Unabhängig, unangreifbar, unkopierbar


Wie überaus spannend Punkrock sein kann, wenn man ihn weiterentwickelt, zeigen seit vielen Jahren Die Goldenen Zitronen. Auch bei LENIN, dem ersten Album seit fünf Jahren, ist Stillstand verboten.

LENIN heißt sie, die neue Platte der Goldenen Zitronen. Lenin – ein Name wie ein Monolith. So plakativ in den Raum gestellt, kann das nicht konisch, nicht witzig gemeint sein. „Er rührte an den Schlaf der Welt mit Worten, die wurden Elektrizität“, heißt es im Titelstück, das einen Besuch im Moskauer Mausoleum beschreibt. Und weiter: „Wie zum Spott auf die Idee, des Hirns beraubt, in Schneewittchenhaft gehalten, liegt die geschrumpfte Hülle eines Giganten.“ Starke Worte. Verwirrende Worte. Lenin, das ist selbst unter überzeugten Linken ein aus der Mode gekommener Name, zu stark ist er mit der untergegangenen Sowjetunion und ihrem System verhaftet, zu fern erscheint in Zeiten der Globalisierung Lenins Vision von der „Diktatur des Proletariats“.

Anfang der 8oer Jahre war das anders: 1984, als Punkrock das Lebensgefuhl in westdeutschen Jugendzentren bestimmte. Als „West“ und „Ost“ noch politisch unzweideutige Schlagworte waren, mit denen sich Haltungen und Klamotten-Codes definieren, Grenzlinien markieren und Demoplakate pinseln ließen. Damals, in Zeiten des Kalten Kriegs, von Anti- AK W- Protesten und -ja, auch – der abebbenden Neuen Deutschen Welle, begannen die Goldenen Zitronen Musik zu machen. Damit sind sie länger in Amt und Würden als etwa Helmut Kohl, der kurz vorihrer Bandgründung die „geistig-moralische Wende“ ausgerufen hatte. Der ewige Kanzler ist – politisch, aber vor allem moralisch – an seinem staatsmännisch formulierten Anspruch gescheitert. Die Goldenen Zitronen hingegen, die Punks vom Hamburger Fischmarkt, die Gören aus dem Dunstkreis der Hafenstraßen-Hausbesetzerszene, sie haben ihre geistig-moralische Wende vollzogen, ohne darüber Wendehälse geworden zu sein. „Für immer Punk macht’ich sein“, versprachen sie 1986 in ihrer Coverversion des Alphaville-Hits forever young. Sie haben ihr Versprechen gehalten. Und sind damit die vielleicht letzten Vertreter einer subkulturellen Bewegung, die es in den 70er Jahren mit dem Establishment aufnehmen wollte, mit den Sex Pistols in die Kommerzfalle tappte und heute – siehe Die Toten Hosen – selbst Establishment ist. Wenn man so will, sind Die Goldenen Zitronen die vielleicht einzige Punkband Deutschlands, die noch, autsch, „authentisch“ ist.

Das Wirft natürlich die Frage auf, ob und-wenn ja-inwiefern das aktuelle musikalische Schaffen der Goldenen Zitronen überhaupt noch etwas mit Punkrock zu tun hat. „Wirsind“, sagt Ted Gaier, „dabei geblieben.“ Damit bezieht er sich aber vor allem auf die Lebenseinstellung Punk, kaum auf die Musik. „Das ist schon auffällig: Wenn man punksozialisiert ist, ist das Ideal immer ein proletarisches. Aber die, die aus den Ideen von damals etwas gemacht haben, sind doch vor allem diejenigen mit einem bürgerlichen Hintergrund.“

Oberflächlich betrachtet trennen Gaier mittlerweile Welten vom Punkuniversum. Sein Geld verdient er – genau wie Sänger Schorsch Kamerun – vor allem als Film- und Theaterregisseur („Hölle Hamburg“), seine Garderobe ist gediegen wie die eines Paradebürgers: Anzug, Seidentuch, Seitenscheitel, alles graumeliert. So jemand pumpt keine Passanten um Biergroschen an. Aus der Fassade aber blitzen funkelnde Augen, kampfeslusrig: „Es rebelliert keiner mehr“, beschwert er sich: „Die Bands in Deutschland beschäftigen sich nur noch mit sich selbst. Wir sind die einzigen, die in ihren Texten noch Klassenfragen formulieren. Blumfeld zum Beispiel haben total aufgehört zu intervenieren.“

Mit diesem Lamento freilich stehen die Goldenen Zitronen ausnahmsweise gar nicht so alleine. Blumfeld mit ihrem umstrittenen, weil über weite Strecken hemmungslos biedermeierlichen neuen Album VERBOTENE FRÜCHTE, aber auch Tomte, Kettcar und jüngere deutschsprachige Bands wie Silbermond stehen für ihre allzu passiv vorgetragene Innerlichkeit in der Kritik – und das nicht nur szeneintern, sondern gerade auch in den Feuilletons.

Es hat allerdings nicht den Anschein, als zerbräche sich die

Goldenen Zitronen Tag und Nacht die Köpfe über Wohl und Wehe der werten Kollegen. Mit dem Alleinstellungsmerkmal „besonders kritikfähig“ lebt es sich – zumindest moralisch – ja gar nicht schlecht. Um die grassierende SelbstTeferentialität zu ergründen, müßten Gaier und Schorsch Kamerun erst einmal das Musikbusiness ins Zentrum ihrer Betrachtungen rücken, aber das erscheint als Problem angesichts der großen Themen unserer Zeit zu marginal. Gaier: „Anfang der 90er, nach dem rechtsradikalen Übergriffen in Lichtenhagen/Rostock und so weiter, da war die Pop-Linke politisiert. Jetzt können sich die meisten nur noch über eine Deutschquote im Radio aufregen. Als ob es keine anderen Anlässegäbe. „Die Zitronen verhalten sich in seinen Augen zum Rest des Popgeschäfts wie die Küste zu Ebbe und Flut: Je nachdem, wie die allgemeine Tendenz ist, sind die anderen mal weiter weg odernäher an uns dran.“

Mit Stillstand hat diese Position freilich nichts zu tun. „Spätestens seit 1994, seit das bisschen Totschlag, arbeiten wir in an einem eigenen Stil“, sagt Gaier. Und weil sich auch ein Stil in Ausdruck und Ästhetik wandeln kann, klingen die G oldenen Zitronen 2006 im Vergleich zu den Vorgängeralben sanfter, weicher und elektronischer. Die Erdung im Punkrock bleibt jedoch unangetastet, die Ideale sind die gleichen textlich wie musikalisch. Dafür exemplarisch steht das vorab als Singleveröffentlichte wenn ich ein Turnschuh WAR über die tagtäglichen Flüchtlingsdramen an europäischen Wohlstandsgrenzen: „Über euer Sch &ß-^M ittelmeer /Ktpnich, wenn ich ein Turnschuh war/ Oder als Flachbildscheiß Uli lullte wenigstens ein’Preis.“

Die Welt der Zitronen ist ungemütlich, zynisch und gewaltbereit. Nichts ist besser geworden, derRückzugins private Retroglück verbietet sich von selbst. Dementsprechend unbequem oder besser: unangenehm sind die Platten. „Unsere Musik kannst du nicht zum Essen hören“, sagt Gaier. Und ähnlich wie in der Antike werden es die Empfänger den Überbringern der schlechten Nachrichten nicht danken. An diesem Punkt können sich auch überzeugte Linke den Mechanismen des Marktes nicht entziehen. „Es ist schon traurig, wenn die Verkäufe der Alben immer weniger werden „, sagt Gaier. „Aber“, fügt Kamerun an, „das Interesse an der Band hat nicht nachgelassen. Das merkt man an den Konzertbesuchen. Musik kann man aus dem Netz laden, aber Konzerte, die sind echt.“ Eben unkopierbar. Genau wie die Goldenen Zitronen. Und Lenin. —