U2 can dance: Bono bittet zum Tanz


Sechs Monate und mehr wird es noch dauern, bis das Resultat in den Läden steht. Doch schon jetzt wuchern um U 2's kommendes Werk wilde Gerüchte. Sollte es wirklich wahr sein, daß nun selbst die Ritter des redlichen Rock das vulgäre Tanzbein schwingen?

Der Seitensprung findet vorerst unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Nur 4ÜÜÜ DJs und Medien-VIPs kamen in den Genuß einer Maxi, auf der U 2 schüchterne Gehversuche in Richtung Dancefloor unternehmen. Unter dem Titel „Who is healed? Who is housed?“ liefert die inoffizielle Promo-Maxi zwei Dance-Mixe von „Night & Day“, U 2’s Beitrag zum AIDS-Sampler „Red Hot & Blue“.

Bereits im letzten Jahr — ebenfalls fast unbemerkt, ja geradezu verschämt — hatten U 2 eine Dance-Maxi veröffentlicht, damals mit einem Mix der bereits bekannten LP-Tracks „God Part 2“ und „When Love Comes To Town“. Was damals noch als einmalige Verirrung abgetan werden konnte, scheint sich mittlerweile zur zukunftsträchtigen Perspektive gemausert zu haben. Der Londoner Mix-Meister Youth (Ex-Killing Joke) wurde jedenfalls eigens ins bandeigene Windmill Lane Studio nach Dublin gebeten, um bei der Umsetzung der neuen Ideen behilflich zu sein.

„Die Band“, so Youth, „gab mir von Anfang an klare Instruktionen. Sie sagten, sie wollten einen .Heavy Mix‘, einen abgefahrenen, undergroundorientierten Mix; außerdem wollten sie einen eher konventionellen Radio-Dance-Mix. Als ich mit der Arbeit anfing, kamen sie ins Studio und ließen sich darüber aus, welche musikalische Entwicklung sie momentan durchliefen und warum sie überhaupt einen Dance-Mix wollten. Sie seien, so sagten sie, interessiert an den good vibes, die einen Großteil der heutigen dancemusic auszeichne. Sie waren fasziniert von den Mix-Methoden und wie man in diesem Metier überhaupt arbeitet. Wenn ich sie recht verstanden habe, sollen ihre Aufnahmen in Berlin wohl in die gleiche Richtung gehen — so jedenfalls drückten sie sich mir gegenüber aus.“

In den Berliner Hansa-Studios hatten sich U 2 Ende ’89 für einige Wochen verbarrikadiert, um die Bruchstücke neuer Songs und Sounds zu ersten Demos zu kondensieren. In einem Interview mit dem bandeigenen Fan-Magazin „Propaganda“ läßt Bono die Tanz-Katze zwar noch nicht aus dem Sack, räumt aber ein, daß das neue Album einen deutlichen Richtungswechsel markieren werde. „Wir fangen mit den 90er Jahren noch einmal neu an. In den vervaneenen Jahren haben wir zurückgeschaut. Wir haben mit Blues, Gospel und Jazz gearbeitet, wir haben von Leuten wie Bob Dylan, B. B. King und Roy Orbison viel gelernt. Wir waren wie ein Schwamm, der alle substanziellen Einflüsse und Informationen aufgesaugt hat. Diese Leute stammen aus einer musikalischen Generation, die es in 20 Jahren vielleicht schon nicht mehr geben wird. RATTLE AND HUM war eine Verbeugung vor diesen Leuten.“

Aber während RATTLE AND HUM einerseits ein Bindeglied zur Vergangenheit darstellen sollte, war es für U 2 gleichzeitig nur eine Zwischenstation: „Die Überlegung dahinter war die, daß wir uns dieses Wissen aneignen wollten, um es dann mit einer neuen Ausrichtung umzusetzen. Das ist eine Situation, die ebenso spannend wie beängstigend ist: Es gibt so viele Möglichkeiten, so unendlich viele Richtungen, in die wir uns entwickeln können. „

Die neue Zielsetzung, so Bono habe auch eine neue Form des Arbeitens mit sich gebracht. Während früher die einzelnen Bandmitglieder den konservativen Weg des Songschreibens gegangen seien, praktiziere man nun kollektiv das, was Bono „songwriting by accident“ nennt: „Mit JOSHUA TREE und RATTLE AND HUM hatten wir den Prozeß abgeschlossen, die klassische Form des Songschreibens beherrschen zu können. Dieser Ansatz macht uns zwar immer noch Spaß, aber der bei weitem spannendere Weg des Schreibens geschieht während des Improvisierens, mitten im kreativen Prozeß. In den Anfangstagen, als wir noch nicht so gut spielen konnten, wurden wir durch unsere technischen Mängel eingeschränkt. Das aber ist heute nicht mehr das Problem. Inzwischen ist es nur noch die Frage, ob wir uns einen Sound, einen Song vorstellen können. Wir kommen zusammen, spielen, improvisieren — und schauen dann, was passiert. Wir warten auf diesen magischen Augenblick und bauen die Musik darauf auf. Aus der Stimmung der Musik ergeben sich dann auch fast automatisch die Worte. „

Oder auch nicht. Er als Texter gerate jedenfalls gelegentlich in die Situation, daß die Worte ausblieben. „Manchmal entwickeln sich die Texte fast automatisch aus der Musik, manchmal aber auch nicht. Ich muß dann bewußt in die Musik hineinhorchen und hören, was sie sagt.“

Was er dort gehört hat, möchte Bono vorläufig nicht ausplaudern. Man sei derzeit damit beschäftigt, aus 50 mehr oder weniger fragmentarischen Ideen 30 potentielle Songs herauszufiltern, die dann wiederum im Hinblick auf die endgültige Auswahl gegeneinander abgewogen würden. Und selbst sichere LP-Kandidaten existierten momentan allenfalls unter kryptischen Arbeitstiteln, die für Außenstehende ohnehin unverständlich seien.

„Es mag ein bißchen abgefahren klingen, aber Platten entwickeln manchmal tatsächlich ein Eigenleben. Wir haben alle unsere Vorstellungen, in ¿

welche Richtung sich die Platte entwickeln soll, aber anstatt uns jetzt feste Vorgaben zu geben, die wir dann notgedrungen einhalten müssen, lassen wir unseren Ideen lieber freien Lauf und sehen dann, was dabei muskommt. „

Sicher indes ist jedenfalls so viel, daß The Edge „gegenwärtig in seiner manischen Phase ist. Seine Gitarrenparts sind unglaublich aggressiv. So viel kann ich versprechen: Es wird keine laid-back Platte werden. „

Ein weiterer Titel, provisorisch „Sick Puppy“

betitelt, „ist eine wirklich phantastische Soulmtmmer in der Tradition von Sly & The Family Stone. Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, unserer Musik künftig mehr Rhythmus zu geben — und Polyrhythmen sind nun einmal das, was die Leute zum Tanzen bringt.“

Was wiederum auch eine Neubewertung von technischen Hilfsmitteln mit sich bringt: „Bei drei Instrumenten sind die rhythmischen Möglichkeiten zwangsläufig beschränkt. Aber wenn du die Technologie sinnvoll einsetzt, kommst du zu ähnlichen Resultaten wie damals etwa Sly & The Family Stone. ,God Part 2“ war ein gutes Beispiel für die Dynamik des neuen U 2-Sounds. „

Denn gleichgültig wie das Resultat letztlich aussehen wird — daß es neu klingt, darüber ist sich Bono bereits jetzt völlig sicher. „Wir möchten eine Platte abliefern, die nicht nur für V 2 Neuland betritt, sondern auch anders klingt als das, was man gegenwärtig im Radio oder auf Platte hört. “ Ganz bewußt läßt man sich daher mit dem Schreiben und Aufnehmen Zeit. Der bisherige Erfolg der Band basiert nicht zuletzt darauf, daß man es sich immer erlauben konnte, so lange an Ideen zu feilen, bis man hundertprozentig zufrieden war. „Es ist eine beneidenswerte Situation, zu der uns unser Publikum verholfen hat. Ich glaube, unsere Fans erwarten daher mit Recht, daß wir eine großartige Platte abliefern — und daß sie von ihr überrascht werden. Wir werden deshalb so lange daran arbeiten, bis wir sicher sind, daß es ein phantastisches Album ist. „