The Beatles


Warum wird eine Band, die sich vor fast 40 Jahren trennte, immer wieder neu entdeckt? Es liegt wohl daran, dass sich viele ihrer Songs weigern, alt zu werden. Und am Mythos der Rockband, mit der alles begann. Etwa die Geschichte der Rockbands.

Was für ein lustiges Spielchen: Man denkt sich einen x-beliebigen Tag zwischen 1960 und 1970, und „The Beatles Diary“ von Barry Miles sorgt umgehend für Aufklärung. Über den 21. Februar 1963 etwa, an dem die Beatles im „Majestic Ballroom“ in Birkenhead auftraten; über den 3. Oktober 1965, an dem Paul McCartney nebst Freundin die Londoner Kleinkunstbühne „The Talk Of The Town“ besuchte. Oder über den 3. Februar 1968, an dem in der Abbey Road die Arbeiten an „Lady Madonna“ begannen. Ein kurioses Werk, das bisweilen zweifelhaften Erkenntnisgewinn vermittelt, doch gewiss gibt es japanische Hardcore-Fans, die es auswendig gelernt haben und in Gameshows alle Fragen souverän meistern. In der Popwelt dürfte wohl nur das Leben und Werk von Elvis Presley ähnlich umfassend dokumentiert sein – aber der war ja auch der King. Allerdings hatte er sich zeitlebens so manchen Fauxpas erlaubt. Wer fade Filme drehte, sich bei Richard Nixon anbiederte und in Las Vegas vor Hausfrauen den feisten Glitzerstenz gab, musste eben irgendwann damit rechnen, als bizarr wahrgenommen zu werden. Elvis has left tbe building. Er mag noch heute als „cool“ oder „kultig“ gelten, allerdings in einem tendenziell trashigen Sinne. Ein Popmythos einerseits, aber auch eine Art Witzfigur, die man sich mit einem Saugnapf an die Windschutzscheibe pappt. Dieses Schicksal blieb den Beatles erspart, ihr Mythos ist ungebrochen. Nicht weil alles, was sie machten, unangreifbar gewesen wäre. Aber weil nichts, was sie machten, wirklich richtig schlecht war. Noch wichtiger: Sie waren meistens die Ersten, die es machten. Und sie entwickelten, begünstigt durch den Zeitgeist der 60er Jahre, eine Dynamik, die aus der Distanz mehrerer Jahrzehnte betrachtet beinahe unvorstellbar wirkt. Man muss nur das Artwork des „roten“ und „blauen“ Best-Of-Albums betrachten. Zwischen den beiden Fotos liegen nur sechs Jahre – und popkulturelle Welten. Ebenso wie zwischen „Love Me Do“ und „A Day In The Life“, zwischen „I Want To Hold Your Hand“ und „Helter Skelter“. All diese Veränderungen nicht passiv überlebt, sondern an vorderster Front gestaltet zu haben, ist wohl das Hauptverdienst der Beatles. Denn in

der Geschichte der Popmusik gelang es vielen Musikern, den herrschenden Zeitgeist in Musik zu übersetzen, aber nur ganz wenigen, mit ihrer Musik den Zeitgeist derart massiv zu prägen.

Die Beatles verehrten Elvis – denn er war der King. Aber sie liebten Buddy Holly, denn der schrieb seine Songs selbst. Was heute zumindest abseits der Chartsmusik wie eine Selbstverständlichkeit wirkt, war in der Musikwelt der frühen 60er Jahre ein Akt der Emanzipation: weg von den professionellen Songwritern und den Produzenten, die ihre Schützlinge fest im Griff hatten, hin zur kreativen Autarkie und Authentizität. Dass die ewige Boy-meets-girl-Thematik, popmusikalischer Standard seit der Blütezeit der Operette, Mitte der 60er Jahre endlich aufgebrochen wurde, ist nicht nur das Verdienst der Beatles. Aber den Beatles hörte man überall auf der Welt zu. Und man sah sie an, beschäftigte sich mit ihnen. Boygroup-Designern müssen sie noch heute die Tränen in die Augen treiben: vier junge Männer, vom Schicksal zusammengeführt, und für jeden war etwas dabei, egal ob Junge oder Mädchen. Der charmante Paul McCartney, der sarkastische John Lennon, der stille George Harrison und der kumpelhafte Ringo Starr. Keine Casting-Agentur, keine Zielgruppenanalyse, kein Marketingplan. Einfach so. Dass die vier Charaktere natürlich auch ganz andere Seiten hatten, spielte erst einmal keine große Rolle. Dass sie als Einheit auftraten, als Band, eine umso größere. Das waren eben nicht Cliff Richard & The Shadows oder Elvis und seine namenlose Begleitband, sondern der Prototyp einer Rockband. Zwei Gitarren, Bass, Schlagzeug. Selbstkomponierte Songs. Der Mythos von ein paar Typen, die Verstärker schleppen, sich einen vollgequalmten Kleinbus teilen, die nach dem Gig Freundschaft mit der lokalen Weiblichkeit schließen, sich in pissigen Raststätten mit Fastfood vollstopfen und darauf hoffen, dass das Ganze eine Zukunft haben könnte, dieser Mythos beginnt hier. Und er hat seitdem Hunderttausende dazu gebracht, es auch einmal zu versuchen.

Bis 1965, bis zum Album HELP!, hatten es die Beatles der Welt verdammt leicht gemacht, sie zu lieben. Flockige, unverschämt eingängige Popsongs, eher harmlose Texte, wenige Experimente. Irgendwann bürgerte sich ein, diesen Zeitraum als die „naive Phase“ zu bezeichnen, doch naiv waren die Beatles ganz gewiss nicht. Noch waren sie den überlieferten Poptraditionen verhaftet, gewiss unterlagen sie auch dem Druck, dem zahlenden Publikum das zu geben, was es nach landläufiger Meinung verlangte, und misstrauische Unterhaltungschefs in den Rundfunkanstalten nicht über Gebühr zu verstören. John Lennon äußerte sich im Nachhinein negativ über diese Ära: Man habe die Songs quasi zwischen zwölf und Mittag geschrieben und betextet, in der sicheren Annahme, dass es Erfolge werden würden, denn man war ja die Beatles. Wenn es so war, dann kann man nur den Hut ziehen, denn den meisten Songs merkt man die hastige, angeblich unreflektierte Massenproduktion bis heute nicht an. Zweifelsfrei erwiesen ist, dass die Beatles 1965 Macht hatten. Offensichtlich ist aber auch, dass sie diese Macht zum Guten nutzten. Sie hätten weitermachen können wie bis dahin, hätten im Kino und mit Tourneen abkassieren, dem Publikum Variationen ihrer größten Hits andrehen können. Es hätte gewiss noch ein Weilchen funktioniert. Und dann: Klappe zu, Geld zählen. Dass sie das nicht taten, zeugt von menschlicher Integrität. Und dem Ehrgeiz, sich als Künstler weiter zu entwickeln, die entstehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, Grenzen zu verschieben, sich selbst zu offenbaren.

Come as you are: Die dunklen Anzüge, die weißen Hemden, die schmalen Krawatten wurden ausgemustert. Mit Jeans und Rollkragenpulli im Fernsehen auftreten, Koteletten und Haare wachsen lassen, Sonnenbrille aufsetzen, die Gepflogenheiten des in förmlichen Dingen erstaunlich konservativen Showbiz elegant ignorieren. Der nächste Akt der Emanzipation. Und der übernächste: weg vom engen Korsett der „klassischen“ Rockbandinstrumentierung. George Harrison spielte Ende 1965 bei „Norwegian Wood“ eine indische Sitar, Anfang 1966 antworteten die Rolling Stones mit „Paint It Black“, danach hörte man sie immer häufiger, und der US-Hersteller Danelectro fertigte gar eine elektrische Variante des Instruments, die den Hippiekombos in San Francisco die fernöstlichen Vibes nahebrachte. Im Juni 1966 ließen die Beatles bei „Rain“ eine Gesangsspur rückwärts laufen, im November antworteten The Who mit „Disguises“, und 1967 war „reverse tracking“ der Studiotrick der Saison. Bei „Tomorrow Never Knows“ ließen die Beatles im August 1966 Bandschleifen nach dem Zufallsprinzip ablaufen, und im Februar 1967 setzten sie bei „Strawberry Fields Forever“ einen neuartigen Sampler namens Mclotron ein (diesmal waren sie nicht die Ersten, diese Ehre gebührt einem Organisten namens Graham Bond). Die Stones antworteten im August („We Love You“), danach wollte jeder einen haben. In dieser Zeit waren die Beatles nicht nur Pop, sondern gleichzeitig auch Avantgarde. Eine bis heute ungewöhnliche Kombination.

Ihr Gesamtwerk als absolut zeitlos einzustufen, ist beliebt und schnell dahingesagt, der ganzen Wahrheit entspricht es eher nicht. Bei allem Respekt: Der charmante frühe Merseybeat klingt heute selbstverständlich ein wenig angejahrt, alles andere wäre nach über 45 Jahren auch ein Wunder. Die Qualität der Songs mindert das nicht. Und dass sich die frühen Texte gemeinhin auf Schlagerniveau bewegten, ist ohnehin zu verschmerzen. Ins andere Extrem verfielen die Beatles nach 1967: Ihre hoch ambitionierten Werke waren nicht immer frei von gewissen Verkrampfungen, und die gegen Ende hin selbst auferlegte Rückkehr zur „naiven Phase“ konnte zwangsläufig nicht mehr sein als Mimikry, auch wenn die Ergebnisse mitunter sehr erfreulich ausfielen. Die Wahrheit ist: Es gibt viele unterschiedliche Beatles, denn fast jedes Jahr kamen sie mit einer neuen Überraschung um die Ecke. Ein und derselben Band „Yesterday“ und „Revolution 9“ zuzuordnen, erfordert auch beim Zuhörer Flexibilität. An der es freilich nie mangelte: Die Rezeption des Beatles-Katalogs unterlag steten Schwankungen. In den 70er-Jahren, als Rockmusik progressiv und anspruchsvoll zu sein hatte, galt THE BEATLES, das „Weiße Album“, als Nonplusultra; nachdem 1987 der 20. Geburtstag von SGT. PEPPER’S LONELY HEARTS CLUB BAND begangen worden war, wurde ein neuer Liebling gekürt. In den 90er Jahren raunten immer mehr Kritiker, dass eigentlich ABBEY ROAD) der absolute Wahnsinn sei, doch der Britpop gegen Mitte des Jahrzehnts gab der Sache eine neue Wendung. RUBBER SOUL und REVOLVER sind bis heute die Must-Have-Items, damals passten sie neben Oasis die ihre ganze Karriere auf der Dekonstruktion und Variation eines einzigen Beatles-Songs („Rain“) aufgebaut hatten – und neben Blur ins Regal, heute neben Franz Ferdinand und die Arctic Monkeys. Objektiv betrachcet, ist sowohl RUBBER SOUL als auch REVOLVER tatsächlich von besonderer Qualität: Darauf zu hören sind nämlich bessere Texte und coolere Sounds als auf den Alben der Frühphase, aber auch deutlich weniger Hippie-Experimente und Orchesterklänge als beim mitunter opulenten, aber nicht immer stringenten Spätwerk. Es ist in der Tat beinahe unheimlich, wie gut RUBBER SOUL und REVOLVER dem Zahn der Zeit widerstanden haben. Schließt man das deutlich verspieltere SGT. PEPPER wohlwollend mit ein, dann waren 1965 bis 1967 die Goldenen Jahre der Beatles: der kreative Höhepunkt einer noch funktionierenden Band. Danach begann der innere Zerfall und alles wurde furchtbar kompliziert. Dem Mythos Beatles haben RUBBER SOUL und REVOLVER jedenfalls eine weitere Facette hinzugefügt. Denn irgendwie scheint es so, als hätten sie nicht nur den Gitarrenpop an sich (das Frühwerk), den Psychedelic-Rock (SGT. PEPPER), die Power-Ballade („While My Guitar Gently Weeps“) und zwei-, dreitausend Dinge mehr erfunden, sondern eben auch den Britpop. Nicht nur die Musik, auch die dazu gehörige Ästhetik. Nur was den Reggae angeht, sind sie offenbar unschuldig. Wer jetzt „Ob-La-Di, Ob-La-Da“ sagt, muss sich den Song zur Strafe 45mal hintereinander anhören.

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