Simple Minds: Simple Life mit den Simple Minds auf Tour


Der Name ist Programm: Wenn die Schotten den Tourbus besteigen, bleiben die vielbesungenen Rock'n'Roll-Exzesse vor der Tür. ME/Sounds Mitarbeiter Martin Scholz konnte miterleben, daß auch live das Life beruhigend simpel ist.

Der Blick aus dem Fenster weckt Wünsche nach einem heißen Fußbad. „It’s raining cats and dogs“, konstatiert Kerr mit kühler Miene. Bei dem Wetter schickt man keinen Hund vor die Tür, allenfalls Open air-Fans. Die sind hierzulande selbst im Sommer Sturm und Temperaturen von 12 Grad gewöhnt. „Ich war gerade auf dem Gelände. Die Bühne ist nach allen Seiten offen, da pfeift der Wind wie auf dem Bahnhof.“ Bassist Malcolm Foster sorgt mit seinem Frontbericht auch nicht gerade für Heiterkeit.

Nein, optimal sind die Bedingungen für den Tourstart im Sportpark Hannover-Garbsen wirklich nicht. Bis 15 Uhr ist es sogar fraglich, ob das Konzert überhaupt genehmigt wird: Die Versicherungsvertreter befürchten, der Wind könne die Bühne umblasen. Alle 20 Minuten wird der Wetterbericht abgefragt, um 16 Uhr hat sich der Sturm endlich etwas gelegt. „Wir haben gestern in Roskilde gespielt, da war’s noch schlimmer“, grinst Charlie Burchill.

Ein örtlicher Promoter hat erfahren, daß Paul Simon sein Hamburger Open air am gleichen Tag sturmbedingt absagen mußte. „Da haben wir ja geradezu Glück gehabt. Jetzt brauchen wir nur Kleister“, grinst Kerr.

Kleister?

„Damit uns die Perücken nicht wegfliegen“, lacht er. Paul Simons Toupet-Probleme läßt die Stimmung langsam steigen. Daß sich Kerr vor einer Woche eine kapitale Grippe eingefangen hat, ist ihm kaum anzumerken. Am Nachmittag haut er sich dann aber doch vorsichtshalber für zwei Stunden aufs Ohr – fit sein ist alles. Um 18 Uhr stehen sie alle abfahrbereit in der Hotel-Lobby – nur Kerr fehlt. 15 Minuten später wird Tour-Manager Stan Tippins, sonst die Ruhe selbst, langsam nervös. Zu Kerrs Zimmer kommt er auch nicht durch. „Er telefoniert“, seufzt Tippins. Zehn Minuten später ist auch er da. Ab in den Bus.

„Bus“ ist eher eine Untertreibung für das edle Gefährt; Luxusliner wäre treffender. Klimaanlage, Solarium, acht Betten, Küche, fünf Fernseher und sogar ein Acht-Spur-Studio machen das Leben „on the road“ erträglicher. Busfahrer Pete Best ist mit seinem „Baby“ auf der gesamten Europa-Tour dabei: Er kutschiert die Band vom Hotel zum Gig, vom Flughafen zum Hotel und, je nach Entfernung, auch mal zur nächsten Stadt. Mit dem gleichnamigen Schlagzeuger aus frühen Beatles-Tagen ist die füllige Frohnatur nicht verwandt. Nein, das habe man ihn schon oft gefragt.

„Vielleicht sollte ich bei Mel Gaynor Unterricht nehmen und die New Beatles ins Rennen schicken.“ Aber letztlich cruised er lieber durch Europa, da kennt er sich aus. „Gerade mit diesen Jungs ist es ein cooler Trip. Die sind so herrlich unkompliziert, nicht zu vergleichen mit einem Flohzirkus wie den New Kids On The Block“, grinst er und tritt auf die Bremse. Hätte er doch fast die Lücke verpaßt, um sein Schiff in den Stau zur Linken zu zwängen.

Routiniert manövriert er den Bus durch die Backstage-Absperrungen. Kerr steigt aus und hält die Nase in die Luft: heiter bis wolkig, ein schöner Sonnenuntergang und keine Spur mehr von Regen. „Na also, das sieht doch ganz passabel aus“ – spricht’s und steuert den abgesperrten Band-Bereich hinterm Catering-Zelt an. Kicker-Fan Charlie muß sich erst mal die Beine vertreten. Von einer Tour-Begleiterin leiht er sich einen Ball und bolzt ihn prompt in eine Dornenhecke. Luft raus, Ball kaputt. Es war sowieso Zeit zu gehen.

Um 20.30 stehen die Schotten mit ihrem neuen Keyboarder Mark Taylor auf der Bühne. 18.000 Hannoveraner bereiten ihnen trotz Wetter und Transvision Vamp im Vorprogramm einen stürmischen Empfang – 10 auf der nach oben offenen Richterskala. Fast ein wenig zu stürmisch: Bei „Love Song“, der zweiten Nummer, bricht die Absperrung vor der Bühne ein – und den zehn Ordnern der kalte Schweiß aus. „Die Massen vor der Bühne sind immer wieder faszinierend, aber in solchen Momenten auch beängstigend, besonders wenn du siehst, welche Reaktionen Jim auslösen kann“, erzählt Malcolm Foster nach dem Gig. In ihren aktuellen Set haben sie acht Songs der neuen LP gepackt, dazu noch ein paar verschollene Wave-Relikte aus „New Gold Dream“-Zeiten und natürlich alle ihre Gassenhauer. Eine kompakte Dröhnung, nur ist’s in Hannover etwas kurz. Eindreiviertel Stunden sind ein bißchen wenig für jemanden, der unlängst im ME/Sounds-Interview noch schwärmte, wie sehr er die dreieinhalb Stunden Live-Schweiß der letzten Tour genossen habe.

Später im Bus geht es dem Kurzarbeiter wie dem Publikum: Er ist nicht zufrieden. „Ich hab nicht richtig dringesteckt“, murrt Jim. „Wir haben mindestens zwei Songs zu wenig gespielt. Es war ja noch hell, als wir von der Bühne gingen. Morgen in Frankfurt wird’s besser.“ Im Hotel zieht man sich sang- und klanglos aufs Zimmer zurück. Um 10 Uhr morgens ist eine Busfahrt nach Frankfurt angesagt, das dämpft den Enthusiasmus fürs Nightlife. Die Hannoveraner Szene zeigt sich trotzdem von ihrer besten Seite: Den ersten Weckruf bekommt die Band bereits um 2 Uhr morgens – ein Orchester probt auf der Straße fürs nächste Schützenfest. Die Zugabe gibt’s dann um 8 Uhr.

„Mein Gott, was war das denn? Ist das ein neuer Brauch?“ fragt ein geräderter Kerr am nächsten Morgen.

„Jim“, räuspert sich Stan.

„Ja, was denn?“

„Mach erstmal deine Hose zu“

Die Hose zu, die Koffer gepackt – auf geht’s nach Frankfurt. Mel Gaynor und Mark Taylor sind schon vorher per Mercedes losgedüst. „Mel mag halt schnelle Autos“, grinst Jim, „und außerdem kannst du nicht ständig zusammenhocken. Wir halten es sehr spontan, wer mit im Bus oder wer im Auto fährt.“

Dafür haben wir heute auch mehr Platz: Neben Charlie, Jim und Malcolm sind noch Stan, Jims Bruder Paul, seit kurzem Manager der Band, ihre persönliche Assistentin Kay Melrose und die beiden Security-Leute Billy Finlayson und Kenny Rich dabei. „Bei den Simple Minds gibt’s eigentlich nie Probleme, das läuft alles wie geschmiert“, meint Finlayson. Wenn alles so easy ist, warum überhaupt Bodyguards?

„Du brauchst Security, sonst bekommst du Probleme mit der Versicherung“, erklärt Kerr. Das Problem läge auch weniger bei den Fans als bei ihm selbst, fügt er hinzu. „Mir platzt schnell der Kragen, wenn mich jemand blöd anmacht. Das kann im Nu in einen Krawall ausarten, wenn du nicht Leute hast, die dann die Gemüter abkühlen.“

Pete donnert inzwischen über die A7, und Jim packt die Reiselektüre aus: „The New Journalism“ von Tom Wolfe. Sollte er etwa auch journalistische Ambitionen haben? Prosa würde ihn schon reizen, gesteht er, „nicht immer nur die bildhafte Pseudo-Poesie in den Songtexten.“

Aber mit einer Grippe fehlt einem die Ausdauer für anspruchsvollere Lektüre:

Für den Rest der Reise macht er ein Nickerchen.

Charlie ergründet derweil das Mysterium der Kaffeemaschine – topmodern, aber nur mit abgeschlossenem Hochschulstudium zu bedienen. Nachdem sie’s alle vergeblich versucht haben, muß Pete von der Fahrerkanzel aus Instruktionen geben, wie man den futuristischen Filter anbringt. Operation gelungen. Zufrieden nippt Charlie am schwarzen Gold. Er hat die letzte Nacht kein Auge zugekriegt, nicht nur wegen der Kapelle vorm Hotel. „Ich leg mich immer mit ’nem Walkman ins Bett, aber wenn ich mich zu sehr auf die Musik konzentriere, bin ich richtig aufgedreht. „Nach der Koffein-Dröhnung versinkt er nun allerdings in tiefen Schlaf – life on the road. Nach fünf Stunden Autobahn

tritt Pete um 15 Uhr endlich vorm Arabella Hotel in Frankfurt auf die Bremse, Vor der Tür eine Handvoll Autogrammjäger, die meisten von ihnen Anfang, Mitte 40. Fans von der Sorte, die von Peter Alexander bis eben den Simple Minds alles sammeln. „Strange“, befindet Herr Kerr, „so etwas passiert uns nur in Deutschland.“

Um 16 Uhr geht’s weiter zum Sound Check in die Festhalle. Jim macht nicht mit. Kreidebleich schleicht er durchs Catering und mixt sich sein Hausmittel: „Heißer Zitronensaft mit Honig. Ich habe mich vor einer Woche auf der US-Tour erkältet, immer dieser Wechsel von Klima-Anlage und der Hitze, das kann ich nicht ab.“

Warum halt er es nicht wie Rod Stewart, der legt sich wohl schon wegen weitaus geringerer Wehwehchen ins Bett und sagt einen Gig nach dem anderen ab. Jim schüttelt den Kopf: „Wir haben noch nie Shows gecancelt, nicht mal auf der letzten Tour, als ich mir den Arm gebrochen hatte. Es steckt einfach zuviel Arbeit drin.“

Drei Stunden vor dem Gig setzt er wieder auf Gesundheitsschlaf. Wendy James von Transvision Vamp bereitet sich anders vor: Die Göre vom Dienst hört Madonna – und zwar so laut, daß man im Gang sein eigenes Wort nicht versteht. Kurz vor acht ist Kerr wieder unter den Lebenden: rote Backen und verschmitztes Grinsen, der Zitronensaft hat geholfen.

„Heute abend geben wir’s ihnen“, knurrt er und ballt die Faust. In der Tat: In den nächsten zwei Stunden rollen sie die Halle von hinten auf. Die Festhalle ist mit 8000 Zuschauern zwar nicht ausverkauft, aber es funkt gewaltig zwischen Band und Publikum. „Als wir vor zwei Jahren hier spielten, war’s gut, aber diesmal haben wir sie geknackt“, seufzt Kerr zufrieden und läßt sich erschöpft in den Sessel des Busses fallen.

Im Hotel hält er es wie gestern: kein Highlife, sondern sofort aufs Zimmer. Der Rest der Truppe hockt sich noch an die Bar. Morgen fliegen sie nach Paris. Nur Mel nicht, der ist mit dem Benz bereits auf der Piste. Auf der Autobahn nachts um halb eins, da ist Bleifuß König. Auch Pete sitzt wieder hinterm Lenkrad. Er soll die Band am nächsten Morgen mit dem Bus am Charles-de-Gaulle-Flughafen abholen. Da muß er wohl oder übel die Nacht durchfahren. Am nächsten Morgen bringt sie ein Bus zum Rhein Main-Flughafen – und der ist, genauso wie die Autobahn, zu Urlaubszeiten proppevoll. In dem Touristen-Getümmel fallen ein paar Musiker gar nicht auf. Sie checken sich ein, stehen brav in der Schlange und dösen anschließend im Wartesaal. Auch an Bord keine Extrawürste: Die 1. Klasse gehört den Bankern, die Band fliegt Business-Class. „Wir hatten mal überlegt, einen Jet zu chartern“, erzählt Charlie, „aber was soll denn der Schnickschnack. Man sollte darum nicht so viel Aufhebens machen.“ Machen sie auch nicht. Ein Franzose um die 60 hat sie trotzdem erkannt. „C’esi im groupe du Rock, les Simple Minds“, erzählt er der staunenden Gattin.

Im Palais Omnisport de Bercy spielen sie erst am nächsten Tag. Am Nachmittag ist Shopping und Sightseeing angesagt; der „Job“ beginnt erst wieder am nächsten Nachmittag: antreten zum Soundcheck um 16 Uhr – wieder ohne Jim. Der ist immer noch nicht richtig auf dem Damm und kommt erst um halb Acht im Wagen nach. Heute hat ihm ein schwedischer Fan vom Hotel gegenüber ein Fax geschickt. „Er hatte, wie er sagt, eine Eingebung – heute würde er mit uns im Bus nach Bercy fahren“, schnieft Jim und lacht. „Ich sollte ihm nur vorher mein Okay geben und mit einem Handtuch auf meinem Balkon winken. Der Typ braucht offensichtlich eine Therapie.“

Die geräumige Karosse zwängt sich mühsam durch die verstopften Champs Elysees. Kein Problem, bis zum Gig bleibt genügend Zeit. Vorher müssen ohnehin noch Transvision Vamp auf die Bühne. Wer hatte überhaupt die Idee, die schrille Wendy ins Vorprogramm zu holen?

„Ich stehe nun mal auf markante Sängerinnen, das hat wohl Chrissie Hynde ausgelöst“, grinst Jim. „Keiner aus der Band mag Transvision Vamp sonderlich, außer mir. Aber wenn Wendy auf der Bühne steht, gaffen sie doch alle.“ Stimmt! Auch an diesem Abend riskieren sie alle einen Blick. Jim groovt amüsiert am Bühnenrand mit, als die Blondine mit dem BH wackelt und ihr „don’t kerr“, äh, „care“ ins Mikro rotzt. Die Simple Minds zeigen anschließend 17000 Franzosen, was in ihnen steckt, wenn sie erstmal die Warmlauf-Phase hinter sich gebracht haben. „Hier ist wieder alles einige Nummern größer. Unsere US-Tour war ganz anders, richtig erfrischend. Wir haben ja seit 1986 nicht mehr dort gespielt und mußten jetzt wieder in 2000er Hallen anfangen“, sinniert Kerr. Eine Woche später gönnt er sich den Club-Komfort auch in Deutschland: Das Open air in Zagreb muß wegen der Lage in Jugoslawien abgesagt werden. Statt dessen schiebt die Band einen Gig in den Hamburger „Docks“ ein, um dort das Video für die neue Single „Stand By Love“ live einzuspielen. Und wenn eine Video-Aufnahme so viel Spaß macht, begießt man das am besten mit Rotwein. Die Band fällt bei einem urigen Italiener auf dem Kiez ein und ordert Pasta und Vino en masse. Mels 11jährige Tochter Melissa ist auch dabei und darf mal an Papas Glas nippen, Jim kommt mit seiner zwischenzeitlichen Freundin, der Schauspielerin Patsy Kensit. „Der Gig heute abend war Klasse“, schwärmt er, mittlerweile von der lästigen Grippe genesen. “ Und der Laden hier ist eines der gemütlichsten Restaurants, die ich kenne.“ Es muß eben nicht Kaviar sein – schlichte; Gemüter kommen auch ohne Glanz und Glitter aus.