Tracy Chapman


Die Marktlücke: Rohkost für Puristen

Wie zum Teufel kam diese Frau in die Charts? Nur mit Gitarre und Stimme brachte sie beim Mandela-Konzert die Massen zum Schweigen. Steve Lake fand das Erfolgs-Rezept: PR-Strategen ihrer Plattenfirma stopften sie in die Rohkost-Lücke für die Ultraharten Folk-Rock Puritaner.

Während ich diese Zeilen schreibe, steht das Debüt-Album der 24jährigen Singer/Songwriterin aus Boston völlig unbedrängt auf Platz 1 der englischen Charts; in der deutschen Hitparade rangiert es Anfang August immerhin auf Platz 2.

Natürlich beruht nichts im modernen Musikgeschäft auf Zufall. Eine PR- und Marketing-Kampagne von beinahe militärischer Präzision steckt praktisch hinter jedem Hit.

Daß ein erstaunlich großer Markt für Singer/Songwriter existiert, wurde zuletzt durch den Erfolg von Suzanne Vega eindrucksvoll bewiesen: Allein in Deutschland verkaufte sie von ihrer letzten LP 350000 Exemplare -— vorwiegend an ein Publikum von über 30jährigen. Ein Publikum, das sich wahrscheinlich von der älteren Generation der Folksänger im Stich gelassen fühlt.

Vorbei sind die Tage, als Joni Mitchell oder Joan Armatrading ihre Songs voller feinnerviger Offenheit vortrugen, ihr Innerstes der Öffentlichkeit preisgaben und dem Zuhörer das Gefühl vermittelten, an ihren persönlichsten Geheimnissen teilzuhaben. Als sich der Wind drehte, als Mitchell, Armatrading, Neil Young und andere die Akustikgitarre zur Seite stellten und sich aufwendigeren Produktionsmethoden zuwandten, fühlten sich die Puristen verprellt.

Suzanne Vega oder Tracy Chapman schließen tatsächlich eine Lücke. Und ihr Gespür für das soziale Gewissen entwickelte sich in schönem Einklang mit dem Zeitgeist: Sie protestieren und sie demonstrieren mit ihren Songs, aber weder zu platt noch mit erhobenem Zeigefinger. Dennoch, die Texte haben Gewicht, regen zum eingehenden Nachdenken an —- was den deutschen Plattenkäufern zusätzlich durch beigelegte Textübersetzungen schmackhaft gemacht wird.

Der Grundstein zu Tracys Erfolg wurde mit einem alten, aber immer noch wirksamen Trick gelegt: Die Kritiker wurden sozusagen eingeladen, Tracy vor der Masse zu „entdecken“. Tracys Name tauchte immer und immer wieder auf, noch bevor ihre erste Platte überhaupt erschienen war. Joni Mitchell, deren Ehemann Larry Klein die Band für TRACY CHAPMAN zusammenstellte, begann in ihren Interviews Tracys Namen immer wieder zu erwähnen. Das gleiche tat auch ein guter Freund von Joni, Neil Young:

„Ich spürte sofort, dieses Mädchen ist unverschämt gut, sie hat Feuer!“

Anfang 1988 wurde von der trendgeilen englischen Musikpresse keine Band mehr gehätschelt als 10.000 Maniacs. Die Maniacs hatten sich gerade vom Kultstatus befreit und waren auf dem besten Wege, in den USA von einem breiten Publikum akzeptiert zu werden. Die Plattenfirma Elektra in den Staaten benutzte die wachsende Popularität der Maniacs, um auch Tracy Chapman bekannt zu machen: Sie begleitete die Maniacs als Opening Act auf Tour und sang zum Abschluß zusammen mit Maniacs-Sängerin Natalie Merchart Gospel-Klassiker.

Im April kam Natalie nach England und half dabei, für Tracys erste London-Shows die Werbetrommel zu rühren. Das Resultat: Die britische Musikpresse überschlug sich geradezu bei dem Versuch, Tracy vorab und exklusiv zu featuren. Letztendlich wurde sie dann von allen vier Londoner Rock-Wochen-Blättern interviewt und hatte auch in den Hochglanz-Pop-Blättern jede Menge Resonanz.

Im Prinzip ja nichts Ungewöhnliches, aber: Zu dieser Zeit hatte Tracy noch keine einzige Platte in den Läden! Die Kritiker, die Vorab-Cassetten ihres Albums zugesandt bekommen hatten, überschlugen sich nichtsdestotrotz:“Erinnert euch später bloß daran, wo ihr zuerst über Tracy Chapman gelesen habt!“

Die Plattenfirma WEA brauchte nicht einmal mehr Anzeigen zu schalten; die Journalisten sorgten mit ihrem internen Rennen um den Tracy-Chapman-Entdecker-Preis von ganz alleine für eine Bomben-Publicity. (Sounds: „Sie hat Einblicke, wie sie nur Dylan auf dem Höhepunkt seines Könnens vermittelte“; Melody Maker: „Eine kostbare Entdeckung“ usw.

Der ganz große Coup aber gelang durch das weltweit im Fernsehen übertragene Nelson Mandela-Konzert im Londoner Wembley-Stadion am 11. Juni. Musikern, Managern und Plattenfirmen ist es nicht verborgen geblieben, daß Mega-Festivals wie „Live Aid“ oder nun das Mandela-Konzert eine immense PR-Wirkung nach sich ziehen. Die Verkäufe selbst alter Platten schießen nach dem Spektakel explosionsartig in die Höhe. Gerade in der englischen Presse hat man daher einigen Teilnehmern vorgeworfen, nicht etwa aus Humanität, sondern aus reiner Berechnung auf der Bühne zu stehen.

Tracy Chapman ist über diesen Vorwurf sicher erhaben. Nichtsdestotrotz weiß die Plattenindustrie die hier gewonnene Popularität gezielt zu nutzen: So sollte Tracy ursprünglich bereits im Mai ihr deutsches Live-Debüt geben. Als aber feststand, daß sie am Mandela-Konzert teilnehmen würde, wurden die Auftritte und Interviews schnell in die Wochen nach Wembley verlegt.

Es ist schon makaber: Da ist Nelson Mandela, Führer des verbotenen African National Congress, der seit 1962 in einem südafrikanischen Gefängnis vor sich hinsiecht — und dort ist die Platten-Industrie, die vor allem daran denkt, wie sie den Tribut an Mandela für ihre Zwecke nutzten kann. Daß Tracy Chapman eine schwarze Hautfarbe hat, erweist sich in diesem Zusammenhang natürlich“ als ausgesprochen günstig. Am Montag nach dem TV-Ereignis verkauft Tracy Chapman auf einen Schlag 12000 LPs in England.

Von all diesen zwielichtigen Umständen abgesehen, fällt Tracys Erfolg natürlich in eine Zeit, in der, zumindest in Amerika, wieder einmal den Frauen schlechthin die Zukunft des Rock’n’Roll zugeschrieben wird. Das normalerweise seriöse „Musician“-Magazin brachte eine Cover-Story mit der Headline „Warum die besten Newcomer 1988 Frauen sind“. Die Story präsentierte

Tracy Chapman, Sinead O’Connor, Toni Childs und Michelle Shocked als die neuen, erfolgreichen Musik-Frauen, die dem üblichen sexistischen Frauen-Bild im Pop-Business (dralle, geile, anspruchslose Blondchen) überhaupt nicht entsprechen.

Sinead O’Connor und Tracy Chapman aber haben, über ihre Art des Protests hinaus, musikalisch nichts gemein; Michelle Shocked, hat immerhin deutliche Parallelen zu Chapman und Suzanne Vega. Alle drei haben auch den gleichen Werdegang: Sie starteten ihre Live-Karriere in Coffee-Shops und Folk-Clubs.

Warten wir noch ein paar Monate, dann haben wir möglicherweise den nächsten ganz großen Boom: das Folk-Revival. Und Tracy Chapman — politisch, glaubwürdig, jung, begabt und schwarz, wird mit Sicherheit die Gallions-Figur dieser kommenden Bewegung. Es paßt alles zu gut, als daß sie noch irgend- jemand aufhalten könnte…