Wilco im Troxy London


Wilco tun in London, was sie hierzulande viel zu selten tun: Sie spielen ein Konzert. Und, klar: Es ist super.

Der bebrillte Herr vor uns guckt belustigt um sich. „Wieso trägt hier jeder Karohemden?“ fragt er uns. „Ich dachte, die wären seit Jahrzehnten out.“ In der Tat – kneift man die Augen beim Blick auf den Stehbereich des Troxy ein wenig zusammen, sieht das Publikum aus wie ein riesiges, aus toten Holzfällern zusammengeflicktes Lumpentuch. Diese Adlerperspektive wird durch zwei andere Besuchergattungen punktiert: Die scheinbar direkt vom Bürotisch herbeigeeilten, großzügig beleibten Anzugträ’ger und die „elder statesmen of Indie“ in Mission-Of-Burma-T-Shirts über ihren nicht minder vorzeigbaren Plauzen. Eine Handvoll ehrfürchtiger Jünglinge drückt das Durchschnittsalter auf geschätzte 35 – also sieben Jahre jünger als Mr. Jeff Tweedy, Wilco-Frontmann und Geburtstagskind. Altersunabhängig ist die Lautstärke, mit der das Publikum das Erscheinen von Tweedv, Bassist John Stirrat, Gitarrist Nels Cline, Schlagzeuer Glenn Kotehe, Keyboarder Mikael Jorgensen und Alleskönner (Keyboards, Gitarre, Backup-Gesang) Pat Sansone begrüßt. Ein kurzes kollektives Jauchzen begleitet die einleitenden Töne der wunderbaren Alt-Country-Nettigkeit „Wilco (The Song)“ (der in seiner gefälligen Knarzigkeit auch „Eels (The Song)“ heißen könnte). Und als sich direkt danach eine makellose und aufreizend lässige Version vom VAN-KEE HOTEL FOXTRÜT-Klassiker „I Am Trying To Break Your Heart“ wie ein Schmetterling aus dem überleitenden Lärmkokon schält, stellt sich eine Erkenntnis ein: Das wird gut, heute Abend. Es hilft natürlich, dass der Soundmensch einen grandiosen Tag erwischt hat, Clines und Jorgensens Effekte hervorragend in die Rythmusgruppe integriert und auch bei drei parallel dahinschrammelnden Gitarristen den Gesamtklang nie zu Brei vermischt. Aber die nach tünt Jahren hörbar aufeinander eingespielten Bandkollegen haben selber Lust, grinsen sich über Kotches Becken hinweg an, freuen sich an jeder gelungenen Gesangsharmonie (z. B. im psychedelischen Popgoldstück „You Are My Face“) und jedem kontrapunktischen Gitarrenlick (im dringlichen „Bull Black Nova“). Nels Cline, in eine knallrote Hochwasserhose gepresst, würgt während den im Set verstreuten Neil-Young-Jams Solo um Solo aus seiner Klampfe und darf als Belohnung dafür (Tweedy: “ You play a solo like this, you get a guitar like that“) bei „You Never Know“ sogar mit einer Double-Neck-Gitarre hantieren. Nach dem achten Song („Radio Cure„) stimmen ein paar Fans ein zaghaftes „Happy Birthday Jeff“ an, auf das der Adressant schmunzelnd antwortet: „Ahh… 29! „Eigentlich wird der Mann heute ja 42, aber das schert zu Recht niemanden.

Gegen Ende des dahinschlendernden „Handshake Drugs“ wechselt Tweedy von der Akustik- zur E-Gitarre, um sich mit seinen Bandkollegen zum proggigen Höhepunkt zu gniedeln, watscht zwischen den Songs einen übereifrigen und penetrant lauten Zuschauer verbal ab und variiert seinen markanten Gesang zwischen ersticktem Flehen und schweinscoolem Country-Croon. Freilich gibt es bei der 24 Stücke starken Setlist auch Längen. „Hate It Here“ etwa bleibt ein eher mittelmäßiges Stück Softrock. Und obwohl sich so mancher anstatt des staubigen Hoedown-Gerumpels von „Hoodoo Voodoo“ lieber „Via Chicago“ gewünscht hätte – wenn man Tweedys Gesicht sieht, als dieser nach dem zweiten, diesmal aus vollem Halse mitgegrölten Geburtstagsständchen und „We Are The Champions“-Cover erklärt: “ / ‚m the luckiest man in the world, l’m not even kidding‘, ist man bereit, dieser Band alles zu verzeihen.

Albumkritik und Story ME S/09