Soap & Skin


Wunderkind Anja Plaschg führt mit Streicherensemble durch einen beklemmenden, fantastischen Klartraum in der Berliner Volksbühne.

Es ist ein Moment wie aus einem Horrorfilm, der das Konzert eröffnet. Wie die erste Tür, die in „Paranormal Activity“ von unsichtbarer Hand zugedroschen wird. Wie das erste, von Todesangst verzerrte Leichengesicht, das in „The Ring“ entdeckt wird. Die Besucher des ausverkauften Konzerts suchen noch ihre Plätze, tauschen weißweinselig Erinnerungswürdiges aus den Feuilletons der Wochenendausgaben aus; es ist Sonntagabend, die Gedanken greifen bereits in die anstehenden Werktage. Bis jetzt. Schlagartig geht das Licht aus und ein Gewitter aus magenumdrehendem Bass und zerkratzten Beats geht auf das Publikum nieder. Der, der nicht in temporäre Schockstarre gerät, fiept kurz. „Deathmental“ heißt der Song, der auf der geräumigen Bühne mit hektischem Licht und viel Kunstnebel umgesetzt wird. Anja Plaschg schält sich aus dem Chaos. Ein 21-jähriges Mädchen aus dem südösterreichischen Poppendorf mit der Präsenz einer allwissenden Hexe. Dahinter ein dämonisches Streicherensemble. Apocalyptica? Ach, bitte …

Nach sechs infernalischen Minuten scheint Plaschg aus dem Albtraum zu erwachen. Mit dem beruhigenden Klavierwerk „Cradlesong“ versucht sie, sich zurück in den Schlaf zu spielen. Doch schon das nächste Stück, „Big Hand Nails Down“ mit seinem brutalen Klavierstaccato, durchfährt sie, als habe sie die Finger in der Steckdose. Der Betrachter versinkt eingeschüchtert in seinem Theaterstuhl, einen endlosen Abgrund hinab. Doch die Rollen haben sich verändert, die Distanz zum betrachteten Objekt ist nicht mehr spürbar. Längst ist man Plaschg ausgeliefert, gefangen in dieser Welt, die nur sie steuern kann. Klartraum oder luziden Traum nennt man das, wenn man einen Traum dem eigenen Willen unterwerfen kann – eine Fähigkeit, die man eigentlich erlernt, um bösen Träumen ihren Schrecken zu nehmen. Plaschg nutzt ihr Talent andersherum, suhlt sich geradezu in diesem Szenario, wie die Schweine im Dreck des Mastbetriebs ihres 2009 verstorbenen Vaters. Ihm widmet Plaschg den einzigen deutschsprachigen Song des Abends, „Vater“. Mit Zeilen wie „Ich wart‘ auf dich, wann kommst du wieder heim? Ich wollt‘ noch nie lieber eine Made sein“, packt sie das Publikum am Herzen, verankert es noch tiefer in ihrem eigenen Seelenleben, ihrer Trauer, ihrer Sehnsucht.

Selbst das Bescheidwisserlachen, das ihr düsteres Cover von Desireless‘ 80er-Schlager „Voyage Voyage“ zunächst bewirkt, bleibt im Halse stecken. Welch berückende Schönheit, welch Anmut. Was für eine Macht von dieser Person ausgeht. Nur einmal, als Plaschg zur Ballade „Fall Foliage“ ansetzt, versagt ihr kurz die Stimme. Als Rache krächzt sie scherzhaft ins Mikrofon. Erleichterung. Man krallt sich an allem fest, was dieses Wesen als Menschen auszeichnet. Wie gut, dass man keinen Heimweg durch einen dunklen Wald hat. Stephan Rehm