Urge Overkill


Zehn Jahre lang dümpelt die Band aus Chicago im Untergrund vor sich hin. Doch dann, im Oktober letzten Jahres, zeichnet sich dieiä große Wende ab. Der Erfolg des Kultkrimis 'Pulp Fiction' läßt auch den gleichnamigen Soundtrack zu einem echten Kassenknüller werden —- und Urge Overkill zu Stars avancieren.

Während fohn Travolta auf dem Klo mit sich selbst das Für und Wider der geschlechtlichen Annäherung an Uma Thurman diskutiert, wirft selbige im Wohnzimmer der Gangsterbehausung das Spulentonbandgerät an: „Girrrrl, you’ll be a woman soon…“, scheppert’s aus den Lautsprechern. Frau Thurman tänzelt, den Songtext trällernd, durchs postmoderne Ambiente, bevor sie mit einer Überdosis reinsten Heroins aus dem Erzgebirge beinahe ihrem jungen Leben ein vorzeitiges Ende setzt. — Nicht nur die Schlüsselszene aus Quentin Tarantinos verquerer Gewaltparabet ‚Pulp Fiction‘, sondern auch der Wendepunkt in der zehnjährigen Karriere von Urge Overkill. Erst durch die leinwandgemäße Wiederaufbereitung des alten Neil Diamond-Songs wurde ein breiteres Publikum auf die Band aus Chicago aufmerksam. Der Soundtrack zu ‚Pulp Fiction‘ verschaffte Urge Overkill im vergangenen Jahr den internationalen Durchbruch. Ihre Version von ‚Girl, You’ll Be A Woman Soon machte weltweit auf die Fähigkeiten der Gruppe aufmerksam, altehrwürdige Songs mit neuen Inhalten zu füllen. Sogar Neil Diamond, der geistige Vater des ‚Girls‘, ließ sich von der respektvollen aber zugleich doch distanzierten Urge Overkill-Version beeindrucken und sprach der Band bei einem Treffen seinen tiefen Respekt aus. ‚Pulp Fiction‘ sei dank sind Urge Overkill inzwischen sogar in Ländern, die nicht unbedingt im Verdacht stehen, den Rock’n‘ Roll erfunden zu haben, eine feste Größe. So fliegt die Band nur mal so eben für ein paar TV-Auftritte nach Spanien.

Dabei war der ‚Pulp Fiction‘-Hit für die eingefleischten Fans bereits ein alter Bekannter. Der Song stammt nämlich- von der bereits 1992 veröffentlichten E.P. ‚Stull‘. Mit diesem Werk verabschiedeten sich Urge Overkill nach fünf Jahren von Ihrem Independentdasein beim Label Touch & Go.

Urge Overkill, dfe sich nach einem Textzitat („… by the makers of mister prolog, better known as Urge Overkill“) aus dem Song ‚Funkentelechy‘ der Funkgroßmeister Parliament benannt haben, verstehen es besser als jede andere amerikanische Band der letzten Jahre, schwarze Grooves mit weißer Rockmusik zu einer Einheit zu verschmelzen. Dabei schaffen sie auch noch das Kunststück, nicht in die lauernden Fettnäpfchen der unseligen Crossover-Welle zu treten. Der Dreier vom Michigansee ist der Prototyp für eine neue Art von Rockband, die ihren Eklektizismus offensiv, universell und gewinnbringend nach außen tragen, ohne dabei in Konturlosigkeit zu versinken. Nash Kato (Gitarre, Gesang), „Eddie“ King Roeser (Baß, Gesan ei und fllackie Onassis (Schlagzeug) perfektionierten mit vier Alben In den vergangenen sechs Jahren ihren zitatenreichen Umgang mit der Geschichte der populären Musik der letzten 40 Jahre: vom Liedgut des amerikanischen Songwriters Jimmy Webb, dessen Hymne ‚Wichita Line Man* sich auf einer frühen Single der Band findet, über Funkpapst George Clinton bis hin zu Hot Chocolate und James Brown. So machten sich Urge Overkill schon früh das Statement des „Godfathers Of Soul“ James Brown „You have to look good to sound good“ zu ihrem Leitmotiv und kleideten sich entsprechend ausgefallenen und stilvoll. Doch trou aller optischen und musikalischen Stärke ließ der Durchbiuch der drei aufrechten Verehrer schwarzer Musiktradition lange auf sich warten. Bereits 1993 war das Undergroundkorsett zu eng geworden für die Gruppe, die im jähr davor mit ihrem dritten Album „Supersonic Storybook‘ ihre Synthese knochentrockener Gitarrenriffs, markanter Grooves und exzellenter Melodien zum ersten Mal zur mainstreamtauglichen Reife fusionierte. Da war es nur eine logische Entwicklung, daß sieh das Trio nach Phitadelphia zurückzog, um ihr Major-Debüt einzuspielen: ‚Saturation‘, 1993 unter der Aufsicht des erfolgsgewohnten Produzententeams Butcher Brothers (Cypress Hill, Schooly D) entstanden, zeichnete den Weg für die „neuen“ Urge Overkill vor. Fortan räumte das Trio, das nach eigener Aussage nichts mehr haßt als „weiße Musiker, die glauben, unbedingt Funk spielen zu müssen“, den Arrangements breiteren Raum ein. Der Rockapproach trat zugunsten ausgefeilter Harmonien ein wenig in den Hintergrund.

Doch jetzt, zwei Jahre später, kehrt die Band mit ihrem neuen Album ‚Exit The Dragon‘ wieder zu den rockmusikalischen Wurzeln zurück. Wenngleich „Eddie“ King Roeser beim Interview im Bandhauptquartier „The Bank“ — einem ehemaligen Bankgebäude mit schnuckeliger Holzvertäfelung im Innenraum und dem bandeigenem Übungsraum neben dem ehemaligen Banktresor im Keller, in Chica^ gos Stadtviertel Vickers Park auch gleich ein paar Einschränkungen zu dieser Definition hinterherschickt: „Unser neues Album bewegt sich sicherlich einen guten Schritt zurück in unsere musikalische Vergangenheit — zwischen ‚Americrui-5er* (1991 Supersonic Storybook‘ uyyv — aber sonst ist es wieder eine dieser typischen Urge Overkill-Platten geworden; Im Niemandsland zwischen Rock und Soul. In gewisser Art und Weise ist das Album das Gegenteil zu dieser Art von ‚Supersound‘, den wir auf unserer letzten Platte pflegten. Diesmal spielten wir die meisten Songs wieder live ein und arbeiteten viel mehr mit akustischen Instrumenten.“ Sicher ist das auch mit ein Grund, weshalb ‚Exit The Dragon‘ zuallererst durch seine Wärme und Geschlossenheit begeistert.

Die 14 Songs wirken luftig und durchlässig, im besten Sinn wie reine, ungefilterte Rockmusik, die auch vor kräftigen Anleihen bei englischem Pop („Somebody Eise’s Body“), dem Sound der Philly-Horns und experimentellen Soulklängen in der Tradition von Isaac Hayes‘ Jahrzehntwerk ‚Hot Buttered Soul‘ nicht halt macht. Bestes Beispiel hierfür ist der achtminütige Schlußtitel ‚Digital Black Epilogue‘, in dem sich das Trio mit der gesanglichen Unterstützung einer Freundin von Schooly D schließlich ganz im weiten Universum flirrender Gitarrensounds, nachdenklicher Texte und zarter Erleuchtung verliert, um damit bisher unbekannte musikalische Tiefen zu erreichen.

„Für uns hat sich in den letzten beiden Jahren durch die vielen Touren sehr viel verändert“, meint Gitarrist und Sänger Nash Kato, „und das merkt man den Songs auch deutlich an. Wir schreiben unsere Tracks jetztvon einem anderen, mehr selbstreflektierenden Standpunkt aus.“ Dabei weist die Band jedes Ansinnen erbost zurück, ihre Musik als dekonstruktivistisch oder sonstwie postmodem zu bezeichnen. „Wir gehen zwar sehr bewußt mit unseren musikalischen Vorlieben um, sei es der Philly-Sound der 70er Jahre, sei es Punk. Doch wir wehren uns dagegen, daß die Leute versuchen, uns in eine Ecke zu drängen. Am wenigsten ertragen wir es, wenn uns irgendwelche Schreiberlinge erklären, wie unsere Musik funktioniert. Sicherlich steckt hinter vielen unserer Songs eine tiefere Bedeutung. Doch warum sollte man die erklären? Gute Stücke werden doch durch ihre Geheimnisse noch viel aufregender“, ergänzt „Eddie“ King Roeser. „Wir versuchen einfach, unsere Musik mit Gefühl, Seele und unserem ureigenen Swing zu füllen.“ Das gelingt dem Trio mit ‚Jaywalking‘ dem Opener des neuen Albums perfekt. „Dieser Song reflektiert unsere derzeitige Haltung am besten“, erzählt Schlagzeuger Blackie Onassis, „es ist eine Art .Attitude-Manifesf. AU das Böse in der Welt kann dich nicht davon abhalten, das zu tun, was du willst. Der Song ist sozusagen unser ‚Walk On The Wild Side‘.“ Ähnlich optimistisch klingt auch der Song ‚Need Some Air‘, ein veritabler Hit, der durch seine Powerchords mitunter auch unbewußt Erinnerungen an Gruppen wie The Knack wachruft. „Ich glaube, die Stärke unserer Band liegt vor allem darin“, erzählt Nash Kato, „daß wir uns als Songwriter so gut ergänzen. Wir tragen so eine Art von Ideenwettbewerb untereinander aus, und der Beste gewinnt. Bei den Aufnahmen spielten natürlich auch die Butcher Brothers eine entscheidende Rolle. Im Gegensatz zu früher hatten wir ;r diesmal viel mehr Freiräume, um unsere Ideen zu verwirklichen.“ Diese neugewonnenen Freiheiten hört man den neuen Songs denn auch an. Dabei überrascht es nicht, daß Urge Overkill inzwischen ihren ganz eigenen Stil entwickelt haben. Die Songs kann man bereits nach wenigen Sekunden ohne Schwierigkeiten der Band zuordnen. Ein seltenes Gütezeichen, das viele Gruppen in ihrer Karriere vergeblich anstreben. Vielleicht ist gerade dieser Sonderstatus von Urge Overkill der Hauptgrund dafür, weshalb die Anbindung der Formation an die allerorten hochgelobte Musikszene Chicagos nur marginal ist. Natürlich schätzt man sich untereinander, aber die Liebe zur lokalen Szene hat für Urge Overkill auch ihre Grenzen. So holte sich die Band ihren neuen Bassisten nicht aus dem reichhaltigen Musikerreservoir ihrer Heimatstadt sondern ausgerechnet aus Los Angeles. „Wir sehen uns nicht als die Großväter, eher als Urväter der Chicago-Szene“, scherzt Nash Kato. „Wir kennen natürlich die meisten Musiker in der Stadt, doch wir haben keinen engen Kontakt zu irgendeiner Art von .Szene‘. Die Musiklandschaft von Chicago ist eben sehr zersplittert.“ Und mindestens ebenso vielfältig wie die musikalischen Wurzeln von Urge Overkill: „Unsere Einflüsse reichen von coolem Rock’n’Roll aus den 50er Jahren, über die Rolling Stones bis hin zu den Sex Pistols“, sagt Kato, „und natürlich hat uns auch schwarze Musik geprägt. Künstler wie George Clinton, James Brown oder Curtis Mayfield. Coole Beats und Grooves mit der richtigen Atmosphäre zu verbinden. Das ist nach wie vor unser Credo.“ Urge rules! Zehn Jahre nach der Gründung der Band hat die simple Botschaft, wie es scheint, noch nichts von ihrem Wahrheitsgehalt verloren.