Wir haben den Kanal noch lange nicht voll


Während die Einschaltquoten der früher heißgeliebten "Formel Eins" ständig fallen, drängen immer mehr Musikvideo-Programme ins Kabelund Satelliten-Fernsehen. Nach Music Box, Sky und Super Channel wird demnächst auch Amerikas Video-Gigant MTV über unsere Bildschirme flimmern. Wer sich die ganzen Clips anschauen soll, weiß letztlich keiner, aber eins steht fest: Es gibt viel zu gucken –— schalten wir's ein.

Donnerstag früh, 3.30 Uhr. Ich schalte den Fernseher ein und die Sonne geht auf: Mandy Smith lächelt mich an. In ihrer weißen Unterhose steht sie auf der Bühne von „Countdown“, einer in Holland produzierten Charts-Show für den englischen Satellitenkanal „Super Channel“.

Donnerstag, 9.15 Uhr, Wiedersehen mit Mandy. Das grün gestreifte Jäckchen von heute nacht hat sie gegen ein rot gestreiftes eingetauscht, die Unterhose ist noch immer weiß. Jetzt steht sie auf der Bühne für die „Coca Cola Eurochart Top 50“ im englischen Sky Channel.

Donnerstag, 16.00 Uhr, Mandy hat sich noch mal umgezogen. Ganz in Schwarz tritt sie im deutschen Satellitenkanal „musicbox“ auf.

Drei verschiedene Kanäle, dreimal derselbe Song, dieselben Bilder, dasselbe Mädchen. Kein Wunder, daß sich das abnutzt. Natürlich ist es großartig, im Kabel zu jeder Zeit mehr erwarten zu können, als das Testbild — nach 20 Minuten spätestens aber langt es auch wieder.

Die Amerikaner waren die ersten, die rund um die Uhr Videos sehen konnten. — „I want my MTV“ — Wow! — „Musik zum Sehen“ — Endlich! Die Rettung für die Musikindustrie! Die Fernsehrevolution des Jahrzehnts!

Die Amerikaner sind auch die ersten, die es wieder satt haben. Seit 1. August 1981 läuft MTV nonstop. „Video Killed The Radio Star“ war der erste gesendete Clip. Seitdem steigende Einschaltquoten — bis 1986. Da verlor der legendäre Sender erstmals Zuschauer. Die überlebenswichtigen „Nielsen-Ratings“ fielen von 1,2 auf 0,7 Prozent. Eine Katastrophe! Während MTV in Amerika das Ratingssystem anzweifelt, soll es dafür endlich auch in Europa losgehen. Ab Sommer will MTV die verkabelten Europäer bedienen. Dann kann ich Mandy Smith noch auf einem vierten Kanal sehen. Prima, oder?

Sensation ist das alles jedenfalls keine mehr. Der Boom ist vorbei, Videos sind heute Alltagsware. Das bekommt auch die „Formel Eins“

DER PRODUZENT

Einer, der gerade intensiv nachdenkt, ist Andreas Thiesmayer, 38, Produzent der „Formel Eins“. Anfang der 80er Jahre war er noch Produktmanager bei der Deutschen Grammophon in Hamburg. Damals kam ihm die Idee, „so was zu machen wie ‚Top of the Pops‘ in England“. Keine dumme Idee, ist doch die wöchentliche Charts-Show eine der erfolgreichsten, ausdauerndsten und zugleich simpelsten Sendungen der BBC. Beim deutschen Fernsehen war in dieser Hinsicht Fehlanzeige. Außer in der tantigen ZDF-Hitparade fanden die deutschen „Top 75“ im Fernsehen keinen Niederschlag. Thiesmayer landete mit seinem Vorschlag bei der Bavaria-Ateliergesellschaft in München und wurde Fernsehproduzent. Im April 1983 ging’s los.

„Damals war ich so verblendet zu glauben, wenn man so was Neues und Tolles hat, schafft man locker 30 Prozent Einschaltquote“, erinnert sich Thiesmayer, „aber die Klientel ist doch wesentlich kleiner.“

Schaffte „Formel Eins“ in Spitzenzeiten bis zu 20 Prozent, so sind es jetzt manchmal nicht mehr als fünf Prozent. Von den fünf bis sechs Millionen Zuschauern, die die „Formel Eins“ im ersten Jahr nach Thiesmayers Schätzung erreichte, schalten heute im Idealfall noch drei Millionen ein. Neben der schwindenden Videobegeisterung sieht Thiesmayer einen zweiten Grund: „keine andere Sendung wird so herumgeschubst zwischen Sendeplätzen. Teilweise laufen wir jetzt um 20 Uhr gegen Spielfilme und Shows. Da ist eine reine Videosendung keine Alternative. „

Ende 1987 laufen die Verträge für „Formel Eins“ aus — und man darf davon ausgehen, daß damit die Sendung in ihrer jetzigen Form stirbt. Zum alten Tarif hätte wohl auch die Bavaria nicht mehr lange mitgemacht. Die Sendung, auf runde 100000 Mark kalkuliert, wurde teurer, seit es Videos nicht mehr umsonst gibt. „Formel Eins“ zahlt pro Clip rund 1350 Mark an die GVL. Ähnlich, wie es die GEMA für Tonträger macht, sammelt diese Urheberrechtsgesellschaft im Auftrag der Plattenindustrie Tantiemen für die Verwertung des Bildanteils der Videos ein.

Vorläufig jedenfalls zahlt die Bavaria noch. Dafür darf sie mit dem Markenzeichen „Formel Eins“ hausieren gehen. Das Merchandising mit Schallplatten, Lippenstiften, Rollschuhen, Köfferchen, T-Shirts und Krimskrams dürfte sogar mehr abwerfen, als die GVL kostet.

„Retten würde die forme! Eins‘ wohl nur ein ARD-Sendeplatz. Samstag nachmittag, wo früher der ,Beat Club‘ lief zum Beispiel“, spekuliert Thiesmayer. Sein zuständiger WDR-Redakteur, Wolfgang Neumann, pflichtet bei und schielt gar auf einen Abendtermin. Aber dann ginge es natürlich nicht mehr nur mit Videos ab, dann müßte schon die große Unterhaltung her.

Wie das aussehen könnte? Auch Neumann weiß es nicht, verweist auf die zunehmenden Musik-mit-Quiz-Sendungen des ZDF, sorgt sich aber im gleichen Satz, mißverstanden zu werden: „Da muß man erst noch lange reden drüber.“

Wie auch immer das ausgehen mag, Andreas Thiesmayer bleibt im Geschäft. Das bunte „Teen Magazin“, das er kurzfristig für den Südfunk produzierte, ist zwar eingeschlafen; und der „Formel Eins“-Kinofilm, den er koproduzierte, war eine Formel Flop. Dafür konnte sich Thiesmayer als erste Adresse etablieren, wenn’s um die Produktion von Musikvideos in Deutschland geht. Sandra, Münchener Freiheit, C. C. Catch und Nena ließen in der Bavaria drehen. 1,5 Millionen Umsatz brachten die insgesamt 22 Clips von 1986. Und viel mehr gab’s eh nicht zu drehen in Deutschland. „Sicher üben wir dadurch eine besondere Attraktivität aus, daß manche glauben, sie kommen in die Sendung, wenn sie bei uns produzieren, “ kommentiert Thiesmayer einen häufig geäußerten Verdacht, „aber das machen wir nur, wenn wir eine Gruppe sowieso im Studio aufgezeichnet hätten. Da muß man sehr vorsichtig sein. Bei den Leuten, die es darauf anlegen, merkt man die Absicht meist schon am schmalen Budget, das sie einsetzen wollen. „

Daß Thiesmayer jetzt für Coca Cola die montäglichen zweieinhalb Minuten „Magic Music“ mit Clip, Tip und Quiz herstellt, ist nur folgerichtig. Alles aus einer Hand eben. Und ganz unabhängig von der Zukunft der „Formel Eins“ versucht er momentan, der Konkurrenz Musik zu verkaufen: Für ZDF-Unterhaltungschef Wolfgang Penk verzichtete er auf Videos und produzierte eine Pilotsendung mit Live-Musik und Interviews. Alles weitere noch ungewiß, aber alle denken fleißig nach.

DER PROBIERER

Neue Wege gehen muß demnächst auch Jochen Kröhne, 30. Nach einem Wirtschaftsstudium kam er eher zufällig zur deutschen music box, wo er bald zum Programmdirektor ernannt wurde. Seit 1. Januar 1984 sendet er mit der Kabel Media Programmgesellschaft (KMP) das, was in den USA so erfolgreich war: Videos, Videos, Videos. Anfangs acht Stunden am Tag, dann 16, seit Januar rund um die Uhr. „Ob uns die 24-Stunden wirklich was bringen, wissen wir selbst nicht“, meint Kröhne, „aber wir machen das jetzt einfach mal.“

Daß Dinge einfach mal gemacht werden, davon lebte der Sender von Anfang an. Denn Einschaltquoten als Erfolgsbarometer, wie bei „Formel Eins“ etwa, fallen flach. Noch immer sind in der Bundesrepublik einschließlich Westberlin erst knapp zwei Millionen Haushalte verkabelt. Ein paar mehr potentielle Zuschauer bringen ein lokaler, ohne Kabel ernpfangbarer TV-Kanal in München und RTL-plus, das in Nordrhein-Westfalen und angrenzenden Gebieten über die Antenne kommt. In beiden Sendern gibt es nachmittags zwei Stunden music box.

Die zur Finanzierung dringend erforderliche Werbung läßt sich dadurch aber noch lange nicht locken. Die Bundespost, die Bundeswehr und die Milch machen bisher mit sowie einige Sponsoren. Ansonsten bleiben die Clips und die Ansager ziemlich unter sich.

Jetzt soll aber alles anders werden, jetzt müssen Zuschauer her. Nicht umsonst sind gerade die Großverleger Bauer und Burda bei der music box eingestiegen. Aus dem Videokanal soll das dritte konkurrenzfähige Satellitenprogramm im deutschen Sprachraum werden, neben RTL-plus und SAT 1. Mit Nachrichten, mit Frühstücksfernsehen, mit drum und dran. Im Sommer soll’s losgehen. Und dann wollen die

music box-Macher im ganzes Bundesgebiet auf terrestrischen Frequenzen zugelassen werden, die über Antenne zu empfangen wären.

Jochen Kröhne sieht weiterhin einen Musikanteil von 60 Prozent als „Programmsicherheit“ für unverzichtbar. Trotzdem könnte der deutschen music box genau das passieren, was Ende Januar der konkurrierenden englischen Music Box widerfuhr: Aus dem 24-Stunden Musikkanal, an dem auch Richard Bransons Virgin Records beteiligt ist, entwickelte sich der Super Channel. Clips laufen jetzt nur noch nachts und nachmittags, der Rest wird gefüllt mit alten und neuen englischen Serien, Sport, Nachrichten und echten Perlen wie „Spitting Image“.

Gescheitert ist die englische Music Box am gleichen Argument, das MTV von der ersten Stunde an zu schaffen machte und mit dem auch die deutsche music box sehr eigene Erfahrungen machen mußte: Nur Musik, das ist doch kein Fernsehprogramm! Die ersten, die das sagten und die noch immer dabei bleiben, sind die, die dafür zahlen sollten, die Werbung. Denn Gebühren, wie für ARD oder ZDF, gibt’s ja nicht. Weder in den USA noch in Europa. Auch wenn MTV in seiner Glanzzeit tatsächlich jede Menge Zuschauer erreichte und ausreichend Werbung bekam — langfristig bestätigen die neuesten Zahlen, daß man mit Videoclips allein keinen Sender bestreiten kann.

MTV, das große Vorbild, hat sich mittlerweile zum Gemischtwarenhandel ausgebaut. Der Hit des letzten Jahres war kein Super-Video wie „Thriller“, sondern die Kult-Serie „Monkees“, die zweimal täglich lief.

Ebenfalls neu im Programm: Magazinsendungen für Spezialinteressen. Wettbewerbe und Sonderaktionen.

In Deutschland hat die Clip-Invasion noch eine ganz andere Hürde zu nehmen. Genau wie die ersten drei Kanäle unterliegen die Kabelkanäle öffentlich-rechtlicher Verantwortung. Und wie die Vertreter der berühmten „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ über Videos denken, war kürzlich sehr schön nachzulesen, als der Münchener Medienrat entscheiden mußte, ob er der deutschen music box überhaupt erlauben sollte, 24 Stunden zu senden. Hermann Maier, Vertreter der bayerischen Elternvereinigungen, zum Thema: „Menschen werden wie Sachen behandelt, eine Betonung und Verherrlichung animalischer Lebensäußerungen findet statt, Geschrei und Gebrüll sind dabei noch das Harmloseste. „

Und Kollege Rudolf Alberth, Vertreter der Komponistenorganisationen, machte „Straßenmädchen, Knast, Roulette“ aus und im aktuellen Madonna-Clip die „reine Peep-Show“. II Stunden guckte er dafür music box an einem Stück. „Ohne Tabletten hätte ich danach nicht einschlafen können“, eröffnete Herr Alberth schließlich. Ich allerdings auch nicht.

4000 Clips hat MTV im Archiv, 2200 sind es immerhin bei der deutschen music box. „Davon kannst du 1000 gleich vergessen, die will eh keiner sehen“, schätzt Jochen Kröhne seine Programmreserven ein. Selbst wenn er seinen kompletten Keller nacheinander durchspielen würde, ging es schon nach einer Woche wieder von vorne los. 30 neue Videos kommen jeden Monat dazu, aber das macht nicht viel aus.

Aus Ersparnisgründen nämlich werden bei der music box zwar 24 Stunden Programm am Tag gesendet, aber nur 26 Stunden pro Woche produziert. Jede Stundensendung wird sechsmal wiederholt, immer zu einer anderen Uhrzeit. (Ein Rezept, das auch die englische Music Box und der Sky Channel verfolgten, als sie noch mehr Videostunden sendeten.) War es bislang so, daß die 12 Moderatoren die Videos nach ihrem eigenen Geschmack zusammenstellen konnten, gibt es jetzt für jede Stunde ein Konzept. Langfristig träumt Kröhne von einem „Entertainment-Programm für die Babyboomer-Generution, das auch mitwächst und älter wird. „

Als Sofortmaßnahme sollen ein festangestellter Redakteur und freie Mitarbeiter dafür sorgen, daß „mehr Information ins Programm kommt und die Moderatoren nicht nur gequirlte Scheiße reden“. Wäre auch dringend nötig. Wenn ich mir innerhalb von einer Stunde mit dümmlicher Impertinenz erzählen lassen muß, daß Kid Creole im richtigen Leben Coati Mundi heiße und Peter Weller der Sänger von Style Council sei, dann tröstet auch die Stereoqualität der Videos nicht mehr. Dann schalte ich um.

Zu den ersten Ergebnissen der inhaltlichen Bemühungen bei der music box zählt die von Ex-Extrabreit-Manager Jörg Hoppe zusammengestellte und von Maffay-Freundin Annette Hopfenmüller moderierte Stunde „hard & heavy“ (gesponsort von CRASH, dem Hardrock-Ableger von ME/SOUNDS). Hoppe tut, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, bei der music box aber zu den herausragenden Ereignissen gehört: Er holt Studiogäste wie Deep Purple oder Gary Moore ran und treibt Clips auf, “ von denen die gar nicht wissen, daß sie überhaupt existieren“.

Videos sind noch immer das billigste Fernsehprogramm, selbst wenn die Plattenindustrie jetzt Geld dafür verlangt. 1987 zahlt der Sky Channel erstmals an englische Urheberrechtsgesellschaften: 400000 Pfund für 30 Stunden Videos pro Woche. Der Super Channel legt 600000 Pfund hin für 10 Stunden täglich.

Nur der Stoßtrupp aus New York, der in London MTV-Europe starten soll, kann sich damit noch nicht anfreunden. In den USA wird schließlich auch nicht bezahlt, wenn es nicht um Exclusiv-Deals für bestimmte Clips und Specials geht. Das erste Angebot von MTV-Europe, 10000 Pfund, brachte die Verhandlung nicht entscheidend weiter. Der Starttermin mußte von ursprünglich April auf Mai und jetzt auf Juni (MTV-Sprachregelung: Jäte spring“) verschoben werden. Auch dann wird es noch dauern, bis MTV tatsächlich für alle Kabelseher empfangbar ist. In Deutschland müssen erst die öffentlich-rechtlichen Zulassungsgremien, darunter auch der Münchner Medienrat, ihr okay geben. Und dort ist noch kein Antrag eingegangen.

Relativ günstig kommt im internationalen Vergleich die deutsche music box weg, solange sie keine ernstzunehmenden Zuschauerzahlen aufweisen kann. Die neuen Videos bekommt der Kanal zwar immer etwas später als die „Formel Eins“, dafür zahlt er nur 30 Mark einmalige „Handlinggebühr“ pro Video. Die deutsche Plattenindustrie zeigt sich großzügig.

DER PLATTEN-BOSS

Udo Lange, 35, Geschäftsführer von Virgin Deutschland, macht eine Rechnung auf: „Eine Single produzieren kostet heute mit B-Seite und Maxi 30000 Mark. Wenn du dann ein Video für 60000 Mark dazu drehst, mußt du erstmal 100000 Platten verkaufen, bis du wieder auf Null bist.

Und viele der Acts, die heute in die Top 10 kommen, schaffen kaum mehr.“ Konsequenzen daraus: Die Clips sollten billiger werden — und die Plattenfirmen werden verschärft andere Quellen abkassieren als nur den Plattenkäufer. Die leidige Leerkassettenabgabe steht bald wieder zur Diskussion, aber auch das Fernsehen soll dran glauben.

Als Mitte der 70er Jahre die ersten Videos gemacht wurden, gab es einen rein wirtschaftlichen Grund: Künstler weltweit zu präsentieren, ohne die mühsamen und kostspieligen Reisen auf sich nehmen zu müssen. Inzwischen hat sich das Musikvideo verselbständigt, gilt als Kunstform und dient als Hauptbestandteil ganzer TV-Kanäle. „Auftritte von Musikern im Fernsehen sind keine Werbung“, meint Udo Lange, „Femsehen verkauft keine Platten und bringt keine Acts durch, zumindest keine neuen. Das schafft nur das Radio.“ Die Auftritte seiner Künstler im Fernsehen sieht Lange als Unterhaltungsbeitrag — und er ärgert sich um so mehr darüber, daß er dafür auch noch zahlen muß.

Holt Virgin einen Star persönlich in ein TV-Studio, bringt das 1500 bis 2500 Mark Gage. Demgegenüber stehen Kosten von 15000 bis 20000 Mark für Flüge, Hotel etc. .Ich wäre durchaus bereit, dem Fernsehen für Auftritte von Newcomern etwas zu zahlen“, erklärt Lange, „umgekehrt müßten die auch realistische Gagen anbieten. Boy George zum Beispiel, der wäre jetzt 100000 Mark wert, so lange war der nicht mehr im Femsehen.“

Plaziert Virgin ein Video in einer Show, kostet das noch mehr. Wie bei internationalen Plattenfirmen üblich, teilt Virgin England Video-Produktionskosten zwischen den selbständig organisierten Filialen auf, die den Clip einsetzen. 160000 Pfund kostete „Land of Confusion“ von Genesis, das teuerste Produkt der letzten Monate. Daß ein teures Video mehr Platten verkauft, glaubt Udo Lange aber spätestens seit Sandras „Maria Magdalena“ nicht mehr. Für 7500 Mark bei Michael Leckebusch gedreht, war es Virgins bislang billigster Clip, aber die erfolgreichste Single. Rund 750000 Stück verkauft.

Die reinen Musikkanäle werden von ihm zwar beliefert, letztlich schätzt sie Udo Lange aber als .eher negativ für den Plattenumsatz“ ein. „Was wir brauchten, wäre eine reine Musiksendung im Abendprogramm, die man gezielt einschaltet. Aber es gibt nichts, nichts, alles gestrichen. Nur ,Formel Eins‘ und ,Extratour‘ sind noch interessant für uns.“

Der Schwarze Peter liegt also wieder beim alten, beim „richtigen“ Fernsehen. Und dort herrscht kreative Funkstille. Das ZDF, das zur Zeit jede Menge neuer Sendeformen ausprobiert, bestellte auch beim ehemaligen „Rockpalasf‘-Macher Christian Wagner zwei Pilotsendungen. Titel: „Pop Karton“. Videos, Bands im Studio und Wort-Gags dem Moderator Elmar „Elmi“ Hörig von SWF 3 auf den Leib geschneidert. Start: ungewiß. Gleichzeitig bastelt Wagner mit „Gesprächspartnern aus dem Musikgeschäft“ an einem neuen Konzept für Live-Musik im Fernsehen. Start: frühestens 1988.

In Berlin bereiten sich Gudrun Kromrey und Thilo von Arnim mit ihrer Firma Transvision auf die erste unabhängige, europaweite Musikshow vor. Produzieren soll eine Vereinigung unabhängiger Film- und Videofirmen aus verschiedenen Ländern. Kaufen sollen es die einzelnen nationalen Fernsehstationen. Die Gesandten der „Eurovip“ trafen sich immerhin schon zu Gesprächen in Brüssel und in Madrid, finanziell unterstützt von einem EG-Büro zur Förderung völkerverständigender Jugendarbeit. Start: Frühestens 1988.

In München macht der Mann, der den Videoclip vor zehn Jahren ins deutsche Fernsehen brachte, die augenblickliche Unsicherheit zum Programm: Jürgen Barto sendet beim SDR in der „Szene“ als Erster bundesweit und regelmäßig Videos — gegen einigen Widerstand. Heute sitzt er beim BR und macht sich Gedanken, ob „Femsehen nicht grundsätzlich der falsche Platz für Musik ist. Vielleicht ist das eben ein Radioding. Videos und Live-Musik in ihrer jetzigen Form haben sich jedenfalls abgenutzt. “ Sagt er.

Gemacht hat er was anderes. Ab Herbst 1987 läuft in der Jugendschiene, Sonntag vormittag 11.15 Uhr, seine neue Serie „Rock Power Telly“ (Regie: Wolfgang Büld). Inhalt: Der Kampf zweier Musik-Fernsehstationen in London um den richtigen Weg. Zwischen Ausschnitten aus alten und neuen Videos gibt’s Spielhandlung, unter anderem mit Martin Buchanan, einem Original-Moderator der englischen Music Box. Die ersten sechs Folgen fielen offenbar so zufriedenstellend aus, daß die Staffeln für 1988 und 1989 schon in Auftrag sind. Barto: „Ich glaube, da haben wir einen Hammer.“