U2: The Edge


Er ist der Motor der derzeit erfolgreichsten Rockband der Welt. Doch deren Außendarstellung überlässt er meist seinem Sandkastenfreund Bono. Ein rares Gespräch mit dem Mann, der U2 musikalisch in neue Dimensionen steuern will.

Edge erinnert sich gut an die Olympic Studios in Südlondon. 1980, zu „Boy“-Zeiten, kamen U2 zum ersten Mal hierher, um eine Live-Session für den britischen Sender Radio 1 aufzunehmen.

„Wir waren etwas enttäuscht, als wir merkten, dass die Session besser klang als unsere Platte“, sagt der Gitarrist mit einem Schmunzeln. Fast drei Jahrzehnte später haben sich manche Dinge nicht verändert. In dem höhlenartigen Live-Raum des Studios liegt, unter einem blinkenden Stapel von elektronischen Gerätschaften verborgen, eine abgetragene Kiste. Das ist The Edges treuer Vox-Verstärker, sein ständiger Begleiter auf jeder U2-Tour und -Platte, inklusive der, an der die Band momentan arbeitet – „No Lines On The Horizon“. Die Ausstattung drum herum verbindet seine Gitarre durch Effektpedale mit seinen Verstärkern. „Dieser Haufen Ausrüstung, das nehme ich alles mit auf Tour“, sagt er, mit beinahe väterlichem Stolz. „In meinem Fußpedal ist wahrscheinlich 500 Mal so viel Power, wie damals bei der Apollo-Mondmission benutzt wurde. Vielleicht sogar noch mehr.“

Edge ist immer noch in vieler Hinsicht U2s Motor. Im Oktober 2008 reisten Bono und er nach Los Angeles, um mit B.B. King bei einer Jazz-Preisverleihung aufzutreten. Bono nutzte den Ausflug, um vor 14.000 Frauen bei einer von Maria Shriver (der Ehefrau von Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger, Anm.d.Red.) veranstalteten Konferenz eine Rede zu halten. Edge spielte währenddessen Rick Rubin (der zunächst als Produzent für „No Line On The Horizon“ vorgesehen war) die neuen Songs seiner Band vor. „Und ich schrieb die Akkorde zu [dem neuen Song] ‚Stand Up Comedy'“, so der Gitarrist. „Es war also ein guter Trip.“

In Person ist der 47-Jährige aufmerksam, höflich, ruhig und gefasst. Als entschieden privater Mensch ist er wenig geneigt, seine Interessen außerhalb U2s (die aller Vermutung nach bei seinen fünf Kindern liegen) zu diskutieren, aber er gibt zu, dass die Band mit fortschreitendem Alter und wachsendem Erfolg und Reichtum gelassener geworden ist. „Wir sind uns für nichts zu fein“, sagt er, „wir wollen einfach nur Großartigkeit erreichen, und es ist uns relativ egal, wie wir dahin kommen.“

„No Line On The Horizon“ klingt roher als „All That You Can’t Leave Behind“ oder „How To Dismantle An Atomic Bomb“, es ist kantiger und rockiger. Ist das eine treffende Beschreibung? Ich versuche immer noch, mir klarzumachen, was genau am Ende dabei herauskommen wird. Die Platte ändert sich praktisch täglich. Aber ja, ich denke, das ist ungefähr richtig. Was uns jetzt gerade inspiriert, ist die Idee, dass Musik nicht nur eine Hörerfahrung ist, sondern wie eine Beobachtung von etwas ist, was in Echtzeit passiert. Das ist etwas, was Rock’n’Roll-Bands tun können: Sie können dich in den Raum befördern, in dem sie ihre Musik spielen. Du hörst, was passiert. Und diese Erfahrung wird immer seltener. Also versuchen wir bei Songs wie „Stand Up Comedy“, alles etwas rau zu halten. Wir versuchen, ihn nicht zu sehr zu polieren, und er wird nicht durch Pro-Tools gewürgt, bis alles total perfekt und tight klingt, wie es heutzutage oft der Fall ist. Diese Vorgehensweise saugt den Charakter aus der ganzen Geschichte heraus.

„Stand Up Comedy“ ist ein selbstbewusster Rock’n’Roll-Song mit einem echten Groove. Dein Gitarrenspiel ist ein bisschen dreckig…

Meine Meinung ist: Wenn du einen Song mit großen Gitarren haben willst, solltest du konsequent sein und das ausreizen, und dieser Sound ist dabei herausgekommen. Es fing mit diesem von Marokko inspirierten Rhythmus-Ding an, und es ist interessant, dass es von Nordafrika zum Rock’n’Roll wanderte. An diesem Prozess kann man sehen, dass afrikanische und amerikanische Musik miteinander verbunden sind.

2006 habt ihr mit Green Day bei einer Coverversion von The Skids „The Saints Are Coming“ zusammengearbeitet. Hat diese Kollaboration dieses Album beeinflusst? Alles hat es beeinflusst. Wir sind so offen für alles, was passiert. Ich kann nicht genau sagen, wie es passiert ist, aber die Aufnahmen zu diesem Song waren eine tolle Erfahrung, denn sie haben mich an die Dringlichkeit und den Sound dieser frühen Punkplatten erinnert.

Du warst kürzlich in „It Might Get Loud“, einem Dokumentarfilm über die E-Gitarre, zu sehen – zusammen mit Jimmy Page und Jack White.

Ich hatte die beiden vorher noch nie getroffen und wusste also nicht wirklich, was mich erwartete. Es stellte sich heraus, dass wir uns fantastisch verstanden, obwohl wir alle wirklich sehr verschiedene Herangehensweisen an das Instrument bevorzugen. Ihre Vorstellung ist, dass Authentizität dadurch kommt, dass man dem Original treu bleibt. Und das Original ist in ihrem Fall der Blues. Meine Vorstellung von Authentizität ist von Innovation geprägt, davon, Dinge mit dem Instrument zu machen, die noch nicht ausprobiert wurden. Aber wir waren uns in einem Punkt einig: dass es sehr schwer ist, etwas zu schaffen, das wirklich gut ist. Und dass du am Ende so viel intellektualisieren kannst, wie du willst, aber es wird immer noch entweder großartig sein oder eben nicht.

Hast du dir ein paar Tricks abgeschaut?

Was am meisten Spaß macht, wenn man Gitarristen wie Jimmy oder Jack trifft, ist zu sehen, wie hart sie daran arbeiten, einen Weg zu finden, die Gitarre aufstehen und singen zu lassen. Aber es ist so anders als das, was ich tue. Also war es toll, sie hautnah zu erleben. Besonders, als Jimmy anfing, „Whole Lotta Love“ zu spielen – was [in der instrumentalen Coverversion von Collective Conscious Society, Anm. d. Red.] in den 70ern die Titelmelodie zu „Top Of The Pops“ war. Aber ihn die Originalversion spielen zu sehen, war ein fantastischer Moment, den ich nie vergessen werde. Verallgemeinernd gesagt, waren die letzten zwei Alben mehr „klassische U2-AIben“.

Hattet ihr nach „Pop“ Orientierungsbedarf?

Ich glaube, nach „Pop“ hatten wir den Sound der Band so weit abstrahiert, dass es sich richtig anfühlte, zu den Fundamenten dessen, worum es beim Rock’n’Roll geht, zurückzukehren: der Chemie, die durch das Zusammenspiel entsteht. Und die kriegst du nur, wenn du Leute in einem Raum hast, die in Echtzeit zusammen performen. Das haben wir auf diesen zwei Alben gemacht. Und auf dem neuen Album war es Zeit, wieder etwas anderes zu machen – diese Eigenschaft zwar beizubehalten, aber gleichzeitig den Sound in andere Bereiche zu tragen. Einige Ideen sind etwas rückblickender und andere sind sehr vorwärtsgerichtet. Das ist okay, solange du Ideen aus der Vergangenheit für das Heute aktualisierst, solange du nicht blind übernimmst, was vor zehn oder 20 Jahren schon mal gemacht wurde.

Welche Gitarristen haben dir in letzter Zeit eine „spielverändernde Erfahrung“, wie du sie auf U2.com beschrieben hast, beschert?

Nick Zinner von den Yeah Yeah Yeahs. Wir sind uns stilistisch ähnlich, und bei manchen Sachen, die er tut, werde ich etwas neidisch und denke mir: „Fuck!“ Es ist dieses Minimal-Ding: das Maximum an Wirkung durch ein Minimum an Arbeit zu erzielen. Und er hat ein tolles Ohr für Gitarrenparts.

Andere Bands?

Was puren Rock’n’Roll angeht, mag ich die Eagles Of Death Metal. Cold War Kids. Fleet Foxes auch – ich bin nicht sonderlich gut im Fingerpicking, aber es inspiriert mich, ihnen dabei zuzusehen. Mit diesem Stil ist auch [„The Joshua Tree“-Co-Produzent] Daniel Lanois aufgewachsen. Vielleicht sollte ich Unterricht nehmen.

2006 hast du mit Bono eine Homevideo-artige Tourdokumentation für U2.com aufgenommen: „A Day In The Life Of The Edge“. Fast das Erste, was du darin sagst, ist: „Ich will nicht in die Nachrichten, Mann, DU willst in die Nachrichten. Ich bin keine Berühmtheit…“

Es ist wichtig, seine Grenzen zu kennen. Der Grund, weswegen ich in dieses Geschäft eingestiegen bin, ist, um Musik zu machen. Ich bin bereit dazu, für Fotos zu posieren, in Videos mitzuspielen, auf Eröffnungen zu gehen und so weiter – so lange es der Musik und ihrem Erfolg dient. Aber ich habe mich nie fürs Berühmtsein interessiert. Ich weiß, dass das bei Bono anders ist – er ist berühmt für seine großartige Arbeit in vielen Bereichen. Wir tun das auch als Einzelpersonen, Adam, Larry und ich. Aber irgendwann hat Bono erkannt, dass es viel mehr zu bekämpfen gibt, als U2 als Einheit bewältigen können, und er hat einfach losgelegt. Und ich unterstütze, was er tut. Aber ich weiß, dass das Ganze nicht mein Ding ist, einfach schon wegen der Zeit und des Aufwands, die es braucht. Ich muss meine Konzentration auf die Musik verwenden. Und der Tag hat eben nur 24 Stunden.

Macht sich der Rest der Band ab und zu Sorgen, dass Bonos „außerschulische Aktivitäten“ den Fokus von der Band weg bewegen?

Nicht wirklich. Ihm macht es so viel Spaß, von all dieser Arbeit zurückzukehren und sich in die Musik zu stürzen. Die Sache mit allem, was wir in U2 machen, ist die: Alles ist endlich. Du kannst den Anfang, die Mitte und das Ende von allem sehen. Bonos Entwicklungshilfe dagegen ist eine andere Sache: Es ist kein Ende in Sicht. Er könnte jeden Tag rund um die Uhr daran arbeiten, und er würde das Ende

trotzdem nicht erreichen. Also ist es bei ihm umgekehrt wie bei mir: Er steckt so viel Zeit, wie er kann, in seine Arbeit für Entwicklungshilfe, aber es ist die Zeit mit U2, die er wirklich liebt. Also muss er nicht extra ermutigt werden. Im Gegenteil, er ist der, der anruft und fragt: „Wann sind wir wieder im Studio?“

Bedeutet Bonos politisches und humanitäres Engagement, dass U2 näher beobachtet werden als andere Bands? Ihr habt herbe Kritik einstecken müssen, als ihr einen Teil eurer Geschäfte in die Niederlande verlegt habt, nachdem die irische Regierung den Steuerfreibetrag auf 250.000 begrenzte … Jemand hatte einen großartigen Kommentar auf Lager, als diese Geschichte rauskam: „Das ist eine tolle Sache – denk an all die Musiker, die bankrott gegangen sind und in Armut gestorben sind!“ Eine Band, die sich über einen längeren Zeitraum selbst um ihre Geschäfte kümmern kann, ist eine Seltenheit. Ich will nicht zu viel darüber sagen, aber die Geschichten über dieses Niederlande-Ding waren nicht sehr wahrheitsgetreu. Es war nicht so, wie die Leute dachten.

Also war es keine Steuerhinterziehung?

Na ja, es war eher cleveres, effektives Steuermanagement. Aber es war nicht das, als was es bezeichnet wurde … es war etwas anderes.

Du wurdest letztes Jahr von Kulturerbe-Vereinen aufs Korn genommen, als du deine Pläne, dein Dubliner Hotel „The Clarence“ umzubauen, veröffentlichtest. Sie sagten, dass vier georgianische Gebäude und das dem Clarence zugehörige Art-deco-Gebäude „praktisch demoliert“ werden würden, würden die 150 Millionen Euro teuren Pläne des Architekten Norman Foster verwirklicht werden …

Wir glauben an gutes, modernes Design. Und ich glaube, dass Dublin dadurch besser aussehen werden wird. Ich würde argumentieren, dass die Leute in ein paar Jahren denken werden: „Die 90er und 00er waren eine Zeit von immensem wirtschaftlichen Wachstum in Irland – aber wo sind die tollen Gebäude?“ Es gibt keine. In früheren Zeiten gab es in Dublins wunderschöne Gebäude, die jetzt alle auf Postkarten abgebildet sind.

Nun, irgendetwas musste demoliert werden, um sie im 18. oder 19. Jahrhundert zu bauen. Ich bin dagegen, schöne, alte Gebäude abzureißen und stattdessen etwas Hässliches hinzustellen. Aber es gibt Zeiten, wo du Kompromisse machen musst, um etwas Herausragendes zu schaffen. Und ich glaube, dass dieses Gebäude einmal ein großes Kulturerbstück sein wird.

Wie steht es um das Spider-Man-Musical, an dem du und Bono angeblich mit der Theater- und Musical-Regisseurin Julie Taymor [u.a. „The Lion King“] arbeiten?

Es geht voran. Ohne jemanden dissen zu wollen: Ich denke, das Musical hatte seinen Höhepunkt in den 40ern, 50ern du 60ern. Meiner Meinung nach ist seitdem nichts Interessantes in dieser Richtung passiert.

Was ist mit „High School Musical?“ Du hast doch fünf Kinder, da gibt es bestimmt kein Entrinnen!

Ich habe geschafft, es komplett zu umgehen. Auf jeden Fall hatten wir immer diesen schleichenden Ehrgeiz, uns irgendwann in diesem Bereich zu versuchen. Als wir anfingen, mit Julie darüber zu reden, gab es noch kein Drehbuch, und wir brauchten einen Autor, den wir für dieses Projekt beauftragen konnten. Schließlich kamen wir auf Glenn Berger, einen Drehbuchautor aus New Jersey. Er kam mit tollen Dialogen an. Eigentlich haben hauptsächlich Julie und Glenn an der Geschichte gearbeitet, und Bono und ich haben die eine oder andere Idee beigesteuert bei den Songs hat es andersrum funktioniert. Wir lieben es, in die kreativen Welten anderer einzutauchen und zu sehen, was dort vorgeht. Es läuft alles ziemlich gut, und ich hoffe, dass es dieses Jahr eröffnet wird.

Werdet ihr bei den Proben dabei sein?

Wir werden direkt vor der Eröffnung ein paar Wochen dabeisein. Es wird kein ganzes Orchester geben, vielleicht 18 oder 20 Musiker, Streicher, Bläser, ein paar Holzbläser. Aber im Mittelpunkt wird eine Rock’n’Roll-Band stehen. Es wird interessant sein, für andere Leute zu schreiben. Wir haben schon ein paar Songs für weibliche Sänger geschrieben. Das ist eine ganz neue Herausforderung, wegen den verschiedenen Tonarten und anderen technischen Sachen.

Aber jetzt kommt erst mal das neue Album. Was sollen die Leute davon mitnehmen?

Ich will, dass die Leute sich die Platte anhören und nicht nur kaufen. Ich will, dass es eine Platte wird, zu der die Leute zurückkehren und sie in all ihren Details entdecken – so wie ich es mit den Platten mache, die ich liebe.

Ist sie das Ergebnis einer neuen U2-Version?

Jedes U2-Album ist wie das erste, das wir je gemacht haben, also müsste ich sagen: ja. Aber wir haben über die Jahre hinweg ein paar Sachen gelernt, also hoffe ich, dass es eine Art Zusammenkunft all dieser „Heureka!“-Momente der Vergangenheit wird. Ich denke, es könnte unser bestes Album sein.

Du warst kürzlich bei einem Wohltätigkeitsessen zu Ehren von Universal-Chef Lucian Grange. Bei der anschließenden Auktion hast du 15.000 Pfund für eine „Spitting Image“-Puppe von Jarvis Cocker gezahlt. Warum?

Bono und ich lieben Jarvis (lacht)! Er mochte die Zitrone auf unserer Popmart-Tour. Bei dem Konzert damals im Wembley-Stadion sagte er (schlechter Cocker-Akzent): „Ich war mir vorher nicht so sicher wegen der Zitrone, aber ich mochte sie echt gerne!“ Er ist ein großartiger Songwriter und hat einen tollen Humor. Wo ich die Puppe aufbewahren werde? Ich weiß noch nicht. Ich weiß gar nicht genau, wie groß sie ist. Vielleicht wird mein Sohn damit spielen.