The Neville Brothers – Brother’s Keeper

Der Single-Vorbote „Bird On A Wire“, den Dave Stewart für die allerneueste Filmklamotte mit Goldie Hawn und Mel Gibson auf Hit-Format trimmte, wirkt zunächst nur wie ein eher mäßiges Vehikel für Aaron Nevilles außergewöhnliche Stimme. Doch schon nach den ersten Takten von „Brother’s Blood“ sind etwaige Zweifel schnell vom Tisch: Ein warmer, federnder Groove, getragen von Percussion und wohldosierten Baß-Akzenten, bereitet das Entree von Art, Aaron, Cyril und Charles vor, der sogleich auch seine charakteristischen Saxophon-Linien zieht.

Kernstücke des Albums, gerade auch wegen der behutsam eingestreuten Message, sind zweifellos die zwei Versionen von „Sons & Daughters“. Im gesprochenen Teil schlägt Art nüchtern den Bogen von unschuldigen Rassismus-Opfern zu bequemen Schlagworten und leeren Floskeln der amerikanischen Verfassungs-Wirklichkeit: „Wir geben ein paar kleine Freiheiten her für ein niedliches, kleines Amerika. Freie Meinungsäußerung – nur solange Du den Mund nicht zu weit aufmachst.“ Dann schweben akustische Gitarren herein und nehmen die Spannung vom monotonen, aufregenden Beat; gesungene Gospel-Metaphem künden von Hoffnung und Aufbruch, der dann in der ekstatisch taumelnden zweiten Version auch musikalisch vollzogen wird.

Souverän wie immer streifen die Nevilles auf diesem Album durch das musikalische Panorama ihrer Heimatstadt New Orleans – vom puren Gospel („Steer Me Right“) über knackigen, vertrackten Funk („Brother Jake“) bis zu Reminiszenzen an die Marching-Band-Tradition in „Witness“ oder Karibik-Sounds im zusammen mit Bono von U 2 verfaßten „Jah Love“. Ein erstaunlich gutes Gespür beweist das Brüder-Quartett wieder für intensiv aufbereitete Cover-Versionen. Dabei gefällt besonders „Falling Rain“, das Link Wray – nach „Fire & Brimstone‘ auf YELLOW MOON – erneut ein paar Tantiemenschecks einbringen dürfte.

Daniel Lanois, dessen Raumklang eine entscheidende Komponente von YELLOW MOON war, hat den Stab für dieses Album an seinen Adlatus weitergereicht. Und Malcolm Burn, der bisher vor allem mit seiner Produktion für die kanadischen Country-Rocker Blue Rodeo in Erscheinung trat, löst seine Aufgabe genauso gut – mit sparsamen Akzenten, einer detaillierten Raumaufteilung und einem warmen, natürlichen Sound.

SCHÖNER WOHNEN

Ausgerechnet jenes Album, das Ihre lokale Identität schon im Titel herausstellte, klingt auch heute noch wie alles mögliche – nur nicht wie die Neville Brothers: UPTOWN hieß 1987 Ihr In jeder Hinsicht mißlungener Versuch, ein bißchen Pop-Airplay zu ergattern. Charles betont: „Diesen Titel gab’s eigentlich nur, weil wir eben in Uptown New Orleans wohnen.‘ Doch Uptown ist nicht das berühmte ‚French Quarter‘. Aus ihrer Abneigung gegen dieses Touristen-Viertel machen die Brüder kein Geheimnis. „Dort“, so Charles, „wird die Musik von New Orleans nicht richtig präsentiert. Und auch was sie im Voodoo-Museum des French Quarter zeigen, beröhrt den Kern der Sache überhaupt nicht. Das ist alles nur für die Touristen gemacht, um des Geldes willen.“

Viel wohler fühlen sich die Neville Brothers in der lebendigen Club-Szene uptown zwischen Napoleon Avenue und Willow Street. Der bekannteste Laden, fast direkt am Mississippi-Ufer gelegen, ist wohl dos „Tipitina’s“, wo die Nevilles 1982 ihr Live-Album NEVILLEIZATION aufnahmen. Fällt der Vorhang im Tips, lockt gleich um die Ecke das „Benny’s“ – die Stammkneipe der Brüder, sofern sie in der Stadt weilen. Und wer Glück und noch mehr Stehvermögen mitbringt, erlebt hier vielleicht noch Cyril Neville in einer späten (oder eher frühen) Jam-Session.

Art und Charles Neville leben noch immer in der Valence Street muten in Uptown New Orleans – zusammen mit einer Schwester in zwei alten Häuschen, wo schon die Eltern und Großeltern wohnten. Cyril und Aaron sind mittlerweile umgezogen. Aaron kann sich jetzt ein Haus mit Rasen und Garage in der Vorstadt am Lake Pontchartrain leisten. Doch der Clan der Brüder ist stärker denn je. Was nicht zuletzt die Thematik des neuen Albums beweist.

SCHÖNER SINGEN

Die schönste Nummer vom neuen Album der Nevilles heißt „Fearless“ – ein maßgeschneidertes Juwel für die unvergleichliche Stimme von Aaron Neville. .Er liebt es einlach zu singen. Cr macht da keinen Unterschied zwischen einem Country-Song, einem Stück von Bob Dylan oder einer schmolzigen Ballade. In dieser Hinsicht ist er wie ein unschuldiges Kind.“ So spricht Daniel Lanois über Aaron Neville, einen Kleiderschrank von Mann mit der Stimme eines Engels. Seine himmlische Stimme hat Aaron seit eh und je bei jeder Gelegenheit erklingen lassen: „Ich arbeitete als Bootsmann und Truck Driver, als Anstreicher und was auch immer – aber am Wochenende habe ich nur gesungen.‘ Mit diesem vibrierenden Falsetto sang er schon mit 17 Nat King Coles „Mona Lisa“, als er wegen Autodiebstahls im Knast saß. Selbst als er mit Drogen und Aggression zu kämpfen hatte, erklang Aarons Stimme stets als tönender Beweis für seine tiefste Überzeugung: „Gott hat uns zu einem – ganz bestimmten Zweck erschaffen, und bevor wir den nicht erkennen, werden wir diese Ente auch nicht varlassen. 1966 sang Aaron die Ballade ‚Tell It Like It Is“, die immerhin den zweiten Platz der US-Charts erreichte und sich für eine Goldene Schallplatte qualifizierte. Doch von den Tantiemen sah er keinen Pfennig. Erst als er sich Ende der 70er Jahre mit seinen Brüdern zusammentat, begann er allmählich auch die materiellen Früchte seiner außergewöhnlichen Stimme zu ernten. Und sein Duett „Don’t Know Much“ mit Linda Ronstadt brachte ihm endgültig die langverdiente Anerkennung in Form eines Grammys. Mit der neuen Single „Bird On A Wire“ können die Brüder nun wieder einen respektablen Hit verbuchen. „Jetzt verdienen wir endlich genug Geld, um uns mal ein paar Wochen Urlaub gönnen zu können‘, meint Bruder Charles zu diesem Thema.