Rufer in der Regenwüste


Weit weg vom hippen London, im schottischen Regenloch Glasgow, keimt die neueste Rockhoffnung Großbritanniens heran. Ausgerechnet Texas nennt sich das Quartett um die spröde Frontfrau Sharleen, das mit spartanischen Rocksongs zur Speerspitze einer neuen Bewegung gegen Sample-Wut und Electro-Trends wurde. Hanspeter Künzler trotzte für ME/Sounds dem schottischen Dauer-Regen.

Man sagt, Glasgow sei eine schöne Stadt. Nach unserem Anflug können wir zu dem Thema nichts Verbindliches sagen. Immerhin aber sind wir nun intim vertraut mit der Anatomie dicker Regenwolken und zugehöriger nasser Bindfäden. „Wie schade!“ ruft „Rab“ zu unserer Begrüßung und wischt mit dem Parka Ärmel übers Grau des Panoramafensters von Glasgow Airport: „Gestern noch hat die Sonne geschienen!“.

Rab ist der Co-Manager unseres Reisezieles: Texas aus/in Glasgow. Eine lange, gebückte Figur mit Sorgentaschen unter den Augen, um die Ohren vorzeitig angegraut. Er lenkt einen dunkelblauen Mercedes der 60er Jahre durch den Regen, für den er sich erneut zu entschuldigen versucht. „Ash“ hieß seine eigene Band, die er vor Jahren in Glasgow gegründet hatte. “ Wir waren von Nice beeinflußt, you remember: Keith Emerson.“

Bands wie Ash gab es wie Whisky in Schottland. Manche Musiker sattelten auf Nordsee-Öl-Arbeiter an der Ostküste um, als der Ernst des Lebens anbrach. Ein paar Verwegene starteten Kleinstudios in den Kellern ihrer Schwestern. Dem Humus entwuchsen erste schottische Erfolgskombos wie die Average White Band oder Nazareth. Erst die Punks aber schossen mit ihrer „Alles ist machbar, Herr Nachbar“-Attitüde das Pop-Job-Monopol von London endgültig ab.

„Punk“ im Sinne der Pistols erreichte Schottland zwar zu spät, doch machte das Beispiel Schule, an die Richtigkeit der eigenen Ideen zu glauben, auch wenn das restliche Business eben anderswohin schaute. Bands wie Altered Images, Orange Juice oder Simple Minds profitierten von der Verblüffung Pop-Londons, das sogleich den Trend „schottischer New Wave“ ortete, fixierte und also totglaubte. Irrtum: Kellerstudios wie das von Rab und die lokale Klubszene waren nun kräftig genug, Talente über die Wüste zu tragen, die zwischen der Borniertheit von London und den Hoffnungen Schottlands liegen.

So kommt’s, daß Texas noch immer in Schottland liegt. „Ich glaub‘ nicht, daß wir jemals von Glasgow wegziehen“, kann Sängerin Sharleen Spiteri sagen, ohne sich Illusionen schuldig zu machen: „Es gefällt uns hier. Nach London ist’s bloß eine Stunde im Flugzeug. Das ist nah genug, den Kontakt nicht zu verlieren, und weil genug weg, nicht hineingezogen zu werden ins Hype-Getue da unten. „

Und Ally McErlaine, 20jähriges Gitarrenwunder: „London – das bedeutet für uns Gratis-Mahlzeiten und eine Menge von Leuten, die hergerannt kommen und sagen:, Wir lieben Euch, ihr seid wundervoll!‘ Wenn du nach Glasgow zurückkommst, und dein Vater hat keine Arbeit, dein Bruder hat auch keine Arbeit, da hast du sogleich wieder den Boden der Realität unter deinen Füßen. „

Auf der Suche nach Foto-Motiven landen wir in einem Hafen. „Früher waren hier rundum Docks“, erzählt Rab, derweil seine Schützlinge sich vor die Wolken stellen: „Heute legt hier manchmal ein U-Boot an, nachdem es ins Netz eines irischen Fischbootes geraten ist.“ Regen ist Lokalkoloritt genug. Sharleen Spiteri, Ally McErlaine, John McElhone (bass) und Stuart Kerr (Drums) schieben sich vor den relevanten Hintergrund. Irgendwoher haben sie die Vorstellung geholt, daß echte Rocker grimmig dreinschauen. Die Witze und die Lacher enden Sekundenbruchteile, bevor der Kameraauslöser klickt.

Plötzlich taucht einer auf aus dem Regen und will ein Autogramm. Unverhohlene Freude steht der Combo im tropfenden Gesicht.

„Glasgow ist eine sehr freundliche Stadt“, berichtet Sharleen, „Man hat keine Hemmungen. Fremde anzusprechen, wenn man Lust hat dazu. Und Ally: „Wo ich her komme findet man’s brillant, daß wir Erfolg haben, daß jemand aus dem Stadtteil Whiteinch hat ausbrechen können.“

Texas? „Den Namen haben wir gewählt“, meint Ally, „weil er eine Vorstellung von viel Raum und weiten Horizonten mit sich bringt. Unsere Musik ist ebenfalls sehr offen. Dazu ist es ein internationaler Name. Menschen in allen Erdteilen haben ähnliche Assoziationen, wenn sie an Texas denken.“

Vorstellungen also von J.R.Ewing, Bohrtürmer und Raketen? „Aber nein doch! Offene Flächen. Wüsten…“

Texas sind Film-Fans. Vielleicht kommt’s daher, daß sie so flink den Schluß ziehen vom Texas des Wim Wenders zum Klima ihrer eigenen Musik. Der Gedankensprung ist nicht abwegig, vor allem wegen Allys Slide-Gitarre, die mit geradezu Cooder-’schem Gusto die Melancholie eines einsamen Kaktus heraufbeschwört. Und wegen Sharleens Stimme, deren bluesige Melodie-Ausflüge deshalb noch verlassener klingen, weil sie ohne jedes Zeichen weltlicher Heiserkeit daherkommen.

Diese Stilpfeiler werden mit Spuren von Rock gekreuzt, die sich vom country-haften bis hin zum Thrash bewegen (live gehört eine Version von „Sweet Child O‘ Mine“ der Guns’n-‚Roses zum Repertoire; Ally listet dem kleinen Kreis seiner Lieblings-Rockbands noch Metallica und Jane’s Addiction hinzu). Heraus kommt letztendlich eine Stilfusion, die tatsächlich eher in der Clubwelt von Austin, Texas, vermutet würde, als im Southside, dem Glasgow südlich des Flusses Clyde, nach welchem die Band ihre Debüt-LP benannt hat.

„So ist das immer!“ grinst Ally und schwingt eine regenschwere Franse aus dem Gesicht: „Alles was du über die Schrecklichkeit des Wetters von Glasgow gehört hast, stimmt. Da bleibt dir ja gar nichts anderes übrig, als daheimzuhocken und Gitarre zu spielen.“ Allys pergamentener Teint ist ein überzeugender Beweis für die Wahrheit seiner Worte. Gänzlich dem Wetter die Schuld dafür zu geben, daß Ally damals lieber die Saiten zupfte, als die letzten Tage der Schulzeit in der Bank abzudrücken, wäre aber falsch.

Schuld hat auch ein gewisser Alvin Lee. „Ich war zwölf, Bowie-Fan. Da zeigten sie .Woodstock‘ im TV. Ten Years After – I’m Going Home! Hat mich total umgehauen!“ Es folgten endlose Fingerübungen im Gleichtakt mit Zeppelin- und Hendrix-Scheiben. „Fünf Jahre lang ging s mir einzig und allein darum, der schnellste zu werden. Dann merkte ich: Das ist ja gar keine Musik mehr.“ Er kehrte seinem Langhaar-Rock den Rücken, machte sich auf die Suche nach „Feeling,“ bis ihn das Telephon in die R’n’R-Realität zurückholte. Man wollte ihn für eine Gitarrenaudition. Gastgeber: Sharleen und Johnny.

Sharleen war Frisier-Expertin, hatte die ganze Welt bereist, die Tricks des Hauses Irvine Rusk zu unterrichten. „Das war ein ausgezeichnetes Sprungbrett. Wenn du so vielen Kulturen begegnest und so vielen Menschen, lernst du schnell, wie du die Dinge auch aus anderen Blickwinkeln betrachten kannst. Das hat mir beim Songschreiben enorm geholfen.“

Gemeinsame Freunde brachten Sharleen’s Songs mil dem Profi-Ohr von John McElhone zusammen, der bei Altered Images und Hipsway erste Sporen verdient hatte. John hörte die Götterdämmerung, holte den trommelnder Stuart, der als Teil von Friends Agair und Love and Money ebenfalls schor zur Szene gehörte. Und dann kam Ally’s Audition. Man spielte ein paar Songs auf Demobänder ein, sandte selbige an verschiedene Firmen, unterschrieb den meistbietenden Vertrag und verbrachte dann zwei Jahre mit dem tieferen Entdecken früher Stones.

Sharleen: “ Wir alle liebten die frühen Stones. Wir wollten mehr darüber wissen und kamen so auf Künstler wie Howling Wolf, Muddy Waters und Elmore James. „

Geschlagene zwei Jahre verstrichen, bis Texas „zufrieden genug“

mit ihren Aufnahmen waren. Sie meinen, die Plattenfirma hätte deswegen so lang zugeschaut und Sessions finanziert, weil sie „an die Band glaubte. “ Tatsache ist: Wer da in der Finanzabteilung den Kopf hinhielt, hatte ihn schon nach der ersten Single aus der Schlinge: „I Don’t Want A Lover“ hat die britischen Top 10 geknackt, selbst wenn außerhalb der Plattenfirma bis dahin noch niemand wußte, wo Texas wirklich zu finden war. Doch warum heißt das Album SOUTHSIDE, wenn weder Musik noch Texte, die des öfteren von scheidenden Liebschaften handeln mit offensichtlichem Schottenrock daherkommen?

Sharleen: „All meine Texte gründen auf Erlebnisse von mir oder meinen Freunden. Und so reflektieren sie auch Southside.“ In der Tat behandeln Songs wie „Teil Me Why“ die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten. Und auf musikalischer Ebene, wie kommt da die Southside ins Spiel? Ally: „Emigranten haben die schottischen und irischen Folksongs nach Amerika hinübergetragen. Der Blues hat seine Wurzeln auch darin. So hat sich der Kreis geschlossen.“

„Ich bin überzeugt“, hat Ally noch gesagt, „daß wir deswegen eine ganze Menge neuer Bands haben in Glasgow, weil für die. welche keine Hoffnung sehen, Arbeit zu kriegen, seit dem Kollaps dieser Industrien, als Fluchtweg nur noch Fußball und Musik bleibt. Dennoch – als Stadt ist Glasgow immer noch sehr schön. “ Schade nur, daß es stimmt, was man uns über’s Wetter von Glasgow sagt.