Zagreb Calling


Die Konzerte von Depeche Mode wurden anno 2001 auf beiden Seiten des Atlantik bejubelt. Die Fans in Kroatien hatten dafür besondere Gründe.

Die sieben älteren Damen sind reichlich verwirrt. Eigentlich wollten sie nach ihrer samstäglichen Turnstunde noch ein Gläschen vom Roten an ihrem Stammtisch in der Sportgaststätte nehmen. Aber daraus wird heute Abend nichts. Die wenig anheimelnde Kneipe wird nämlich belagert. Journalisten, Fotografen und Kameraleute drängeln sich an der Bar, im Gang steht ein Grüppchen schwarz gekleideter junger Menschen mit Platten und Postern in Händen. Ein paar Sanitäter huschen vorbei, Männer in giftgrünen Westen mit „Security“-Aufdruck machen ein ernstes Gesicht. Und zwischendrin Igor. Igor hat keinen Plan, dafür aber seinen letzten Kaffee offensichtlich intravenös zu sich genommen. Fatalerweise ist er zuständig für die Verteilung von Arbeits- und Fotopässen. Und diese Aufgabe nimmt er sehr ernst. Immer wieder zählt er die Aufkleber, die den Zugang zu den verschiedenen Bereichen regeln, sorgfältig ab, ordnet sie nach Farben und Größen, nur um sie dann wieder in eine Klarsichthülle zu stecken, irgendwas in sein Funkgerät zu raunen und kommentarlos zu verschwinden. Den Damen von der Gymnastikrunde wird das alles zu viel. Sie schieben sich in ihren ausgewaschenen Trainingsanzügen, ihre Sporttaschen fest umklammernd, kopfschüttelnd durch diese seltsame Versammlung nach draußen. In der Hoffnung, diesen Seitenflügel des „Dom Sportova“ das nächste Mal wieder für sich zu haben.

Dom Sportova, offizielle Adresse: Trg. Sportova 11, HR 10000 Zagreb. Hier findet das vorletzte Konzert der Depeche Mode-Welttournee 2001 statt. Mehr als 80 Shows haben Dave Gahan, Martin Gore und Andrew Fletcher auf der „Exciter-Tour“ absolviert. Anfang Juni ging’s in Amerika los, ab Ende August stand dann Europa auf dem Spielplan. Und dort nicht nur die übliche Rundreise durch England, Deutschland, Italien, Frankreich und Skandinavien, sondern auch durch Länder, die sonst eher selten von Bands dieser Größenordnung besucht werden: Lettland, Litauen, Estland. Und Kroatien. Ein Land, bei dem man als Erstes immer noch an Krieg denkt. Jener undurchschaubare Jugoslawienkonflikt, der – wie die Medien mantrahaft wiederholten – nur diese bedrohliche „eine Flugstunde“ entfernt war, für den sich aber schon bald kaum ien Deutscher mehr interessierte. Genauso wenig wie für die Entwicklung, die Kroatien seit dem Ende der Kämpfe Mitte der Neunziger genommen hat. „Wir sind wieder in Europa angekommen , sagt Sanjin Dukic. mit einer Mischung aus Stolz und Resignation in der Stimme, „nur hat Europa das leider nicht gemerkt. Die Leute glauben alle, dass hier noch die Ruinen rumstehen.“ Dukig ist Marketing Manager bei Dallas Records. Die kleine Firma betreibt nicht nur eine Hand voll Plattenläden, sondern ist auch für den Vertrieb von Labels wie EMI, Virgin, Mute, V2 und Beggars Banquet in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien zuständig. Und macht ihre Sache offensichtlich gut. In den CD-Shops in der Fußgängerzone von Zagreb gibt es so ziemlich alles, was man zur Zeit so hört. Die neue von Kylie Minogue, Starsailor, die Pink Floyd-Best Of, die Neue von Kravitz, sogar Geheimtipps wie die walisischen Gorky’s Zygotic Mynci. Nebenan Internetcafes, Buchläden, Boutiquen. Donna Karan, Marco Polo, Stefanel, Lacoste, Boss, alles vorrätig. Im Kino läuft „Americka Pita 2“, aus den Lautsprechern der schicken Straßencafes leiert Afroman „Because I Got High“, gefolgt von der neuen Jagger-Single „God Gave Me Everything“. Ruinen sind hier genauso viele zu sehen wie in Köln oder München. Keine nämlich.

Die Normalität hat, zumindest vordergründig, wieder Einzug gehalten. Nur Konzerte sind eine absolute Seltenheit. „Na ja“, meint Ivan Glibo, Verkäufer im Plattenladen „Croatia Records“, fast entschuldigend: „Im Dezember kommt noch HIM.“ Und sonst? „Hm, im Sommer war Eros Ramazzotti da.“ Das ist alles? Er überlegt. „Das ist alles.“ Vor dem Krieg seien viel mehr Bands gekommen. Einmal seien sogar die Stones hier gewesen und hätten ein riesiges Open-Air-Konzert gegeben. Ob er denn dann heute Abend zu Depeche Mode gehe? „Nein, ich muss arbeiten.“ Was genau, will er nicht verraten. Die Tickets hätte er sich aber nicht leisten können. Sie kosten umgerechnet gut 70 Mark. „Das ist zwar billiger als in Deutschland“, erklärt Sanjin Dukic, „aber dazu muss man wissen, dass das Durchschnittseinkommen in Kroatien bei 800 bis 900 Mark monatlich liegt.“ Und die Arbeitslosenquote bei 21 Prozent, Tendenz steigend. „Wenn sich die wirtschaftliche Situation bessert, wird es auch wieder mehr Konzerte geben“, hofft Dukig. Tamara und Barbara Kolaric müssen sich zumindest im Moment noch keine Gedanken wegen eines Jobs machen. Die 17-jährigen Zwillinge gehen noch aufs Gimnazija. Sie haben monatelang auf die Tickets gespart und strahlen jetzt über das ganze Gesicht: „Es ist unser erstes Konzert seit über einem Jahr.“ Sie sind zwei von doch knapp 9000 Besuchern, die in den Dom Sportova strömen, in dessen tristen Katakomben auch Igor die Sache langsam in den Griff bekommt. Soeben hat er erfolgreich eine Hand voll überglücklicher Fans mit Backstage-Pässen ausgerüstet und zu einem „Meet & Greet“ mit Depeche Mode gelotst. Wenn das gelaufen sei, werde er sich um die Fotopässe kümmern. Versprochen. Erst mal ist er wieder weg. Zeit, sich noch ein bisschen umzusehen. In einer Vitrine künden Pokale und Urkunden von kleinen und großen Siegen, die im Dom Sportova errungen wurden. Rechts oben stehen noch ein paar Schwarzweiß-Fotos von Eric Clapton, Elton John, Tina Turner, dem Aussehen der Herrschaftern nach zu schließen alle älter als zehn Jahre. Aber sie waren offensichtlich schon mal hier. Vor dem Krieg. Ob sie jemals wiederkommen werden? Draußen drängeln sich Hunderte von Fans am Haupteingang. Bierdosen und Vodkaflaschen machen die Runde. Die Stimmung ist fröhlich, aber nicht aufgeregt. Vielleicht, weil man weiß, auf was man alles verzichten muss, um sich die Karte leisten zu können. Vielleicht, weil man doch noch nicht so ausgelassen feiern will wie noch vor dem Krieg. Vielleicht auch nur, weil es lediglich zwei Grad über null hat und der Anblick des erschreckend hässlichen Dom Sportova einen schwermütig werden lässt.

Inzwischen hat Igor noch mal die Fotopässe durchgezählt und sie, wenn auch reichlich widerwillig, an die Fotografen verteilt. Gerade noch rechtzeitig. Die Show beginnt. Das Konzert selbst unterscheidet sich nur unwesentlich von den anderen Shows während der „Exciter“-Tour. 20 Songs spielen Depeche Mode, darunter viele Titel aus dem neuen Album wie „The Sweetest Condition“, „When The Body Speaks“ oder „Breathe“. Dazu Klassiker wie „Enjoy The Silence“, „I Feel You“ und „Personal Jesus“. Zwei Tage später werden sie in Mannheim die Tour beenden, im Kosmos von Depeche Mode wird der Gig rückblickend keine große Rolle spielen. Für ein paar Tausend Menschen in Zagreb hat er ein Stück Normalität zurückgebracht. Ausgenommen die sieben älteren Damen aus der Gymnastikrunde.