collective bereicherte.

Als Góreckis Klagesinfonie Anfang der 90er-Jahre auch auf dem amerikanischen Kontinent populär wurde, war Stetson noch zu jung, um sich für diese Musik zu interessieren. Später aber hat er Góreckis Werk immer wieder gehört, jedes Detail in sich aufgesogen, eine intensive Beziehung zum Klangmonument des Polen entwickelt. Und weil diese Musik so viel in ihm veränderte, musste er sie vielleicht verändern.

In des Saxofonisten Neueinspielung tragen die Holzblasinstrumente jetzt die großen Melodiebögen, Góreckis Streicher sind durchaus präsent, sie teilen sich aber Parts mit Synthesizern und Gitarren. Stetson ist klug genug, das Opus 36 nicht als Classic-goes-Rock-Ding zu inszenieren, er arbeitet vielmehr an den Klangfarben, die ihn berühren, und führt so die gewaltigen Klagesequenzen über die Zeit und wieder zu sich selbst zurück. Geigen und Celli sowie „klassische“ Rock- und Popinstrumente werden in einem erweiterten Soundkosmos verwoben, oft zu einem größeren, nach oben strebenden Klang.

Im Mezzosopran von Megan Stetson, der Schwester des Saxofonisten, fährt die Musik dann wie bei einem Blutsturz zu Boden. Und wenn das Schlagzeug zum Ende des zweiten Satzes wieder einsetzt, beginnt Stetson „seine“ Sinfonie in Strukturen des Post-Rock zu erden. Aber nur ein paar Momente lang, dann fällt der Vorhang. Der dritte Satz beginnt mit einem unheilvollen Dröhnen, das beinahe in der Luft steht – das erinnert an Scott Walkers BISH BOSCH, ein Album, das Krieg im Klangraum hörbar machte. Wie der erklärte Konservative Górecki die Neueinspielung mit dem Titel SORROW beurteilen würde, muss ein Geheimnis bleiben – er verstarb im Jahr 2010. In Stetsons Intensiv­station überschreitet diese Musik auf gewisse Art die ihr zugeschriebenen Erfah­rungen, sie wird zu einem Werk, das neue Trauer tragen und neue Geschichten von Flüchtlingen begleiten könnte.