The Podigy


Mit ihrer Mischung aus Breakbeat, HipHop und Gitarrensound landen die Wunderkinder des Dancefloor in ihrer Heimat England einen Hit nach dem anderem. ME/Sounds begleitete die Techno-Innovatoren auf einem chaotischen Trip durch Australien.

Sie sind die Verrückten des Brit-Techno: Härter geht’s nimmer, bunter nicht, schräger auch nicht – und erfolgreicher schon gar nicht. Das Rezept von Prodigy ist einfach und doch genial: Man nehme ein bißchen Reggae, ein bißchen Techno, ein bißchen HipHop, ein bißchen Punk und sehr viel Wahnwitz – und das ergibt – streng nach Adam Riese -‚Firestarter‘, die neue Single der Band. Und wo dieser Knaller herkam, da sind noch viele weitere Knalleram Zünden.

Golf. Das Spiel des Gentleman. Ein Spiel voll subtiler Technik und stilvoller Hingabe. Ein Statussymbol für Männer, die glauben, es geschafft zu haben. Ein Spiel schließlich, von dem Prodigy-Tänzer Keith Flint keine Ahnung hat. „Dies“, verkündet Keith und schwingt seinen Schläger propellerhaft über seinem Haupt, „ist der anspruchsvollste Mini-Golf-Platz in ganz Australien!“, spricht’s und zwinkert dem Platzwart zu, als würden sich die beiden seit Jahren kennen.

Aber aus dem Gesicht des Mannes blickt nur das blanke Erstaunen. Denn er ist sich ziemlich sicher, daß er noch nie zuvor einem Typen begegnet ist mit zwei Hörnern aus Haar (eines grell-gelb gefärbt, das andere elektrisch-orange) und einer so wirren Tätowierung am Bein.

Fünf Jahre sind verstrichen, seit Prodigy-Mastermind Liam Howlett zu seiner eigenen Überraschung entdeckte, daß er mit den innovativen Technoklängen seiner Band im Besitz eines Freifahrtscheins ist, der geradewegs in die Pop-Charts führt. Dabei konnte er Techno am Anfang gar nicht ausstehen.  Als Howlett 1988 die Schule verließ, war ihm die damals bereits florierende Rave-Szene ziemlich egal. Acht jähre lang hatte ihm sein Vater vorher Pianolektionen aufgezwungen, ehe sein Klavierlehrer endlich erkannte, daß Liam in der ganzen Zeit nicht gelernt hatte, Noten zu lesen – aus gutem Grund: sein Gehör war derart fein eingestellt, daß er sowieso gleich jeden Ton nachspielen konnte. Als Liam dann seine Liebe zum harten Hip-Hop entdeckte, nützte ihm die Vorbildung nichts: Seine Rap-Combo Cut To Kill konnte dem scharfen Namen keine Ehre machen.

Frustriert blies Liam in seinem tief provinziellen Heimatnest Braintree Trübsaal, da wurde er unversehens doch noch von der Zukunft erfaßt. Im ‚Barn-Club‘ in Braintree legte ein gewisser Mr C, der spätere Blödelmann bei The Shamen, die Platten auf. Das tat er so gut, daß Liam schließlich doch noch vom Groove gepackt wurde und innerhalb von sechs Monaten dem Wunder des Rave voll und ganz hörig wurde: Bald war er es höchstpersönlich, der im ‚Barn‘ die Platten auflegte. Und wenn der Club nachts die Pforten schloß, legte Liam bei den anschließenden Parties am nahen Strand weiter die Platten auf.

The Prodigy halten sich nun schon Mal zum dritten Mal in ihrer Karriere in Australien auf. Und die Band macht aus einer schwierigen, unterhaltungsfreien Zeit auf dem fünften Kontinent das beste. Schon den ganzen Nachmittag über haben die Musiker  den lokalen Medien die unterschiedlichen Bären aufgebunden. Zum Beispiel den, daß man neulich mit der Jazz-Diva Cleo Laine gearbeitet habe und dies  bald auch mit dem berühmten Mr. Acker Bilk & His Jazzmen tun wolle.

Und jetzt sitzen Liam, Maxim  und Leeroy in einer Lokalradiostation in Melbourne, wo sie von einem DJ, der eher aussieht wie ein katholischer Pfarrer, über ihr Leben und ihre Teilnahme an der großen ‚Big Day Out‘-Tournee in Australien ausgequetscht werden. Nur Keith ist nicht da – er ist seit ein paar Stunden verschollen.

Just in diesem Moment stürzt der schmerzlich vermisste Keith in d Studio. Dabei brüllt er dermaßen aus voller Lung, daß es den armen DJ zuerst ganz ratlos werden läßt. Aber auf wundersame Weise verschwinden mit dem Urschrei die Spinnweben aus seinem Gebälk. „Es gibt in der Musik keine Gesetze mehr!“, proklamiert er euphorisch. „Und ihr Jungs brecht auch dieses Gesetz noch!“

‚The Big Day Out‘ ist das australische Pendant zum amerikanischen Lollapalooza. Beide Festivals ziehen mit mehreren Bühnen von Stadt zu Stadt, und sie sorgen auch für allerhand Rahmenunterhaltung. Und beide haben Perry Farrell auf dem Programm. Nur – statt in Fußballstadien und Rockhallen – findet ‚The Big Day Out‘ auf landwirtschaftlichen Messegeländen statt. So tritt Tricky im „Pavilion Nummer 4 für Jersey Kühe“ auf, da drüben geht’s zur Halle für „Brieftauben und Zuchtvögel“, und weiter vorn kommen die „Brutkästen“. Daß The Prodigy in ein Programm passen zusammen mit Nick Cave & The Bad Seeds, Rage Against The Machine, Tricky und einigen Lokalkomödianten sagt alles aus über den genre-sprengenden Appeal der wilden Männer aus der englischen Provinz.

Auch heute, in Melbourne, geht das Publikum wieder frenetisch mit. Keith durchläuft eine immer verblüffendere Abfolge von bizarren Kostümwechseln. Leeroy tanzt wie eine Marionette in der Waschmaschine. Liam klammert sich an seinen hin- und herwiegenden Keyboards fest, so also wollte sie ihm ein Sturm wegblasen, und Maxim – der stakst vor dem Publikum auf und ab starrt einigen Herrschaften ins Gesicht, als wollte er sie gleich anschließend mit bloßen Händen erwürgen. „Ich weiß nicht, warum ich das tue“, grübelt er später in der Garderobe. „Ich hab‘ wohl einfach Spaß daran, Leute einzuschüchtern!“

Frage: Was ist die größte Extravaganz, die ihr euch bisher geleistet habt?

Maxim: Dieses Armband aus Silber. 600 Pfund. Nein, diese Uhr für 1500 Pfund. Dinge, die ich immer schon wollte. Ich bin nicht so wie Keith und Liam, sie kaufen sich sündhaft teure Rollerblades und nehmen sie nach zwei Tagen nicht mehr in die Hand.

Leeroy: Mein Schlafzimmer. Es hat ein paar tausend Pfund gekostet. Überall hängt Airbrush-Comix-Kunst, Bilder von Judge Dredd und Batman.

Liam: Ich war 14. Hab‘ mein ganzes Taschengeld gespart und mir davon einen einen Ninja-Anzug gekauft. Gesichtsmaske, Schuhe und alles drum und dran. 50 Pfund war viel Geld damals – dafür hätte ich ein halbes BMX-Bike kaufen können.

Keith: Mein Motorrad. Aber darüber will ich nicht reden, denn ich rede darüber eh schon zuviel.

Keith Flint wechselte den Job öfters als seine Unterhosen, aber immerhin war er ein zuverlässiger Drogendealer – einer, der am Freitagabend jeden Bürger von Braintree problemlos mit Ecstasy und Gras versorgen konnte. Leeroy Thornhill wiederum war ein freischaffender Elektriker. In der Partyszene von Braintree kannte jeder die beiden. Ihre fast schon halsbrecherische Begeisterung beim Tanzen wirkte wie ein Magnet, und sobald sie den Tanzboden betreten hatten, hüpfte um sie herum sofort eine Schar angesteckter Kids. Sogar solche Kids – weiß Keith zu berichten – die nicht „auf E“ waren. Eines Tages nun bat Keith Liam um ein Tape von den Tunes, die er am Vorabend am Strand gespielt hatte. Liam Howlett füllte die eine Seite mit den Platten anderer Leute, die andere mit eigenen Werken. Keith Flint und Leeroy Thornhill legten die Cassette zur vermeintlichen Erholung nach einem weiteren Rave ein. Aber oh weh – da war nichts mehr mit Pennen: Sofort erkannten sie, daß das, was sie da hörten, „the bollocks“ war (zu deutsch: das Gelbe vom Ei, gelber geht’s gar nicht). Spontan heckten die beiden ein paar ausgefallene Tanzschritte dazu aus. Und am folgenden Wochenende fragten sie Liam, was er wohl davon halten würde, künftig auf der Bühne von zwei Tänzern begleitet zu werden. Was die beiden zu diesem Zeitpunkt noch nicht wußten: Liam war mit seinen Tapes schon bei Plattenfirmen Klinkenputzen gegangen. Und bereits die zweite, bei der er angeklopft hatte, hatte angebissen und die Band unter Vertrag genommen. Das war im Oktober 1990. Prodigys Debüt-EP ‚What Evil Lurks‘ kletterte auf Anhieb auf Rang 31 in den britischen Dance-Charts – es sollte die erste und letzte Platte des Liam Howlett sein, die in den britischen Charts nicht in die Top 20 kam.

Frage: Was stört euch am meisten am jeweils anderen?

Maxim: An Keith stört mich, daß er immer zu spät kommt. Und das seit fünf Jahren.

Leeroy: Ja, das mit Keith stimmt. Ohne Zweifel. Ich geb‘ dir einen Tip: Geh niemals Shoppen mit ihm. Das ist schlimmer als alles andere, was du dir vorstellen kannst.

Liam: Manchmal kann Keith aber auch pünktlich wie ein Wecker sein. Jeden Morgen um 6 Uhr fängt er an zu furzen.

Keith: Eigentlich stört mich an den anderen gar nichts. Nein, von ihnen ärgert mich niemand wirklich.

‚Charly‘ war überschallschneller Witzfiguren-Techno und lockte postwendend 30.000 Fans zu einem Rave nach Cirencester (von denen aber nur die Hälfte reinka …). Es folgte eine turbulente Zeit: Prodigy schafften fünf weitere Top-Hits in 18 Monaten. Da ging Liam auf einmal ein Licht auf: „Ich erkannte, daß ich bisher Autopilot-Musik gemacht habe. Plötzlich kam mir der Sound von Prodigy wie Schema-F-Rave vor. Da habe ich mal einen Reggae-Sample ausgewechselt, dort einen Beat leicht verlangsamt, und schon war der nächste Hit da. Und die Rave-Fans waren inzwischen im kollektiven Dauerrausch, so daß sie einfach alles gekauft haben, wo nur ‚Prodigy‘ draufstand. Es war ihnen einfach schnurzegal, was wir spielten. Mann, sowas ist nur noch peinlich! Ich kam mir vor wie ein schlechter Clown.“ Frischer Inspirationswind war angesagt. Und Liam fand ihn ausgerechnet bei einem Musikinstrument, das damals bei allen aufrechten Techno-Fans verpönt war – der Gitarre.

Das Resultat von Liams musikalischer einkehr war ‚Music For The Jilted Generation‘, ein Album, das 1994 Breakbeats mit Punk vereinte und prompt den hochangesehenen ‚Mercury Preis‘ gewann – eine Auszeichnung, die ein Gremium von englischen Pop-Experten der jeweils  „wichtigsten LP des Jahres“ zuspricht. Damit waren The Prodigy zu einer  Rock’n’Roll-Bandmutiert – etwas, was niemand je erwartet hätte. Andere Dance-Acts wie Orbital und Underworld machten Techno, von dem auch die Rock-Massen angesprochen wurden. The Prodigy gehen einen Schritt weiter -sie absorbieren Breakbeat-Techno, HipHop und Gitarren zu gleichen Teilen und speien das alles in einem großen schwarzen „Wall of Noise“ wieder aus. Ihre Platten werden von Maschinen dominiert – das machen auch andere. Nur: neben der rohen Kraft von Prodigy erscheinen Bands wie Rage Against The Machine wie die Protagonisten des Easy Listening-Revivals.

Braintree ist eine, graue, triste-Satellitenstadt. Heimat für tausende von Pendlern. In einer Straße, die sich in rein gar nichts von den anderen Straßen in Braintree unterscheidet, steht Liam Howletts graues, tristes Pendlerhaus. Draußen ist sein Ford Escort geparkt (immerhin ist’s die aufgemotzte Spezialversion von der Tuning-Firma Cosworth). Dann geht die Haustür auf und macht den Blick frei für einen Korridor, der dekoriert ist wie das rauhe, steinerne Innere eines Aztekentempels.

In Howletts Heimstudio, in dem seit ‚One Love‘ von 1993 sämtliche Prodigy-Werke entstanden sind, stehen zwei putzige Aliens aus grünem Latex. Hier ist der Hausherr gerade noch damit beschäftigt, das neue Prodigy-Album fertigzustellen. Und weil er alles selber erledigen muß, dauert der Aufbau eines einzigen Tracks manchmal bis zu zwei, drei Wochen. Neben der brillanten Single ‚Firestarter‘ hat er brereits ein paar weitere knallharte knallharte Perlen im Kasten, die auf dem neuen Prodigy-Album im September erscheinen sollen: ‚Breathe‘ etwa, ein Stück, in dem sich Keith und Maxim regelrecht ein Gesangsduell liefern, oder ein Instrumentaltrack, der klingt wie mit Breakbeats aufgemotzte Titelsong aus einem imaginären James Bond-Film, oder ‚Funky Shit‘, ein Stück, das von diversen Beastie Boys-Samples angetrieben wird. Liam Howlett beginnt zu sinnieren: „Als ich ‚Music For The Jilted Generation‘ gemacht habe, hatte ich geradezu ein schlechtes Gewissen, weil ich nun ganz egoistisch das gemacht hatte, was ich eigentlich schon immer machen wollte. Nach allem Frust wegen der Fließband-Hits hatte ich nun doch Angst, daß uns die Fans den Rücken kehren würden. Ich wurde ganz verkrampft – bis ich mich in meiner Not dazu durchringen konnte, zu sagen: „scheiß drauf!“. Das selbe ist vor dem Erscheinen von ‚Firestarter‘ passiert. Das ist ist ein gutes Omen. Ich glaube, bei dem Rezept bleibe ich.“