Special Story: Who


"Pete Townshend schwang seinen Arm in einem großen, langsamen Kreis wie eine Windmühle, und er benutzte seine Gitarre wie ein Maschinengewehr, zielte langsam über die Gesichterreihen im Publikum, mähte sie alle nieder, einen nach dem anderen, und die Leute an den Gängen kauerten sich zusammen. Sie wollten noch nicht sterben."

Kit Lambert hatte an jenem Tag im Jahre 1964 nichts Besseres zu tun, als mit seinem Auto ziellos in West-London herumzufahren. Als er am „Railway Tavern“ in Harrow and Wealdstone vorbeikam, beschloß er nachzusehen, warum junge Leute sich in hellen Scharen vor dem Eingang drängten. Die abendliche Attraktion hieß „The High Numbers“ und war kaum zu überhören. Am folgenden Abend machten sich ein begeisterter Kit Lambert und ein skeptischer Freund auf den Weg zur „Watford Trade Hall“. Auf der Bühne hatten dieselben „High Numbers“ schon zu lärmen begonnen. Chris Stamp, Lamberts Begleiter, berichtete dem Who-Biografen George Tremlett später: „So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich werde diese erste Nacht nie vergessen, in der ich sie zusammen erlebt habe. Die Wirkung der Who auf ein Publikum ist geradezu hypnotisch, das habe ich sofort gespürt. Es war wie eine schwarze Messe. Schon damals hat Pete Townshend diesen ganzen elektronischen Feedback-Kram gemacht. Keith Moon ist wie ein Irrer über das Schlagzeug hergefallen. Das Publikum war wie in Trance, hat gestarrt oder getanzt. ,Das ist es‘, hat Kit gesagt, und wir wußten: Das war es. Wir haben ihnen angeboten, sie zu managen. Ihnen gefielen unsere Ideen, und die Sache war gelaufen.“

Zwölfeinhalb Jahre haben die Who überdauert, ohne Unterbrechungen im Karriereplan, ohne personelle Veränderungen, ohne musikalische Mutationen. Doch sind sie kein zu bestaunendes Kuriosum, kein Fossil vergangener Tage geworden. Ihre Gruppenidentität blieb genauso ungebrochen wie ihre Kreativität.

Auch wenn sie „erst“ 1965 den Durchbruch schafften, waren sie doch eine Band der ersten Stunde. Mit „My Generation“ lieferten sie den griffigsten Programmsong für die jugendliche Unrast der sechziger Jahre. Mit ihren sarkastisch-gewalttätigen Rockshows liefen sie den Stones, den bösen Buben vom Dienst, rasch den Rang ab. Und rissen Mick Jagger mit ihrem Generationsporträt „Tommy“ zu dem vielzitierten Ausspruch hin: „Sie haben uns allen was vorgemacht.“

Die Who machten den lautesten Lärm, die verrücktesten Shows, die besten Konzeptalben. Sie besorgten die Anerkennung des Rock im Lager bürgerlicher Kulturkritik, stießen ihm die Tore der Opernhäuser und Konzerthallen auf. Als sie die Gestade der siebziger Jahre erreichten, waren sie alles andere als Schiffbrüchige der Teenbeat-Ära. Um sie herum kapitulierte die alte Garde – die Who hingegen machten „Quadrophenia“, die Quintessenz der Rockmusik. Und sie halten seitdem weiter zusammen, weil unbeschadet aller persönlichen Differenzen eines unschwer einsehbar ist: Als Gruppe sind sie mehr als nur die Summe ihrer Einzelmitglieder. Sie sind die Who. Ein musikalischer Monolith, unverwechselbar und sicherlich einzigartig in der ganzen Rock-Szene.

Start in Shepherd’s Bush

Noch im Jahre 1964 waren die Who irgendeine von den über zwanzigtausend britischen Amateurbands, die im musikalischen Schlepptau der ersten erfolgreichen Beatgruppen den alljugendlichen Traum von sozialem Aufstieg und von persönlicher Selbstverwirklichung träumten. Obschon Kleinbürgerkinder ohne den sozialen Background der arbeitslosen Underdogs von Mersey River oder Themse, begannen die Who doch als Working-Class-Band, auch wenn sie ihrer verschwitzten Zuhörerschaft in den stickigen Pubs und Clubs schäbiger Londoner Vororte eine halbwegs anständige Ausbildung voraushatten.

Drei von ihnen besuchten zwischen 1956 und 1960 zusammen die Acton County Grammar School in London. Und John Alec Entwistle, geboren am 9. Oktober 1944 in Chiswick, und Peter Dennis Blandford Townshend, geboren am 19. Mai 1945 im selben Stadtteil, machten schon mit 13 Jahren gemeinsam Musik. Dixieland natürlich, die ewig populäre Jazzspielart, die zusammen mit Skiffle, Blues und Rock’n’Roll den Boden bereiten half für die britische Beat-Eruption nach 1960. Pete spielte damals noch Banjo, John Trompete. 1958 sattelten sie auf Gitarre bzw. Bass um und“gründeten mit Klassenkameraden eine eigene Band. Das hatte Mitschüler Roger Harold Daltrey, geboren am 1. März 1945 in Hammersmith, auch schon getan. Er sang und spielte Gitarre. Nacheinander holte er Entwistle und Townshend hi seine Gruppe herüber. Auch Doug Sanden, Moon-Vorgänger und langjähriger Trommler der Band, stieß noch zu Schulzeiten hinzu. Sie schlugen sich durch unbedeutende Vorstadt-Clubs, nannten sich schließlich „The Detours“ und errichteten ihr Hauptquartier im „Goldhawk Club“ in Shepherd’s Bush.

Daß die gelegentlichen Abendgagen (für gewöhnlich zwanzig Mark pro Kopf) zum Überleben kaum reichen konnten, war von vornherein klar. So hatte Daltrey eine Lehre als Metallarbeiter begonnen – er war ohne Abschluß von der Schule geflogen, weil er sich das Rauchen nicht abgewöhnen konnte. Entwistle trieb tagsüber Steuern ein, und Townshend konnte seine Design-Studien am Ealing Art College nur durch Handlanger-Arbeiten finanzieren.

Solch sichere Nebenerwerbsquellen und Townshends ansteckender Ehrgeiz ließen die Gruppe, wenn auch mit Unterbrechungen, bis ins Jahr 1964 hinein alle Tiefs überdauern. Sie hatte sich gerade zum erstenmal in „The Who“ umbenannt, als im Oktober Keith Moon (geboren am 23. August 1947) dazustieß. Der 17jährige Gelegenheitsarbeiter aus Wembley, zuvor Surf-Drummer bei den „Bechcombers“, stieg auf angemessene Weise ein: Er verunglimpfte Sanden als Stümper, trommelte zur Probe und wurde engagiert. Angeblich deshalb, weil er in volltrunkenem Zustand das Schlagzeug in Trümmer legte.

Gleich wie – auch Moon trug zu jener musikalischen Umbruchstimmung bei, die Townshend am stärksten vorantrieb. Er nämlich hatte sich am aggressiven Gitarrenstil Steve Croppers („Booker T. & The MG’s“) längst Rhythm & Blues-reif gehört. Und so beschlossen die vier, ohne Beatles- und Shadows-Adaptionen künftig unter dem neuen Etikett „The High Numbers“ dem Erfolg hinterherzuspielen.

PR-Getöse

Ohne materiellen Background war auch in den goldenen Tagen des Beat-Boom keine Karriere zu machen: Die Musiker sind Legion, denen auf dem langen Marsch vom Übungskeller auf den Plattenteller der finanzielle Atem wegblieb. Die „High Numbers“ allerdings schienen es geschafft zu haben, als ihnen der ex-Journalist Peter Meaden einen ersten Schallplattenvertrag bei Fontana besorgte. Er bezog seine Mangement-Schecks von einem der vielen Möchtegern-Epsteins, der eine kleine Türklinkenfabrik in Shepherd’s Bush besaß. Meaden ließ es sich jedoch nicht nehmen, die ersten beiden Single-Titel selbst zu schreiben („I’m The Face“/ „Zoot Suite“). Kaum verwunderlich, daß die Verkaufszahlen im dreistelligen Bereich steckenblieben.

Reif für die Charts

Die skurrile Management-Konstellation überlebte den Mißerfolg nicht. Der erste Platten-Flop der Gruppe sollte indes auch ihr vorerst letzter sein, denn Ende 1964 nahmen Kit Lambert und Chris Stamp das Quartett unter Vertrag. Sie machten es binnen weniger Monate reif für die Charts.

Weder der hemdsärmelige Lambert noch Oxford-Absolvent Stamp hatten ursprünglich Plattenpläne. Sie waren Film-Leute, scharf darauf, einen eigenen, einen Pop-Streifen zu drehen. Die Sache hatte allerdings folgenden Haken: für einen publikumsträchtigen Film brauchte man eine Top-Gruppe, und die konnten die beiden nicht vorfinanzieren. Also beschlossen sie, das Pferd vom Schwänze her aufzuzäumen, sprich: selbst eine billige Band teuer zu machen.

Lambert hatte bereits zahllose Clubs abgeklappert, als er im November ’64 auf die eingangs beschriebene Weise über die „High Numbers“ stolperte. Binnen weniger Tage wurde man handelseinig. Lambert/Stamp garantierten jedem Bandmitglied mindestens zehntausend Mark Jahreseinkommen gegen 40 Prozent Einnahmebeteiligung. Und sie benannten die Gruppe sofort in „The Who“ zurück.

Für die beiden Jungmanager war der Vertrag der Auftakt einer knallharten Pokerpartie, bei der sie um alles oder nichts spielten. Ihre Filmersparnisse in Höhe von 40.000 Mark verschwanden wie in einem Faß ohne Boden, und ihre Partner versprühten, so Lambert „soviel Gewalt und Zorn und Aggression, daß es einem fast unheimlich wird, wenn man so etwas managen soll.“

So schufteten die beiden denn, als gälte es ihr Leben. Klinkenputzen bei Plattenbossen und Discjockeys, Presseleuten und Clubbesitzern. Letztere winkten oft genug ab, weil sie um ihr Inventar bangten. Dem Journalisten Tony Palmer erzählte Lambert später, wie der erste entscheidende Auftritt im Marquee-Club, der legendären Star-Schmiede, am 23.11.1964 vorbereitet wurde: „Wir mußten für die Who also schließlich selber die Werbetrommel rühren. Wir brachten sie sonst einfach nirgends unter. Als erstes überschwemmten wir London mit Eintrittskarten zum halben Preis für ein Konzert im Marquee-Club. Sie wissen, die ganz großen mit Bildern von der Gruppe drauf. Auf dicker Pappe, nicht wie diese billigen Wische. Dann holten wir ihre Fans aus frühen Tagen zusammen und trieben sie regelrecht hinein; ich paßte auf, daß die auch ja da waren. Habe ihnen sogar die Busfahrt rüber nach dem West End bezahlt, damit wir die Stimmung ein bißchen anwärmen konnten. Schließlich deckten wir ganz London mit Plakaten zu; wir klebten sie an Banken, überall hin. Wir fuhren jede Nacht mit dem Lieferwagen herum.“

„The Who – Maximum R &B “ schrieen die Plakate, und kein Neugieriger wurde enttäuscht. Denn neben dem unüberhörbaren Werbegetrommel gründete sich der Who-Erfolg von Anfang an auf zwei weitere publikumswirksame Komponenten: explosive Musikalität und eine schier geniale Image-Montage.

„Die Who sind der brillanteste Ausdruck der bedeutendsten Jugendbewegung, die jemals über Großbritannien hereingebrochen ist: der Mods“, meinte der „Rolling Stone“ 1968. Die Bewegung (an Dimensionen dem späteren Hippietum mehr als ebenbürtig) hatte ihren Höhepunkt allerdings schon erreicht, als die Who zu ihrer Symbolfigur wurden. Zu Idolen jener ungezählten Jugendlichen aus der unteren Mittelklasse, die nach Feierabend den Ausbruch aus ihrem inhaltsleeren ,frustierenden Schul- und Arbeitsalltag versuchten und die Wertsetzungen der Elterngeneration auf skurrile Weise unterliefen: „Um Mod zu sein, mußte man kurze Haare haben, genug Geld, sich feinpinkelig zu kleiden, und tanzen können mußte man wie ein Irrer.

Man hatte Aufputschmittel in der Tasche, einen Armeeparka und einen Motorroller mit mindestens einem halben Dutzend Scheinwerfer. Und man hatte eine Gruppe, die man verehrte: „die Who“, erzählt Pete Townshend. Was die Mods verabscheuten, waren Motorräder, lange Haare, Lederjacken: Rocker. Mit denen prügelten sie sich an langen Wochenenden in Brighton, und die Who machten die Musik dazu.

Eingebauter Haß

Auf „Quadrophenia“ wird der deprimierende Alltag eines namenlosen Zuhörers der Who beschrieben – und wie die Gruppe durch seine Optik gewirkt haben muß: „Ja, die Mods mochten sie. Sie waren zwar keine hundertprozentigen, aber Mods mochten sie eben. Sie hatten einen Drummer, der mit seinen Armen wie ein Verrückter in der Luft gewedelt hat beim Spielen. Der Sänger war ein markiger Kerl mit hübschen Klamotten. Man hätte fast denken können, seine Haare wären aus Gold, aus richtigem Gold gewesen. Der Gitarrist war ein dürres Gestell mit einer riesigen Nase, das den Arm wie einen Windmühlenflügel herumwirbelte. Der hat ein paar gute Songs über Mods geschrieben, aber er hat kaum ausgesehen wie einer. Der Bassist war zum Lachen. Der hat nichts gemacht. Einfach gar nichts. Ab und zu hat er gegrinst, aber nur für ein halbe Sekunde und dann war er wieder wie weggeblasen… Sie waren schon in Ordnung.“

Die Who rockten mod-gemäß in Schlips und Kragen, in Rüschenhemdchen und Union-Jack-Anzügen. Und wurden binnen eines Jahres zu Pop-Art-Prototypen, deren Bühnenshow die Publicity trächtigste der Mittsechziger war. Ihre durch keinerlei politischen Anspruch belastete Live-Philosophie: „Popmusik ist im Grunde ein Zirkus. Seine Aufgabe besteht darin, die Menschen stehend freihändig zur Raserei zu bringen.“

Die Band indes raste nicht minder. Das Finale der frühen Who-Shows war gekommen, wenn rauchende Trümmerhaufen auf der Bühne ein Weiterspielen unmöglich machten. Pete Townshend („Wir sind eine Gruppe mit eingebautem Haß“) erzählt, wie alles anfing: „1964 waren wir auf dem Krach-Trip, wie die Yardbirds, mit lauter experimenteller Musik. Ich habe die Gitarre oft herumgeschwenkt, um das Feedback zu kontrollieren, und bei einem Spagatsprung ist sie mir eines Abends an die Dekke gestoßen. Dabei ist ^sie kaputt gegangen. Erst haben „die Leute mich ausgelacht, aber als ich die Gitarre dann ganz zerhackt habe, waren sie begeistert. Wir haben das dann immer wieder gemacht.“

Auch Keith Moon, einer der ersten Trommler übrigens, der zwei Baß-Drums benutzte, ließ sich nicht lumpen: Schon in seinen ersten zehn Who-Monaten zertrümmerte er drei komplette Schlagzeugbatterien. Die Zerstörungsorgien ließen die Gruppe bis 1969 am Rande des Ruins existieren, doch Manager Lambert forcierte derlei Eskapaden noch: „Es hat zwar tausende von Mark pro Woche nur an Ausrüstung gekostet, um die Who am Laufen zu halten. Aber es war eine Investition. Sie hat die Gruppe bekannt gemacht.“

My Generation

Bekannt wurden die Who aber nicht durch optische, sondern auch durch akustische Qualitäten. Gleich ihre erste Single, die im Januar 1965 auf dem Brunswick-Label (Decca) erschien, verkaufte sich gut hunderttausendmal. „I Cant’t Explain“ hieß sie, war reinrassiger, explosiver Rock und war hörbar vom Kinks-Produzenten Shel Talmy betreut worden. Um Werbegags nie verlegen, hatte die Gruppe gleichzeitig einen Film über sich drehen lassen und ihn für einen Spottpreis ans Fernsehen verhökert. Im Mai folgte die nicht minder durchschlagende Single „Anyway, Anyhow, Anywhere“ und im November schließlich wurden alle Charts im Sturm genommen von der Mod-Hymne „My Generation“.

Der Text von „My Generation“ war der in seiner Schlichtheit perfekteste Ausdruck jugendlicher Gefühlswelten, der bis dato in einem Rock-Song gelungen war:

People try to put us down

Just because we get around

Things they look awful cold

Hope I die before I get old.

„Ich möchte sterben, bevor ich alt werde“ – solch generationstypische Programmatik stammte aus der Feder von Pete Townshend, der kreativen Potenz im Gruppengefüge. Umweltbedingte Frustration war das Leitmotiv vieler seiner Songs. Hierin trafen sich die Who mit der anderen „Greatest Rock’n‘ Roll Band in the World“, den Stones. Doch wo ein wutschnaubender Jagger bisweilen noch mit dem Aufruhr kokettierte, blieb die Who-Anklage von vornherein apolitisch, ohne Aufforderungscharakter. Insonfern war Townshend wohl das konsequentere Kind der britischen Szene, von der ja zu keiner Zeit ein so sozialrevolutionärer Impuls wie von der amerikanischen Szene ausging. Vorderstes Who-Anliegen war die ungebrochene Widerspiegelung von Stimmungen und Gefühlen der hilflosen, unverstandenen „Kids“, denen es keine Botschaften, sondern lediglich ein Quentchen Freude mit auf den Weg zu geben galt. Denn: „The Kids Are Allright“ – auf diese Songformel brachten die Who das stets kumpelhafte Verhältnis zwischen sich und ihrem Publikum, enthalten auf dem ersten Longplayer der Gruppe, der im Dezember 1965 herauskam.

Ein finanziell verlustreicher Wechsel von der Decca hin zum neugegründeten Lambert/Stamp-Label „Track“ (das auch Größen wie Arthur Brown oder Jimi Hendrix an sich zu binden wußte) , legte den Rockvulkan „Who“ nach der Jahreswende 65/66 für ein paar Monate lahm. Aber die nächsten Paukenschläge für den damals entscheidenden Singlemarkt ließen nicht lange auf sich warten.

Mit „My Generation“ waren die Who, jetzt europäischer Top-Act, an einem Wendepunkt angelangt. Sie stutzten ihr außer Kontrolle geratenes Mod- und Pop-Image zurecht und gaben sich vor dem Hintergrund eines ausgegorenen Soundkonzepts auch textlich ambitionierter. Die Single-Stationen sind bekannt: der Verdruß-Song „Substitute“ (März 1966). „I’m A Boy“ (August, mit homosexuellem Einschlag), der Song über den Esel „Happy Jack“ (Dezember) sowie „Pictures Of Lily“ (April ’67, voll unterschwelliger Masturbations-Asssoziationen). Aber nicht nur mit solch gewagter Thematik waren die Who ihrer Zeit um einiges voraus. Weithin unverstanden blieb auch der konzeptionierte Witz der LP’s „A Quick One“ (Dezember ’66), der die Beatles zum Sgt.Pepper inspirierte, und „The Who Seil Out“ (November 1967).

1967. Das waren finstere Zeiten für unkomplizierte Geradeaus-Rocker vom Schlage der Who. Sie alle gerieten unter die Räder des Flower-Power-Zuges, der im Scott-McKenzie-Schlepptau durch sämtliche abendländischen Hitparaden gen San Francisco dampfte. Die Who versuchten, sich durch gelegentliche Singleauswürfe (,4 Can See For Miles“, 1967, „Magic Bus“, 1968) und den Sampler ,J)irect Hits“ im Gespräch zu halten. Musikalische Konzessionen machten sie weder an die von der Vergnügungsindustrie gesteuerten Blumenbewegung, noch ließen sie sich kurz darauf verleiten, in den Absatz garantierenden „Underground“ zu tauchen. Sie waren und blieben Pop — zu jeder Zeit. Lichtblick im lauen 67er Liebes-Sommer: der perfekte Who-Triumph auf der Rock-Parade in Monterey, an der sie zusammen mit den Mamas & Papas, den Byrds, Jefferson Airplane und anderen teilnahmen. Und zwei Jahre später fehlten sie übrigens auch nicht in Woodstock.

Pete Townshend allerdings scherte sich in jenen Tagen einen Teufel um die geschäftsschädigende Hippie-Seligkeit vor der Tür seines Privatstudios. Drinnen fädelte er längst den größten Coup ein, den eine Popgruppe nach Sgt. Pepper noch landen konnte: die Rock-Oper „Tommy“.

Das Millionending

„Tommy kam nach zweijährigen Vorarbeiten im Mai 1969 heraus. Und machte jedes Mitglied der Gruppe, deren Schulden bis dato angeblich auf eine Million Mark aufgelaufen waren, zum Millionär.

Autor Townshend, der nach eigener Aussage ursprünglich nur seinen Nasen-Komplex durch Rock-Ruhm zu kompensieren gedachte, sah sich durch sein Opus unversehens auf eine Stufe mit den Beatles gehoben. Dabei war er seit Jahr und Tag der Drahtzieher im Who-Hintergrund gewesen, als Texter und Komponist ein Arbeitstier, das allein die Gruppenzukunft in Händen hielt. Er war und ist, was man Rockmusikern selten nachsagt: ein Intellektueller, very british, redegewandt, oft zitiert und nach „Tommy“ schlicht „das Genie“ geheißen. Ein Genie, das wensentliche Inspirationen für seine Pop-Oper aus der Verehrung des indischen „Messias“ Meher Baba gewann (dem übrigens widmete er später sein einziges „echtes“ Soloalbum, das – ursprünglich für einen limitierten Empfängerkreis gedacht – als US-Bootleg auftauchte und Townshend zur überarbeiteten Veröffentlichung zwang: „Who Came First“, 1972).

Die zehnmillionenfach verkaufte und wohl allseits bekannte Mär vom blinden und taubstummen Jungen Tommy, der als Flipperkönig und Messias einer jugendlichen Subkultur zu kurzlebigem Ruhm gelangt, hievte die Who auf das sichere, aber zugleich zwielichtige Podest anerkannter Kulturträchtigkeit. Es folgten Triumphzüge durch Konzert- und Opernhäuser, Auftritte vor gekrönten und ungekrönten Häuptern (in Köln konnten sich die „Tommy“-Schöpfer von Bundespräsident Heinemann begrüßen lassen) und im Sog des Erfolgs die unausweichlichen Bearbeitungen für großes Orchester und Zelluloid. Ersteres 1972 unter Einsatz der Londoner Symphoniker und einer Million Mark, verantwortet vom Spektakel-süchtigen Pop-Produzenten Lou Reizner.Die Filmversion besorgte zwei Jahre später Ken Rüssel mit großem Starauftrieb (u.a. Elton John, Eric Clapton, Jack Nicholson, Tina Turner) und einem bisweilen sinnentleerten Schwall visueller Eindrücke.

Das „Tommy“-Thema („Pinball Wizzard“) wurde auf ewig zum Höhepunkt eines jeden Who-Auftritts. „Tommy“ hätte auch zu ihrem Fluch werden können, wäre dem Stück nicht weitab von Publikumsbegeisterung und Devisenregen gruppendynamisches Gewicht zugekommen. Es half, das von Anfang an in vier Ego-Interessen zerrissene Bandgefüge zu konsolidieren, um dessen Haltbarkeit schon zu „My Generation“-Tagen keiner einen Pfifferling gegeben hätte.

In vorderster Schußlinie lag meist Roger Daltrey, der einzige richtige Straßenjunge in der Who-Gesellschaft, der zwar ein bißchen Gitarre und Harfe spielen, aber keinen Ton komponieren konnte,Er,ehemals Bandboß, hatte jetzt nur noch zu singen, was der Gitarrist zu Papier brachte, hatte zuzugucken, wenn dieser und der Drummer Bruch machten, mußte sich von allen dreien zurechtweisen lassen, wenn seine Minderwertigkeitskomplexe in Aggressivität mündeten. „Tommy“ brachte für ihn die Erlösung vom Townshend-Trauma.Nicht der Schöpfer, sondern der Interpret wurde im Publikumsbewußtsein zur Hauptfigur. Daltrey war in solchem Maße „Tommy“, daß niemand anderes auf der Welt hätte seinen Part in der Russel-Verfilmung übernehmen können. Die „Lisztomania“-Hauptrolle und sein mit hervorragenden Kritiken bedachtes Debut-Album (1973) trugen dazu bei, daß Sorgenkind Daltrey mittlerweile als problemlosester Who gut.

Das läßt sich vom 29jährigen Keith Moon auch heute noch nicht so unbedingt behaupten.

Ihn hatte die musikalische Seite von Townshends Führungsanspruch zwar am wenigsten geschert. Er war mit sich selbst als Schlagzeuger und Komiker stets zufrieden, zumal er auf beiden Tätigkeitsfeldern weltweite Anerkennung verbuchen konnte.

Allerdings geriet die Wertschätzung seines Talents als Heavy-Musiker über seine kostspieligen Narreteien stets ins Hintertreffen. Niemand hat die aberwitzigen Eskapaden gezählt, die jedem anderen, weniger zahlungskräftigen Zeitgenossen umgehend zur Zwangsjacke verholfen hätten. Von der Luxuslimousine im Swimming-Pool über Sprengstoff- und Entfiihrungsaktionen bis hin zur Piranha-verseuchten Hotelbadewanne. Moon, genannt „the Loon“ ( der Irre), der sich oft genug mit dem ähnlich temperamentvollen Townshend in den Haaren lag, hatte dann aber bald den Dreh heraus. Heute regelt er seine Who-Angelegenheiten telefonisch – aus Kalifornien. Ohne den zurückgezogenen und eher konservativen Charakter des John Entwistle wären diese Who noch in den sechziger Jahren aus einandergeflogen. Seine vermittelnde Gelassenheit trug ihm den liebevoll-spöttischen Beinamen „der Ochse“ ein – unter diesem Titel erschien auch der zweite Who-Sampler, der ausschließlich Kompositionen des Bassisten enthielt, bizarr und versponnen. Die wenigsten Leute erkannten allerdings, daß John Entwistle einer der besten Rock-Bassisten ist. Dies publik zu machen, war allerdings und erfreulicherweise auch nie ein Anliegen des standfesten Briten. Ihre Gruppenkonflikte, in deren Spannungsfeld sie sich scheinbar erst zu popkulturellen Höchstleistungen aufschwingen konnten, thematisierten die Who auf „Quadrophenia“

(1973), dem unter alleiniger Federführung Townshends realisierten zweiten Großprojekt. Der Albumtitel war ein Wortspiel.

Quadrophenia

Der Autor sah den zentralen Charakter des Jimmy nicht so sehr als schizophren denn als „quadrophen“, also vierdimensional an. Als Verkörperung der Who selbst, die zum Teil irre (Moon), zum Teil romantisch sind (Entwistle), einen zähen Burschen haben (Daltrey) und einen Bettler, einen Heuchler (Townshend über Townsehend).

„Quadrophenia“ schilderte den generations-biographischen Leidensweg eines mittsechziger Mod, geriet zum bisweilen nostalgisch-wehmütigen Abgesang auf die eigene Jugend und die des Rock’n’Roll.Von Teilen der Kritik stürmischer noch gefeiert als „Tommy“, enthielt die vertrackte Studio-Collage allerdings kein bühnentaugliches Material. Femab jeder Hitparadenaktualität ließ sie die Who jedoch zum einsamen rockhistorischen Monument wachsen, das vorschnelle Untergangsprognosen wieder Lügen strafte.

Denn Anfang der siebziger Jahre hatte es vorübergehend so ausgesehen, als sei die Gruppe auf „Tommy“-Lorbeeren und üppigem Finanzpolster entschlafen. Der gemeinsame Plattenelan reichte damals nur für eine, allerdings schwergewichtige neue LP: „Who’s Next“ (1971), die u.a. den Standard “ Won’t Get Fooled Again“ enthielt. Ansonsten trösteten nur zwei Second-Hand-Pflaster ungeduldige Fans über die Kreativitätspause hinweg: „Live At Leeds“ (1970, das neben einem kochendheißen „Summertime Blues“ und einem dahindonnernden „Magic Bus“ als nette Dreingabe faksimilierte Gruppendokumente aus der Gründerzeit enthielt), sowie der 72er Sampler „Meaty Beaty Big And Bouncy“.

Nach „Quadrophenia“ betraten die Who mit den Alben „Odds & Sods“ (1974) und „Who By Numbers“ (1975) wieder konventionellere Plattengefilde. Die alten Kämpen schlugen sich dabei erneut so bravourös, daß ein Rock-Magazin sich die begeisterte Frage nicht verkneifen konnte: „Die Who sind eine der wenigen Bands, die heute noch den Pop so differenziert und gut spielen, wie er früher einmal gespielt wurde, Die Who spielen Pop. Wer noch??“

Toumeeaktivitäten zur Jahreswende 1975/76 widerlegten Gerüchte, daß Soloambitionen die Who-Gemeinschaft längst ausgetilgt hätten. Das Gegenteil schien der Fall: gerade vor dem Hintergrund gesicherter Einzelkarrieren betrachteten die Vier es stets als unsinnig, die fast familiären Gruppenbindungen zu lösen. Hausautor Townsehend nämlich wird es wohl nie lassen können, auf seinem Landsitz in Middlesex an großen Gruppenprojekten zu basteln – seine künstlerische Zukunft war schließlich stets die der Who. Inzwischen verfolgt immer-noch-Londoner Entwistle mit Beharrlichkeit und mehr bescheidenem Erfolg private Plattenpläne – bislang bekanntestes Resultat war die übergeschnappte Rock’n’Roll-Beerdigung mit seiner Gruppe „Rigor Mortis“. Daltrey genießt derweil in Sussex die Wohlstandssonnenseiten und riskiert gelegentlich einen Film oder eine Platte. Desgleichen Moon, der in Zappa- oder Essex-Streifen mitwirkte und auch schon mal in kalifornischen Studios gesichtet wurde.

Allerdings trösten solche Aktivitäten mehr die Akteure als die Fans über die Sendepause im Gemeinschaftsprogramm hinweg. Schließlich gibt es auf der ganzen Welt nur einen einzigen Rock-Vulkan,der offenbar nie erlischt: die Who. Und die soll ten bald wieder Dampf ablassen.