Lou Reed :: Berlin
Zwei Städte, zwei Meilensteine, eine Rocklegende – das Rock’n’Roll Animal auf gesellschaftlicher Spurensuche.
Leicht hat es Lou Reed niemandem gemacht. Nicht seinen Fans, nicht den Kritikern und schon gar nicht sich selbst. Seit der Trennung von The Velvet Underground 1970 schlug der Chronist des Abgründigen einen künstlerischen Zickzackkurs ein, der selbst David Bowie als relativen Stoiker dastehen lässt. Der Zufall will es, dass ausgerechnet Reeds drittes und fünfzehntes Studiowerk parallel wiederveröffentlicht werden: Berlin und New York. Clever als Titel gewählte Städtenamen zweier Meilensteine einer Rocklegende, die mehr als einmal im Leben in den Schlund der Hölle geblickt hat. Nach dem kommerziellen Durchbruch 1972 beiderseits des Atlantiks mit der elegant-verkommenen Bowie-Produktion Transformer er wäre es für den ehemaligen Auftragskomponisten des Budget-Labels Pickwick ein Leichtes gewesen, eine exakte Kopie als Nachfolger ins Rennen zu schicken. Doch stattdessen suchte Reed die künstlerische Herausforderung. Die fand er in Bob Ezrin, ein als Genie apostrophierter Produzent, der aus Frank Zappas ehemaliger krachiger Transvestiten-Kapelle Alice Cooper binnen zweier Jahre und vier Alben eine Superstar-Combo mit Faible für Horror, Schock und Skandale gezimmert hat. Mit opulenten Orchester-Arrangements peppte der mit einer Heroinsucht hadernde Ezrin auf Berlin, 5 Sterne, Reeds skizzenhafte Eindrücke einer dysfunktionalen Familie, aber auch die an Idol BillieHoliday gerichtete Hommage „Lady Day“ auf. Die damals noch durch Mauer und Stacheldraht geteilte Ex-Reichshauptstadt diente Reed dabei weniger als Mittel für ein eindringliches Porträt, sondern vielmehr als Metapher, um die innerfamiliäre Katastrophe zwischen Drogenabhängigkeit, Geldmangel. Kriminalität und Zwangsprostitution zu verdeutlichen. Das ursprünglich schon auf Reeds Debüt 1971 vertonte Poem „Berlin“ war dabei der konzeptionelle Aufhänger. Eine Metropole, die der Amerikaner freilich nur vom Hörensagen und durch das Filmmusical „Cabaret“ kannte. In beeindruckender Zeitlupenhaftigkeit schnoddert sich Reed durch klaustrophobische Song-Gemälde voller Melancholie, Gewalt, Verachtung und Niedertracht. Kammermusikalische Hymnen überden Zerfall gesellschaftlicher Werte wie „How Do You Think It Feels“,“Oh Jim“ und „Sad Song“ erhalten durch Steve Hunters und Dick Wagners Doppel-Metal-Gitarren-Spiel einen zusätzlichen Reiz, der erst wenig später auf dem famosen Konzertmitschnitt Rock’n’Roll animal voll zum Ausdruck kommen sollte. 16 Jahre und zwölf Alben später kam dann Reeds gloriose Reminiszensan den urbanen Moloch New York, 4,5 Sterne, Andy Warhols überraschender, früher Tod und die zeitgleiche Wiederannäherung an seinen ehemaligen Spezi John Cale beim Duo-Projekt Songs For Drella dürften eine nicht zu unterschätzende Rolle beim spartanisch inszenierten Songzyklus spielen, der dem Velvet-Underground-Erbe wohl am nächsten kommt und in der Neuauflage um Archivtracks erweitert wurde. Erstmals seit Jahren griff Lou Reed im Studio und auf Bühne wieder selbst zur Gitarre. Ließ sich von seiner gescheiterten zweiten Ehe („Romeo Had Juliette“), der ominösen Nazi-Vergangenheit eines UN-Generalsekretärs („Good Evening Mr. Waldheim“) und natürlich von der zwiespältigen Entwicklung seiner sich mehr und veränderten künstlerischen Zuflucht Manhattan („Dirty Boulevard“, „Dime Store Mystery“, „Halloween Parade“) inspirieren. Trotz seiner vielfältigen Aktivitäten bewegte sich Lou Reed seither nicht einmal mehr annähernd auf dem künsterlischen Niveau von New York. Trotzdem drückt das deutsche Feuilleton den einst so ungeliebten Rockrabauken wegen seiner Ballett- und Theater-Auftragsarbeiten mittlerweile innig an die sonst so kritikversessene Brust.
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