The Jeremy Days: auf zu neuen Ufern


Lange Zeit galten die fünf smarten jungen Männer aus Hamburg als pflegeleichte Pop-Yuppies für feuchte Teenie-Träume. Mit ihrem ambitionierten zweiten Album stehen die Jeremy Days an der Schwelle zum internationalen Erfolg. ME/Sounds-Mitarbeiter Christoph Becker überzeugte sich in London von den wahren Qualitäten der Band.

Der metallic-blaue Datsun Cherry müht sich hustend und stotternd durch die verlassenen Straßen von London. Fünf Insassen sind zu viel des Guten für die müde Maschine. Wir hängen in den verschlissenen Polstern und schweigen – ehrfurchtsvoll und konzentriert: drei Jeremy Days, der Fotograf und ich. Aus den Boxen des Car-Stereos flirren seltsame Klänge und erfüllen das Wageninnere: irgendwas Halbklassisches zwischen Dvorak, Astor Piazzolla und Paolo Conte; südamerikanisch, ernst und emotional bis auf die Knochen.

Wir schweigen und rollen in Richtung Nordosten. Die Harmonien werden immer getragener. das Bandoneon singt noch dramatischer. Londons Straßen sind um halb drei Uhr morgens leergefegt; die Fahrt vom Studio nach Hause ist deshalb kurz und reicht nicht bis zum Ende des Stücks. Trotzdem wirkt der Zauber. Niemand verläßt sofort den Wagen. Wir warten bis zum letzten Akkord. Stille.

Im Haus fragen Dirk Darmstaedter und Louis Oberlander, ob ich noch Lust hätte, die übrigen Demos ihres neuen Albums im Auto anzuhören – die anderen wollen für den nächsten Studiotag fit sein und sich in Ruhe ausschlafen. Warum nicht? Also sitzen wir wieder im kleinen verrosteten Japaner, hören mit voller Lautstärke ziemlich verrauschte Vierspur-Demos.

Allmählich beginne ich die Jeremy Days zu verstehen; das Besondere, das Geheimnis dieser Band erschließt sich während der Abhör-Session im Datsun. Die Songs bauen sich in ihrer Rohfassung auf und zeigen dabei ihre wahren Qualitäten. Und in den Gesichtern von Dirk Darmstaedter, dem Sänger, und Louis Oberlander, dem Keyboarder. spiegelt sich beim Hören jene gewisse, leicht wahnwitzige Obsession, die jeden packt, der die Musik zu seinem Lebensinhalt macht – die Begeisterung, die Faszination. Living for music.

Diese Intensität mag erstaunen. Galten die fünf Hamburger doch lange Zeit als Paradebeispiel bundesdeutscher Hype-Maschinerie: Gleich von der ersten Platte an unter Major-Fittichen, smart und gutaussehend, ein bißchen zornig und gehüllt in bestens couturierten Edelzwirn im dunkelblauen Einheitslook. Fünf Freunde auf dem Weg nach oben; die Pophoffnung schlechthin. Das war für viele too much. The Jeremy Days galten deshalb bald als Pop-Yuppies par excellence. Als dann auch noch mit „Brand New Toy“ eines der seichteren Stücke des Debütalbums in die Charts ging, fühlten sich die Läslerzungen bestätigt: Wieder mal hatte sich, so meinten sie, eine Hoffnung zerschlagen. Eine Band sackte ab in die Regionen feuchter Teenie-Träume und klebriger Pickelpresse.

„Zum Glück haben wir uns schon mit unserer ersten Plane in Richtung London orientiert“, meint Dirk nach der Hör-Session im Datsun. „So konnten uns die bisweilen ziemlich üblen und ungerechten Attacken nicht aus dem Gleichgewicht werfen. Denn hierin London relativiert sich das. Hier ist die Hauptstadt der Popmusik. Das ganze Business wird so ernstgenommen, daß dir deine eigenen Probleme und Ärgereien ziemlich klein erscheinen. Wir können zwar nicht so tun, als kämen wir uns England, und das wollen wir auch nicht; doch wir haben hier eine Menge gelernt. Und so haben wirtins auch selbst verändert und eine Entwicklung durchgemacht, die es in Deutschland nicht gegeben hätte.

Wir wollen keine Durchschnittsmusik machen“, fabuliert Dirk Darmstaedter weiter. „Wir haben keinen aalglatten Sound, der ruckzuck wieder vergessen ist. Das Leben besteht aus vielen kleinen Dingen, aus Entscheidungen und Richtungsändenmgen. Das soll sich in unserer Musik widerspiegeln – diese gewisse Verwirrung, die durchaus kreativ sein kann. Wer bei unseren neuen Songs genau hinhört, wird feststellen, daß da eine Menge passiert. Wir spielen mit Sounds und Effekten, wir haben versucht, verschiedene musikalische Stilrichiungen unter einen Hut zu bekommen und auch mal eine etwas schrägere Variante so stehen zulassen.“

Im Kontrollraum des Westside-Studios im Südwesten Londons, wo die Jeremy Days auch schon ihr erstes Album aufgenommen haben, wird schnell deutlich, was die Band unter der „schrägeren Variante“ versteht: Während an den letzten Bakking Vocals zur ersten Single „History“ – inklusive HipHop-Beats und Beach Boys-Gesangssätzen eine der vielen Überraschungen – gearbeitet wird, kommt urplötzlich die Idee auf. einen Vocoder-Effekt in den Song einzuarbeiten. Es ist 21 Uhr 48 und der Arbeitstag für Toningenieur Simon Metcalfe eigentlich schon seit drei Stunden zu Ende – doch für Müdigkeit bleibt keine Zeit.

„Mit diesen Jungs zu arbeiten macht einfach eine Menge Spaß“, kommentiert Produzent Clive Langer. „Sie sind äußerst talentiert, schreiben gute Songs und gehen mit der richtigen, konzentrierten Einstellung an die Sache heran.“ Der Mann, von dem dieses Kompliment stammt, hat mit seinem Partner Alan Winstanley schon das erste Album der Jeremy Days produziert. Und das Duo Winstanley/Langer steht in England für Qualität: Bevor das deutsche Quintett zu den Aufnahmen für CIRCUSHEAD anrückte, hatten die beiden gerade die Session für Morrisseys neue Platte beendet und die Hothouse Flowers verabschiedet.

Die 14 Songs des neuen Albums oszillieren zwischen sanfter Melancholie in Stücken wie „1987“ oder „Sylvia Suddenly“ und einer Beatles-Hommage wie in „Room To Revolution“, zwischen dem instrumentalen und dramatischen Titelstück „Circushead“ oder dem aus Talking Drums und einer verschleppten exotischen Melodie aufgebauten „Red River“, einem Gedicht von Dirk Darmstaedter, das er über den Geräusch-Background hinweg rezitiert.

Das ist mehr als Popmusik traditioneller Prägung, mehr als bloße Unterhaltung, mehr als schicke Zerstreuungshilfe für das gestreßte urbane Individuum. Dieses Konzept wirkt ebenso verstörend wie anregend, ebenso vielfältig wie intim. Die Band greift auf die Tradition zurück, sucht sich ihren Weg durch die Pop-Philosophie der 60er Jahre, spielt mit Psychedelic-Elementen – vor allem Gitarrist Jörn Heilbut tut sich hier mit verschärft abgedrehten Läufen, Riffs und Sounds hervor – und schreckt selbst vor Einarbeitung eines locker swingenden HipHop-Beats nicht zurück.

Da wundert es kaum, daß schon die internationalen Plattenfirmen aufhorchen und erste ernsthafte Veröffentlichungsabsichten anmelden. Konnte man das Debütalbum der Jeremy Days zumindest in britischen Plattenläden finden, so ist bei der Qualität von CIRCUSHEAD zu erwarten, daß sich den Hamburgern der internationale Markt auftun wird. Diese Aussicht ist zwar durchaus erwünscht, soll aber nicht erzwungen werden. „Wir lassen die Dinge so laufen wie bisher“, sagt Louis. „Wenn sich die Möglichkeit auftut, in Amerika zu tottren, sagen wir aber bestimmt nicht nein. Schließlich sind wir weder durch unseren Sound noch unsere Texte nur auf Deutschland beschrankt und können ebenso problemlos in Amerika spielen, wie wir in London unsere Platte aufnehmen.“

Die Frage nach dem musikalischen Knowhow der Jeremy Days beantwortete sich bei Konzerten schon immer überzeugend von selbst, rückte aber oft aufgrund der leidigen Diskussion um Styling. Image und ähnlicher Nebensächlichkeiten in den Hintergrund. Jetzt dürfte sie sich – sollte es tatsächlich dazu kommen – im internationalen Rampenlicht endgültig erledigen. Denn die Fünf sind allesamt exzellente Musiker. Stephan „Steve“ Rager beispielsweise war einer der begehrtesten Studio – Jazz – Drummer, bevor er zu den Jeremy Days stieß und seine hochbezahlte Karriere als Mietschlagzeuger an den Nagel hängte. Unverkrampft und effektiv stellt er sich in den Dienst der Band.

Und genau das ist eines der auffälligsten Charakteristika der Jeremy Days: Niemand drängt sich in den Vordergrund: das gemeinsame Projekt ist der Dreh- und Angelpunkt. Diese Einstellung wirkt in Zeiten namenloser Hip-House-Projekte und One-Hit-Wunder fast schon antik. Doch eben dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der geselligen Individualisten.

Jedem der Fünf fällt dabei eine spezifische – nicht nur musikalische, sondern auch soziale – Aufgabe in der Band zu. Jeder hat seine Macken – sei es Dirks Neigung zum melancholischen Einzelgängertum oder Christoph Kaisers Bemühungen, eine Mischung aus Squaredance und Breakdance-Schrittfolgen zu kreieren und nebenbei seine Clownsqualitäten unter Beweis zu stellen. Jeder genießt seine Narrenfreiheit.

Immer steht jedoch die gemeinsame Musik im Vordergrund. Auch wenn die Jeremy Days inzwischen etwas professioneller mit dem umgehen, was man gemeinhin Karriere nennt, haben sie sich trotzdem eine Menge ihres unvoreingenommenen Charmes bewahrt, der manchmal etwas unbeholfen wirken mag, der aber eine Platte wie CIRCUSHEAD überhaupt erst zuließ: Sie sind begeistert und begeisternd. „Das schönste Kompliment“, sagt Dirk, „das uns jemals jemand machte, stammt vom Verkäufer in einem Hamburger Musikladen. Er sagte, es gäbe auf unserer ersten Platte Momente, die er nicht mehr vergessen könnte.“

Für CIRCUSHEAD sollte der Mann schon mal gleich einige besonders große Speicherplätze in seiner Erinnerung reservieren.