Wir Dürfen Mutter Zu Ihm Sagen


Das WOODSTOCKFESTIVAL wird 40. Als Projektionsfläche funktioniert das Open Air von 1969 bis heute: Idealisten dürfen seinen Hippie-Geist beschwören, Kritikerden Kommerz verdammen. Die drei legendären Tage im Staate New York eröffneten die Ära der Großfestivals.

Sollte TV-Geschichtsguru Guido Knopp einmal der Versuchung erliegen, die sechziger Jahre in einem dreiviertelstündigen „History“-Filmchen abzuarbeiten, wird er sich vermutlich auf folgende Stichworte beschränken: Mauerbau, Kubakrise, JFK, Beatlemama, Minirock, Martin Luther King, Vietnam, Studentenunruhen, Mondlandung, Woodstock. Große Politik also und ein bisschen Unterhaltung, wobei das Woodstock Festival in gewisser Weise beide Faktoren vereint: Das dreitägige Freiluftkonzert im Staate New York, das nicht einmal das erste seiner Art war, wird gemeinhin als kultur- und identitätsstiftend betrachtet, als Vorbote der verhältnismäßig freigeistigen siebziger Jahre, als Namensgeber einer ganzen Generation. Was hierzulande die 68er sind, begreift sich in den USA gerne als „Woodstock Generation“.

Die drei Tage im August 1969 sind zweifellos einer der mythischen Momente der Popkultur und naturgemäß offen für allerlei Interpretationen. Der liberale Mainstream neigt von jeher zur Idealisierung, zur romantischen Verklärung des Ereignisses: Woodstock als Synonym des Friedens, der Liebe, des Aufbruchs ins aquarianische Zeitalter. Der selbstbewusste Auftritt einer amerikanischen Jugend, die alles besser machen will. Hier sind wir, und wir sind viele. Die Musik? Natürlich ganz große Klasse. 32 Acts traten auf, darunter fast alles, was damals Rang und Namen hatte: The Who, Jimi Hendrix, Grateful Dead, Jefferson Airplane, Janis Joplin, Crosby, Stills, Nash & Young, Creedence Clearwater Revival und viele andere mehr. Als kollektive Jugendennnerung an eine Zeit der Selbstfindung, der Träume, des unbeschwerten, grenzenlosen Vergnügens ist der „Summer of 69“ jedenfalls längst ein Markenartikel. „Those were the best days of my life“, sang Bryan Adams im Jahr 1985, was man ihm ruhig glauben darf. Als kanadischer Staatsbürger lief er schließlich auch nicht Gefahr, zu den 11.600 G.I.s zu gehören, die 1969 in Vietnam ihr Leben ließen. Die meisten von ihnen waren jünger als 25 Jahre, die wenigsten hatten sich freiwillig gemeldet. Und das Gros der Vietnamesen hatte ohnehin keiner gefragt. Es ist wohl genau jener Widerspruch, der dem Woodstock Festival bis heute seine Symbolkraft verleiht: eine Insel der Freude und des Friedens in ansonsten harten Zeiten. Selbst die für das Festival angeheuerten Ordnungshüter des New York Police Departments spielten mit und drückten trotz dichter Marihuanaschwaden ein Auge zu. Sie waren vom Polizeichef George McManus in Absprache mit den Veranstaltern allerdings auch mit Bedacht ausgewählt worden, also keine Schlagstock schwingenden „Bullenschweine“, die den batikbehemdeten Gammlern am liebsten ihre unamerikanischen, pazifistischen und libertinären Ansichten aus den langhaarigen Köpfen geprügelt hätten, sondern eher gelassene Naturen, die jenseits ihrer offiziellen Dienstzeiten ein paar Dollar dazuverdienen wollten.

Leben und Leben lassen, lautete die Devise, Tabubrüche wurden toleriert. Eingedenk der amerikanischen Prüderie des Jahres 2009 mutet es bizarr an, dass vor 40 Jahren tausende Jungamerikaner nackt badeten, sich im Schlamm wälzten und unter dünnen Zeltplanen den irdischen Gelüsten frönten, begleitet von Kameras, die all das ins Fernsehen – und später auch ins Kino – brachten. So viel Freizügigkeit war selten in Gottes Land, und einen aseptischen Disney-Kinderstar wie Hannah Montana, der die Jugend mit faden „Kein Sex vor der EheP‘-Dogmen behelligt, hätte man damals gewiss als reaktionäre Dummbratze ausgelacht, bemitleidet oder freundlich in den Schlamm geschubst.

Jener neue Lebensstil, der spirituelle Erleuchtung, unverklemmten Sex, Gleichheit, Brüderlichkeit und drogeninduzierte Bewusstseinserweiterung zum Maßstab erhob, hat die – zunächst vor allem westliche – Welt gewiss nachhaltig verändert. Allerdings wurde er nicht in Woodstock erfunden, sondern ein paar Jahre zuvor in Kalifornien. In (enern gelobten Land, in dem eine Woche vor dem Festival Charles Mansons verwirrte „Hippie-Sekte“ ein Blutbad angerichtet hatte und in dem Ende 1969 beim Altamont-Konzert Mord und Totschlag herrschten. „The best days of my life“ bleibt also weiterhin eine höchst subjektive Einschätzung, wenn auch von vielen geteilt.

Friede, Freude, Eierkuchen, Übergossen mit Harmoniesoße, kommerziell ausgenutzt, erst-, zweit- und drittverwertet. Doch vor lauter Selbstgefälligkeit und Euphorie neigt ein Teil der „Woodstock Generation“ noch heute dazu, dem Festival, seinen Machern und Künstlern einen ewigen Heiligenschein zu verpassen. Am mythischen Personal aus Göttern und Helden darf nicht gerüttelt werden, erst recht nicht am 40. Geburtstag. Die Gegendarstellung: Alles Lug und Trug, angefangen beim Namen. Eigentlich hätte es White-Lake-Festival heißen müssen, denn so lautet noch heute der Name des Kaffs, auf dessen Gebiet das Konzertgelände in Wahrheit lag. Der nächstgrößere Ort hieß Bethel, was natürlich ein wenig nach „Neues aus der Anstalt“ geklungen hätte. Zudem: Bob Dylan und The Band residierten tatsächlich im nahen Woodstock, außerdem war die Idylle als Künstlerkolonie des „Arts & Crafts Movement“ bereits seit der Jahrhundertwende ein Begriff. Etikettenschwindel? Geschenkt. Ebenso wie die mangelnden sanitären Einrichtungen und der Verkehrskollaps im nordwestlichen Staate New York. Schätzungen zufolge hatten sich 1,2 Millionen Zuschauer auf den Weg gemacht, nur etwa 400.000 bis 500.000 erreichten das Festivalgelände, auf dem man mit ca. 200.000 Menschen gerechnet hatte. Mangelnde Erfahrungswerte entschuldigen vieles. Aber nicht alles.

18 Dollar für ein Dreitagesticket waren seinerzeit ein stolzer Preis, was Hippie-Aktivisten auf die Palme brachte. Musik hatte kostenlos zu sein, dass in ein Festival von der Größe Woodstocks Millionen zu investieren waren, interessierte nicht wirklich. Dabei bellet sich allein die Stromrechnung auf 150.000 Dollar, von den Künstlergagen in Höhe von zwei Millionen Dollar ganz zu schweigen. Zudem: Die 18 Bucks zahlten ohnehin nur die wenigsten, denn als der Ansturm zu groß wurde, öffnete man aus Sicherheitsgründen alle Zäune und erklärte Woodstock feierlich zum Freikonzert. Dass die Beteiligten Geld verdienen wollten, ist absolut statthaft. Dass sie, um noch mehr Geld zu verdienen, blumige Presseerklärungen im Hippie-Jargon verfassten, muffelt ein wenig.

Etwas mehr Ehrlichkeit hätte nicht geschadet, doch die Organisatoren Michael Lang und Artie Kornfeld stilisierten sich stets als selbstlose, mehr oder minder ehrenamtliche Freunde der Gegenkultur. Dabei spielte das große Geld in ihren Aktivitäten sehr wohl eine Rolle.

Nur nicht bei John Roberts und Joel Rosenman, zwei steinreichen New Yorker Berufssöhnen, die im „Wall Street Journal“ eine kuriose Annonce geschaltet hatten: „Zwei junge Finanziers mit unbegrenzten Mitteln suchen Investitionsmöglichkeiten.“ Weiter entfernt vom antimatenalistischen Hippie-Idealismus konnte man wohl kaum sein. Andererseits:

Roberts und Rosenman hätten ihr Geld auch in eine Fabrik für Napalmbomben stecken können – dass sie sich für ein Rockfestival entschieden, spricht für sie. Die Rollenverteilung bei „Woodstock Ventures“ sah so aus: Lang hatte die Idee gehabt und war der Hippie vom Dienst, Kornfeld, Chef des Labels Laurie Records, stellte die Kontakte her, Roberts und Rosenman beschafften die Kohle. Womit die vier Anteilseigner nicht gerechnet hatten, war der immense Publikumsansturm, der die ganze Kalkulation über den Haufen warf: Die Verpflegung und medizinische Versorgung der Festivalbesucher kam teuer zu stehen, die anschließende Müllentsorgung war auch nicht kostenlos zu haben. Noch schlimmer: Als die Zugangsstraßen unpassierbar wurden, mussten Hubschrauber angefordert werden, um die Musiker ein- und auszufliegen. Roberts sah sich sogar veranlasst, eine Pressemitteilung zu verfassen, gerichtet an das Jungvolk auf dem Weg zu m Festival:

„Bitte kehrt um! Kommt nicht nach Woodstock!“

Die „unbegrenzten Mittel“ waren bald erschöpft, und als die Finanzmisere ruchbar wurde, verlangten manche Künstlermanager Cash im Voraus und drohten damit, dass ihre Schützlinge – etwa die Ober-Hippies Grateful Dead – ansonsten nicht auftreten würden. Für Lang und Kollegen der blanke Horror: stornierte Gigs, wütende Fans, Gewalt und Vandalismus. Also wurde gezahlt, notfalls auf Pump. Für „Woodstock Ventures“ war es ein finanzielles Desaster, der Schuldenberg nach dem Festival riesig. Weshalb man sich in den frühen Siebzigern gegenseitig mit Klagen und Prozessen überzog. Unschön. Der Rest war eigene Blödheit: Die Rechte an den Tonträgern und dem Festival-Film hatte man nämlich für ein Trinkgeld weiterverkauft. Die Millionen flössen fortan reichlich, nur eben in andere Taschen.

„The best days of my life?“ Auf die Frage, was ihm zur Mutter

aller Festivals einfalle, antwortete Who-Gitarrist Pete Townshend schon in den siebziger Jahren kurz und prägnant: „/ hatedit.“ Fürbekiffte Yankees, die im Schlamm baden, hatte der Engländer Townshend nur Verachtung übrig, die unprofessionelle, chaotische Organisation erregte ebenso sein Missfallen. Zu allem Überfluss hatte ihm irgendein Witzbold LSD in den Kaffee gekippt, und als dann während der Who-Show auch noch der Polit-Aktivist Abbie Hoffmann die Bühne enterte, um eine Rede zu halten, wurde Townshend handgreiflich und setzte seine Gibson SG als Schlaginstrument ein. Drei Tage der Liebe, des Friedens und der Musik. Über die künstlerische Qualität der Woodstock-Auftritte darf man allerdings geteilter Meinung sein: Hendrix und The Who waren sicher nicht in Bestform, Grateful Dead und Joe Cocker rockten solide, Jefferson Airplane nicht einmal das. Für einen jungen Mexikaner namens Carlos Santana und seine zuvor eher unbekannte Band bedeutete der gelungene Auftritt in Woodstock immerhin den Senkrechtstart. Doch auf all das kam es letztlich gar nicht an: Woodstock war die Blaupause, die der Rest der Welt kopierte.

Und im Rest der Welt ging es mitunter noch unprofessioneller und chaotischer zu. Auf der Ostseeinsel Fehmarn etwa, wo 1970 ein Gutteil der fürs Open Air angekündigten Bands nicht auftauchte, die Veranstalter mit der Tageskasse durchbrannten, die als Ordner engagierten Hamburger „Hell’s Angels“ das Kassenhäuschen in Brand setzten, nach Lust und Laune prügelten und alles im Dauerregen absoff. Das Zeitalter der Riesen-Festivals hatte begonnen, von den Medien jeweils als „deutsches“, „englisches“ oder „niederländisches Woodstock“ gepriesen. Was sich mitunter bis heute hält: Steht irgendwo eine Freiluftbühne, vor der die Menschen tanzen, ist schnell von Woodstock die Rede. In der Nähe des Originalschauplatzes werden die runden Jubiläen ohnehin regelmäßig begangen. Zum 30. im Sommer 1999 übrigens mit einer Riesenprügelei.

Die Kleinstadt Woodstock selbst machte nach 1969 erst einmal harte Zeiten durch: Angelockt vom Mythos, überschwemmten Aussteiger und Möchtegerns aus aller Welt das ehemals beschauliche Dörfchen. Weshalb sich so manche ansässigen Künstler, etwa Van Morrison und Bob Dylan, schnell nach einer neuen Bleibe umsahen. Heute ist wieder Ruhe eingekehrt. Ob es für die Einwohner tröstlich ist, dass der Comiczeichner Charles M. Schultz („Peanuts“) Snoopys gefiederten Freund nach ihrer Heimatstadt benannte („aufgrund der Popularität des Namens bei Jugendlichen“) und die Firma Blaupunkt ein Autoradio auf den Namen „Woodstock“ taufte?