Tangerine Dream

The Virgin Years 1974-1978

Virgin / EMI VÖ: 21. Januar 2011

Fünf Albenklassiker der Elektronikpioniere Tangerine Dream für Virgin Records auf drei CDs in einer Box.

Sieben Tage benötigte der Allmächtige laut Schöpfungsgeschichte, um den Himmel und die Erde zu schaffen. Sieben Jahre hingegen experimentierte das von Edgar Froese aus der Taufe gehobene Berliner Ensemble Tangerine Dream, bis sich für die anfänglich belächelten Elektronik-Pioniere so etwas wie künstlerische Anerkennung, aber auch finanzieller Erfolg abzeichnen sollte. Nach der Redensart „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“ kam der Zuspruch für Tangerine Dream aber in erster Linie nicht vom deutschen, sondern ausgerechnet vom kritischen englischen Pop-Markt.

Die Geschichte von Tangerine Dream begann im September 1967, pünktlich zur Inbetriebnahme des deutschen Farbfernsehens, in einem typischen Hinterhofstudio der seit sechs Jahren eingemauerten Stadtstaat-Enklave West-Berlin – ganz im Zeichen des damaligen Underground-Zeitgeists wild, wüst und auch ein wenig wirr. Sieben Jahre später mündeten die Bemühungen in der majestätischen Ästhetik des Minimalismus von Phaedra, das seither als Meilenstein der moderenen elektronischen Musik gilt. Mit Disziplin, Wagemut und immer mal wieder ausgetauschtem Personal gelang es Tangerine Dream, sich vor allem international einen ähnlichen Ruf zu erspielen wie ihre Düsseldorfer Zeitgenossen Kraftwerk, die in ihrer Anfangszeit ein ähnlich verwegenes Klangbild produzierten. Als Faustregel gilt seither: Kraftwerk brachten Techno und Synthie-Pop an den Start, Tangerine Dream Trance, Ambient und New Age. Auch wenn diese Vereinfachung nur die halbe Wahrheit erzählt.

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Es lagen vier Alben hinter der Band, die vom unruhigen Drang um einen eigenen Stil bemüht war und innerhalb von  knapp vier Jahren auf Rolf-Ulrich Kaisers visionärem Label Ohr veröffentlicht wurden. Dann kürte der allgegenwärtige britische DJ-Geschmackspapst John Peel von BBC Radio One in seiner Playlist Ende 1973 das vierte und bis dato stringenteste Werk Atem zum „Album Of The Year“. Viel Ehr, viel Freund! Richard Branson, Chef des damals gerade mit Mike Oldfields Multimillionenseller Tubular Bells durchgestarteten britischen Independentlabels Virgin Records, zeigte sich nicht nur interessiert, sondern handelte auch. Im Dezember 1973 unterzeichneten Tangerine Dream  den Vertrag mit Virgin. Das Trio war von den überspannten Eskapaden und gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Kosmische-Kuriere-Mogul Kaiser entnervt. Eine künstlerisch noch fruchtbarere Phase begann.

Bis dahin verlief die Entwicklung Tangerine Dreams kontinuierlich und line­ar: Von der Freigeist-Collage des Debütalbums Electronic Meditation über das noch unentschiedene Übergangswerk Alpha Centauri und das erste nominell vom Synthesizermodell VCS3 getragene Doppel­album Zeit bis hin zur (fast fertigen) Blaupause des späteren Sounds: Atem. Diesen sollte das Gespann Edgar Froese, Christopher Franke und Peter Baumann mit den nächsten vier Alben sowie einem Konzertmitschnitt fortführen – all diese Auf­nahmen sowie einige Extras (Single-Edits, Radio Adverts etc.) finden sich auf dem 3-CD-Set The Virgin Years 1974–1978.

Mit drei längeren Meditationen sowie einer kurzen Improvisation schloss das in Virgins hauseigenem Studio The Manor im ländlichen Shipton-On-Cherwell aufgezeichnete und im Titel auf die griechische Mythologie anspielende Phaedra stilistisch nahtlos an Atem an. Schrilles, Schräges und allzu Abgedrehtes wich einem fast schon klassischen Ansatz. Kurios blieb das noch analoge Klanggewabere allein durch manch unfreiwillige Tonartwechsel aufgrund der hohen Temperaturen der Oszillatoren, aber auch durch unterschiedliche Umsatzzahlen im In- und Ausland: Während sich hierzulande gerade mal 6 000 Exemplare des Albums verkauften, auf dem erstmals Synthesizer mit Sequencern gekoppelt wurden, erzielte Tangerine Dreams Fünfte in Großbritannien sechsstellige Verkaufszahlen und schaffte Platz 15 der Albumcharts.

Lediglich eine einzige ellenlange Komposition, die als „Part I“ und „II“ auf zwei Vinyl-Seiten verteilt wurde, bot der Nachfolger Rubycon im Jahr 1975. Die filigrane Suite mit der ätherischen Aura des Jenseits, die wieder in The Manor aufgenommen wurde, gilt seither als das definitive musikalische Statement Tangerine Dreams. Rubycon wurde X-mal von selbsternannten DJ-Koryphäen auf zahllosen Bootlegs remixt. Das Album wurde nach dem Fluss benannt, den Gaius Julius Caesar im Jahr 49 vor Christus überquerte und damit den römischen Bürgerkrieg auslöste. Rubycon gilt als als Must-Have in den Chill-Out-Rooms. Synthesizer und Sequencer zuhauf finden sich auch auf dem in den Fairfield Halls im britischen Croydon aufgezeichneten ersten Konzertmitschnitt Tangerine Dreams, Ricochet. Die Tracklist besteht abermals aus „Rubycon Part I & II“.

Da Tangerine Dream stets zur Improvisation neigten, lohnt sich der Vergleich der Bühnenversion mit der Studiofassung des Albums.  Im Zeichen des Wandels stand im Jahr 1976 das Album Stratosfear. Es bot weit weniger Versponnenes als die Vorgänger. Die Single-Edits von „The Big Sleep In Search Of Hades“ und „ Stratosfear“ inspirierten David Bowie zu seinem elektronisch eingefärbten, von Brian Eno produzierten Album Low. Einen anfänglich unausge­gorenen Stilwechsel markierte Cyclone zwei Jahre später: Edgar Froese und Christopher Franke holten nach dem Ausscheiden Peter Baumanns den Schlagzeuger Klaus Krieger sowie den Sänger und Multiinstrumentalisten Steve Jolliffe in die Band – mit zwiespältigem Ergebnis: Während das Instrumental „Madrigal Meridian“ an die Arbeiten zwischen 1974 bis 1976 anknüpft, klingen „Bent Cold Sidewalk“ und „Rising Runner Missed By Endless Sender“ mit Jolliffes Gesang wie New-Age-und Prog-Geplänkel.